Wo Zugezogene längst Einheimische sind

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Die Treffpunkte sind rar in Rüdlingen. Dennoch gibt es sie – etwa vor dem Dorfladen oder in der Gelateria. Neu entstehen soll ein Kulturzentrum im alten Saustall des ehemaligen Wirtshauses.

von Anna Kappeler und Saskia Baumgartner

Die Sonne brennt um 9.30 Uhr schon unerbittlich auf die Riegelhäuser herab. Unter den orangen und blauen Sonnenschirmen vor dem «Dorflade» jedoch lässt es sich noch aushalten. Hier, an Bierbank und ­-tischen, hat sich in Rüdlingen ein Grüppchen zum Znüni zusammengefunden. Es ist ein tägliches Ritual, bei dem sich einige Dorfbewohner auf einen Schwatz und Kaffee treffen.

So auch Förster Andreas von Arx und Forstwart Jürg Matzinger. Die Hitze bereitet den beiden gerade viel zusätzliche Arbeit. «Der Borkenkäfer liebt die warmen, trockenen Temperaturen», sagt von Arx. Der Schädling vermehre sich sehr stark. Normalerweise versuchen sich die betroffenen Fichten durch Harzfluss gegen die wenige Millimeter kleinen Käfer zu wehren. Doch die Bäume sind durch die trockene Witterung geschwächt, so Matzinger. Förster und Forstwart bleibt nichts anders übrig, als die befallenen Bäume zu fällen und rasch aus dem Wald hinaus zu transportieren. Nur so kann verhindert werden, dass sich der Schädling weiter ausbreitet. «Eigentlich müsste das Holz auch sofort verarbeitet werden», sagt Andreas von Arx. Doch in den Sägereien lagere noch immer Holz, das durch den Sturm Burglind Anfang Januar zu Boden geworfen wurde. Zudem haben einige Holzverarbeiter gerade Ferien. Das von Käfern befallene Holz muss also zwischengelagert werden. Wenn es dann endlich verarbeitet werden kann, wird es nicht mehr viel wert sein, sind sich von Arx und Matzinger einig. Man werde wohl noch 50 Franken pro Kubikmeter bekommen, statt der sonst üblichen 85 Franken.

Altes Wirtshaus als neuer Treffpunkt

Nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken haben, geht es für den Förster und den Forstwart wieder zurück zur Arbeit. Die Bänke vor dem Dorfladen leeren sich langsam, im Geschäft selbst jedoch kommen alle paar Minuten Kunden vorbei. An der Kasse wird mit einem Aushang für den Koffermarkt im September geworben. Veranstalter ist «Pro Dorflade». Der Verein setzt sich nicht nur für den Laden selbst, sondern auch für ein aktives Dorfleben ein. Nur wenige Schritte vom Laden entfernt, soll schon bald ein weiterer Treffpunkt für Rüdlingen entstehen – im «Rebstock». Von 1835 bis 2002 war das Gebäude als Wirtshaus geführt worden, und zwar stets von Nachfahren derselben Familie. Seitdem die letzte Wirtin aufhörte, steht es leer.

Wer sich dem Haus von der Eingangsseite des Hauses nähert, könnte meinen, dass immer noch darin gewirtet wird. Auf den Fenstersimsen stehen Blumen. «Die hat meine Frau Claudia da hingestellt», sagt Hans Lutz. Das Ehepaar hat das Gebäude vor einigen Jahren gekauft, eine Genossenschaft wird das Haus demnächst übernehmen. Elf Wohnungen sollen im rund 360  Jahre alten Rebstock sowie im Nebengebäude, dem sogenannten Turm, entstehen. Im Inneren des Gebäudes klaffen Löcher in den Decken, an einigen Orten wurde die Tapete entfernt. Stellen, an denen die Fachplaner die Bausubstanz überprüft haben. Unversehrt ist die alte, mit dunklem Holz verkleidete Wirtsstube mit dem grossen blauen Kachelofen, der einst als Brotbackofen diente. Die Wirtsstube soll von den künftigen Genossenschaftlern gemeinschaftlich genutzt werden, sagt Lutz. Der Weinkeller, in dem noch mehrere leere alte Fässer stehen, soll für Feierlichkeiten vermietet werden, und im früheren Saustall sollen kulturelle Veranstaltungen statt finden, Lesungen, Treffen eines Filmclubs. Die Genossenschaftler haben viele Ideen.

Die Zugezogenen integrieren

Damit diese auch fruchten, braucht es das Interesse aus dem Dorf, nicht nur der Ur-Rüdlinger, sondern auch der Zugezogenen. Seit 46 Jahren bereits lebt Gina Fehr hier, hierhergezogen ist sie damals, weil der Mann ein Rüdlinger ist. «Ich fühle mich wirklich sehr wohl hier», sagt sie. Jetzt in den Sommerferien sei das Dorf verlassener, «sonst aber lebt es schon noch hier», sagt sie. Schade findet Fehr einzig, dass die Anzahl der Anlässe etwas weniger würden.

Viele Menschen, die nach Rüdlingen ziehen, stammen ursprünglich aus dem Raum Zürich, was aufgrund der geografischen Nähe nur logisch ist. Ursprünglich eine Stadtzürcherin ist Andrée Lanfranconi, auch wenn sie inzwischen seit bald 40 Jahren in Rüdlingen lebt. Mit ihren Mann wohnte sie in jungen Jahren mitten in der Stadt Zürich, doch als das erste Kind unterwegs war und die beiden von einem freistehenden Hausteil in Rüdlingen erfuhren, zögerten sie nicht lange und zogen aufs Land. Diese Entscheidung hat Lanfranconi nie bereut, im Gegenteil: «Ich bin heute voll und ganz hier zu Hause. Wenn ich mit dem Zug über die Rheinbrücke bei Eglisau fahre, ist das für mich jedes Mal ein Heimkommen. Dann komme ich runter und schalte einen Gang zurück», sagt sie und atmet allein beim Gedanken daran sichtlich tief durch.

«Allerdings», schiebt sie nach, «am Anfang war es nicht einfach. Wir waren die Neuen aus der Stadt und mussten un- seren Platz hier zuerst finden.» Für die eigenen Integration helfe es, in Vereine zu gehen. «Sonst besteht die Gefahr, dass man allein bleibt, gerade wenn man wie wir zu Beginn stark nach Zürich orientiert ist.» Eine Schwierigkeit am Dorf sei, dass es nicht nur ein Zentrum habe, sondern neben dem alten Dorfkern beim Dorfladen eben auch noch zwei andere: Sandgruben und Chapf.

Heute ist Lanfranconi längst bestens integriert und unter anderem bei der Flüchtlingsbetreuung im Dorf engagiert und auch im Vorstand «Pro Dorflade» tätig. Dieser wird von der Gemeinde finanziell unterstützt, «nur so überlebt er». Sorgen macht sich Lanfranconi etwa, dass der Verein an Überalterung eingehen könnte. «Wir finden kaum Junge, die sich engagieren möchten.»

Immerhin aber, das sagen mehrere Rüdlinger im Gespräch, sind zuletzt wieder vermehrt ausgewanderte Rüdlinger in ihren Heimatort zurückgezogen. Vor allem junge Familien würden die Elternhäuser übernehmen, weil es sie wieder auf das Land zieht.

Die nächste und letzte Station: Heute, ab 9 Uhr, in Löhningen.

SN-Dorfgezwitscher:Von Stammgästen, Aalen im Rhein, Glace zur Erfrischung und Vorbildfunktionen

Im historischen Dorfkern von Rüdlingen, einige Meter vom «Dorflade», der Gemeindekanzlei und dem «Rebstock» entfernt, befindet sich der «Sternen». Doris Riem wirtet zusammen mit ihrem Mann Manfred seit fast 30 Jahren hier. Dass aller Anfang schwer ist, bestätigt auch sie. «Als Auswärtige hatten wir es zu Beginn nicht leicht, die Dorfbewohner davon zu überzeugen, zu uns zu kommen», sagt sie. Inzwischen aber seien sie bestens integriert und pflegten mit den anderen beiden Rüdlinger Beizen einen guten Austausch. «90 Prozent unserer Gäste sind Stammgäste», sagt Riem. Doch manche Zuzüger ­nähmen wenig am Dorfleben teil, weil sie nur hier wohnten, aber nicht hier arbeiteten. «Einige Zuzüger und somit auch ein Teil des Dorfes ist nach Zürich ­orientiert, das sieht man nur schon an den Mieten, Löhnen und Preisen.» Die Ur-Rüdlinger hingegen orientierten sich nach Schaffhausen. Vor zwei Jahren hat das Team übrigens bei der Sendung «Mini Beiz, Dini Beiz» mitgemacht, und sich den Wochensieg erkocht.

Während manche noch beim Mittagessen sind, suchen andere Erholung am und im Rhein. Der schöne Strand in Rüdlingen lockt nicht nur Einheimische an. Cédric Ackermann ist an diesem Mittag zusammen mit seinem Bruder Lars und Mutter Lea Kissling aus Ossingen hierher gekommen. Er schnorchelt gerne im Rhein. Heute habe er einen Aal auf einem Stein gesehen, sagt er. Ist auf dem Parkplatz jetzt unter der Woche noch Platz, ist es am Wochenende oft voll. Dann kommen viele Ausflügler nach Buchberg und Rüdlingen, um im Naturschutzgebiet zu spazieren.

Oft machen die Tagestouristen danach noch einen Abstecher in den Rüdlinger Ortskern, um ein selbst gemachtes Glace zu essen. Seit 2015 gibt es im Sommer jeweils samstags und sonntags frisches Glace. Hergestellt wird es von Erasmo Paulangelo jeweils am Morgen. Er kam vor einigen Jahren auf die Idee, seine Scheune zu einer Gelateria samt Café umzubauen. Wie man Glace produziert, hatte Paulangelo bereits zuvor in Bologna im Rahmen einer Ausbildung gelernt. Bei dem momentanen Wetter könnte er auch unter der Woche viel Glace verkaufen. «Es läuft erstaunlich gut», sagt er. Immer wieder stehen auch wochentags Leute vor der verschlossenen Türe. Doch für Paulangelo und seine Familie ist die Gelateria nur ein Hobby. Von Montag bis Freitag pendelt der gebürtige Bülacher nach Zürich, wo er in der IT-Branche arbeitet.

In Rüdlingen leben vier Flüchtlinge, ­aktuell zwei Iraker und zwei kurdische Syrer. Einer von ihnen ist der 30-jährige Mohsen al Maadid, der uns in seiner Wohnung Kaffee anbietet. Er wohnt seit 2016 im Dorf und arbeitet als Pizzaiolo in Neuhausen. Auch für ihn war der Anfang nicht einfach, «mir scheint, manche Menschen hatten Angst vor mir», sagt er. Heute jedoch gefällt es mir überaus gut hier. «Ich möchte mich bei den Rüdlingern für ihren freundlichen Empfang bedanken.» Zudem sagt er: «Die anderen Gemeinden sollen sich Rüdlingens Umgang mit uns Geflüchteten als Vorbild nehmen.» (sba/aka)

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