«Man darf die Leute nicht vergraulen»

Darina Schweizer  | 
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2017 wurde in Neunkirch die blaue Zone eingeführt. Viele Ladenbetreiber sind damit nicht zufrieden. Sie glauben, dass man Gäste und Bewohner vertreibe, statt sie ins Städtchen zu holen.

Wildes Geschrei erfüllt den Spielplatz Falken in Neunkirch. Kein Wunder: Am Dienstagvormittag ist Eltern-Kind-Treff. Sieben Neunkircher lassen ihre Sprösslinge auf wackligen Seilen balancieren, von Holzklotz zu Holzklotz springen und die Rutschbahn heruntersausen. Es quietscht, es jauchzt, es gluckst. Von den fröhlichen Kindergeräuschen ist eine Querstrasse weiter nichts mehr zu hören. An der Neunkircher Vordergasse herrscht Stille. Fast schon Totenstille? Englischlehrer Yuval Shomron findet: «Ja! Manchmal wirkt Neunkirch für mich wie einer Geisterstadt. Es kommen wenige Leute hier vorbei.» Das Problem ist in der Region nicht neu: In vielen Schaffhauser Ortschaften kämpfen kleine Läden um ihr Überleben. Die Kundschaft fehlt, da die meisten Leute für ihre Einkäufe in die grösseren Orte fahren oder diese online ­erledigen. Nur kommt in Neunkirch zur mangelnden Kundschaft ein weiterer ­Aspekt hinzu, der den ansässigen Läden Sorgen bereitet: die blaue Zone.

Das Ende der «Blechlawine»

Anfang des Jahres 2017 wurde sie in Neunkirch eingeführt – als Versuchsphase für drei Jahre. Der Grund: Der Ortskern wirkte durch die zahlreichen Fahrzeuge, die den ganzen Tag vor den Häusern parkierten, zugestellt. Urs Wildberger, der an der Vordergasse 32 wohnt, erinnert sich: «Man blickte auf eine ‹Blechlawine›.» Diese «Blechlawine» versperrte zudem den Blick auf die Schaufenster. Man war der Meinung, dass sich dies kontraproduktiv auf die Kunden auswirkt. Seit dem 1. Januar 2017 ist deshalb Schluss damit: Die maximale Parkdauer an der Vordergasse beträgt 90 Minuten. Anwohner können für 30 Franken pro Monat eine Anwohnerparkkarte kaufen und in den blauen Zonen etwas ausserhalb des Dorfkerns parkieren. Durch die stärkere Zirkulation der Fahrzeuge soll der Dorfkern «aufgelockert» werden. Doch das empfinden viele Neunkircher «Lädelibsitzer» nicht so. Im Gegenteil. Für sie stellt die blaue Zone ein Problem dar. Zum Beispiel für Jeannette Richli, die in der Blumenboutique Eden ihrer Tochter arbeitet.

Um acht Uhr morgens fahren die Angestellten jeweils mit den zwei Geschäftsautos vors Haus. Dort gibt es vereinzelte weisse Parkplätze, die laut Richli jedoch meist besetzt seien. Also bleibt den Floristinnen nichts anderes übrig, als ihre Fahrzeuge auf die blauen Felder zu stellen. 90 Minuten haben sie also Zeit, um ihre Blumen auszuladen. «Das ist eindeutig zu wenig», hat Richli festgestellt. Yuval Shomron stimmt ihr zu. Auch für die Studenten, die in seine Sprachschule an der Vordergasse 17 kommen, sind 90 Minuten zu knapp, denn seine Lektionen dauern meist länger. Das heisst, dass seine Kunden zwischendurch umparkieren müssen. «Ich habe bereits gemerkt, dass seit der Einführung der blauen Zone weniger Leute zu mir in die Kurse kommen», so der Englischlehrer. Ähnliche Erfahrungen hat auch seine Nachbarin Ottilia Bircher gemacht, die das Kosmetikstudio Bircher Cosmetics betreibt. Viele ihrer Behandlungen dauern mindestens zwei Stunden oder länger. Dass ihre Kunden durch die Parksituation mitten in der Behandlung aufstehen und eine neue Parklücke suchen müssen, findet sie unzumutbar. Kürzlich habe sie vis-à-vis beobachtet, wie eine ältere Dame gerade gebüsst worden sei, weil sie etwas zu lange im «Huber Beck» sitzen geblieben sei. Und auch wenn sie selbst Kosmetikartikel ausladen müsse, sei die Zeit knapp. Bircher ist nicht der Meinung, dass durch die blaue Zone weniger Autos in Neunkirch herumstehen. «Es ist oft alles voll», sagt sie. «Die einfachste und beste Alternative wären aus meiner Sicht Parkometer.» Weniger dramatisch sieht Mario Badertscher vom Elektrogeschäft Expert Heusi die aktuelle Parksituation. «Ich nehme die blaue Zone nicht als negativ wahr», sagt er. Grund dafür ist, dass das Dienstleistungsunternehmen nicht primär von Laufkundschaft abhängig ist, sondern meist selbst zu seinen Kunden fährt. So sind diese von der blauen Zone selten betroffen. Und noch einen Vorteil hat Expert Heusi. «Wir sind die einzige Firma im Klettgau, die einen solchen Service anbietet», sagt Badertscher. Jedoch nicht nur die Firmen, sondern auch die Anwohner im Ortskern sind von der blauen Zone betroffen. Eine ist Daniela ­Novelli.

10-Franken-Ticket in Vernehmlassung

Seit 18 Jahren wohnt sie in einem alten Haus an der Vordergasse 35, das ihr Mann, gelernter Maurer, mit viel Liebe zum Detail selbst renoviert hat. Novelli findet, dass die blaue Zone dem Dorf «gut gekommen» sei. «Es gibt ein viel schöneres Bild ab, wenn man heute auf die Vordergasse blickt. Ich bin zufrieden, wie es momentan ist», sagt sie. Auch dass die Anwohner ohne Garage etwas ausserhalb einen Parkplatz mieten müssen, erachtet sie als nicht problematisch. Jeder, der in einem so alten Haus wie sie wohne, möge den Charme, den es ausstrahle. Da müsse man damit rechnen, dass man keine Garage habe, in die man einfach reinfahren könne. «Ein Reihenhausdenken nützt hier nichts», so Novelli. Ausserdem findet sie, dass man den Fokus weniger auf das Lädelisterben, sondern auf die leer stehenden Wohnhäuser richten sollte. «Dass kleine Geschäfte eingehen, ist überall ein Problem. Das liegt nicht an der blauen Parkzone, sondern daran, dass sich das Konsumverhalten der Leute grundlegend gewandelt hat», sagt Novelli. «Ändern kann man daran kaum etwas.» Als wichtiger erachtet es die Neunkircherin, Bewohner in die leer stehenden Häuser an der Vordergasse zu bringen. Dass das Leben in alter Bausubstanz einzigartig ist, findet auch Urs Wildberger. Mit Begeisterung führt er die SN durch sein Wohnzimmer, in dem noch immer alte Balken an die Neunkircher Vergangenheit erinnern, daneben steht eine moderne Küche. Die Räume sind lang und vergleichsweise dunkel, doch der «Charme», von welchem Novelli gesprochen hat, ist spürbar. «Es fühlt sich gross­artig an, hier zu wohnen», sagt Erika Bühlmann, die Frau von Urs Wildberger. Etwas bereitet den beiden zurzeit aber Kopfzerbrechen – und das hat wiederum mit der Parksituation in Neunkirch zu tun.

Momentan liegt ein neues Parkreglement beim Kanton zur Vorprüfung, wie Gemeindepräsident Ruedi Vögele bestätigt. In diesem Zusammenhang soll ein 10-Franken-Ticket für 24-stündiges Parkieren in der blauen Zone im Dorfkern eingeführt werden. Will heissen: Wer seinen Wagen ab 18 Uhr dort abstellt, muss ein 10-Franken-Ticket kaufen. Also auch Gäste, die nur für einen kurzen Einkauf vorbeikommen? «Das ist ziemlich schwammig formuliert», sagt Urs Wildberger. «Es ist von regelmässigem Parkieren die Rede. Doch ab wann spricht man von regelmässig?» In einem Punkt sind sich alle Bewohner und «Lädelibsitzer» an der Vordergasse einig: Sollte diese Karte eingeführt werden, würde Neunkirch an Attraktivität für Gäste und Anwohner einbüssen. Ottilia Bircher fasst zusammen: «Man muss die Leute hereinbringen, nicht mit Gebühren vertreiben.»

SN Dorfgezwitscher: Kinder- und hundefreundlich, aber trotzdem viele leere Wohnungen

Auf dem Spielplatz Falken ist viel los. «Heute ist Eltern-Kind-Treff», sagt ­ Pirmin Widmer. Der Vater nimmt mit seinem Sohn Lio und sechs Müttern ­sowie ihren Kindern am Treff teil. «Lio und ich haben Papitag», sagt Widmer. «Ich habe meinen Job auf 80 Prozent heruntergeschraubt, damit meine Frau jobtechnisch Anschluss finden kann», sagt der Neunkircher.

Am freien Tag kümmere er sich um den 21 Monate alten Sohn. «Die Betreuung ist anspruchsvoller als gedacht», sagt Widmer. Mit dem Freibad, dem Spielplatz und der Kita sei Neunkirch sehr kinderfreundlich.

Im Städtli ist Barbara Epprecht mit ihrer Hündin Banj unterwegs. «Neunkirch ist sehr hundefreundlich», sagt ­Epprecht, die seit fünf Jahren in der Gemeinde wohnt.

«Wir sind zwar nicht in der Stadt, wo es alles hat, aber diese Ländlichkeit ist eine Idylle», so ­Epprecht. Einzig die Schliessung der Poststelle störe sie. Zwar könne man die Post nun im Coop aufgeben, dort aber leider keine Einzahlungen durchführen. «Für die ältere Generation, die nicht mit Computern und E-Banking aufgewachsen ist, ist dies sehr mühsam», so ­Epprecht. Deswegen fährt sie nun ihre Mutter zur Post in Hallau oder Beringen, damit sie dort ihre Einzahlungen machen kann.

Vor der Metzgerei Breu steht ein Auto mit einem Nummernschild aus dem Fürstentum Liechtenstein. Ob das Fleisch hier so gut ist, dass sich der zweistündige Anfahrtsweg lohnt? Prompt kommt der Besitzer des besagten Autos, Markus Fleisch, aus der Fleischhandlung und klärt uns auf. «Die Metzgerei Breu ist ein Kunde von uns», so Fleisch.

Er arbeitet für die Firma Wiberg, welche Gewürzmischungen für Gastronomie, Industrie und Metzgereien herstellt. «Fast jeder Koch kennt uns. In unserem Fach sind wir die zweitgrösste Firma in der Schweiz», sagt Fleisch.

«Ein Städtlihaus zu renovieren ist sehr schwierig», sagt Daniela Novelli. Seit 18 Jahren wohnt sie im Ortskern. Damals habe sie mit ihrem Mann ein altes Haus umgebaut. «Die Renovation ist sehr teuer und aufgrund der Denkmalpflege eingeschränkt», so Novelli. Deswegen seien viele Wohnungen in der Stadt nur leicht saniert und stünden leer.

Da sei es attraktiver, in eine der neuen Wohnungen auf dem Land zu investieren, da diese auch über Balkone und Garagen verfügten. «Die Wohnungen im Städtli haben aber auch ihren eigenen Charme», sagt sie.

Erika Bühlmannn, die mit ihrem Mann Urs Wildberger ebenfalls im Dorfkern wohnt, stimmt ihr zu. In alter Bausubstanz zu wohnen, sei einzigartig. Und ein Städtlibewohner habe halt andere Ansprüche als ein Landbewohner, so Bühlmann. (mba)

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