Das Kind in der Schule, die Eltern im Krieg

83 ukrainische Kinder und Jugendliche gehen im Kanton Schaffhausen schon zur Schule, und es werden noch deutlich mehr. Wie ist das, wenn die Lehrperson eine andere Sprache als ihre Klasse spricht? Die SN haben eine Willkommensklasse in Neuhausen besucht.
13 Kinder und Jugendliche sitzen im Kreis auf dem Boden – jede und jeder auf einem Kissen. Die Jungs sind deutlich in der Überzahl. Aljoscha und Sergej, zwei der Jüngsten der Gruppe, ziehen sich gegenseitig auf, sind laut. Stas, einer der Ältesten, schaut streng zu ihnen rüber. Sagt auf Russisch: «Hört auf zu schwatzen!»
Das läuft ganz nebenbei. Eigentlich sind sie mitten in einer Deutschlektion mit zwei Lehrerinnen: Martina Boller und Doris Toluzzi. Ein Schüler nach dem anderen stellt jeweils der Person links von sich eine Frage. So machen verschiedene Fragen die Runde: Wie heisst du? Wo wohnst du? Woher kommst du? Und die Antwort auf letztere: Kyiv, mehrmals. Sumy. Dnipro. Saporischja.
Drei der Kinder und Jugendlichen sind ziemlich neu in der Einführungsklasse für Fremdsprachige am Schulhaus Kirchacker in Neuhausen. Sie scheuen sich nicht, ein paar Worte Deutsch nachzusprechen. Es ist die vierte solche Willkommensklasse in Neuhausen, aber die Situation ist eine besondere. Denn in dieser Klasse sind alle Kinder aus der Ukraine. Die anderen drei Klassen besuchen Kinder verschiedener Nationen. Die zwei ersten Kinder, die Ende März aus der Ukraine flüchteten und in Neuhausen eingeschult wurden, kamen in eine bestehende Einführungsklasse. «Wir wussten nicht, wie viele Kinder aus der Ukraine bei uns ankommen», sagt Schulleiter Beat Steinacher. Doch schnell war damals klar, dass es deutlich mehr werden – also musste eine vierte Willkommensklasse her.
Ukrainisch oder Russisch?
Jeden Morgen kommen die Schülerinnen und Schüler, die zwischen 9 und 16 Jahre alt sind, um 8.20 Uhr ins Klassenzimmer des Neubaus und bleiben bis Mittag. Sie lernen Deutsch, täglich vier Lektionen lang. Am Nachmittag gibt es auch Programm: Sie gehen zusammen zum Minigolf, in die Badi oder machen Sport.
Zurück im Schulzimmer. Martina Bollererklärt Mykyta gerade etwas. Er soll ein Kleidungsstück auf dem Arbeitsblatt wählen und sagen, welche Farbe es hat. «Was möchte sie? Ich verstehe sie nicht», sagt er auf Russisch in die Klasse. Eine Mitschülerin hilft aus. Gar nicht so einfach, wenn die Lehrpersonen kein Ukrainisch oder Russisch verstehen. Es ist ein Mix aus Deutsch und Englisch, den die beiden Frauen mit den Kindern und Jugendlichen sprechen, denn ab der zweiten Klasse wird in der Ukraine die englische Sprache gelernt – und damit auch die lateinischen Buchstaben. «Ich würde schon gern verstehen, worüber sie sich während der Lektion unterhalten. Was sie über uns sagen», sagt Toluzzi und lacht. An einem Tisch diskutieren ein paar Schülerinnen und Schüler, ob das Bild vor ihnen nun ein «Hut», eine «Mütze» oder eine «Kappe» ist, und was genau der Unterschied ist. Sie lachen, es geht lebendig zu und her. Am Tisch mit den drei neueren Schülerinnen und Schülern ist es ein wenig ruhiger. Dort wird geklärt, wer Ukrainisch und wer Russisch spricht. Und wer beides.
So lebendig sei es nicht von Anfang an gewesen, sagt Toluzzi. Sie habe nicht genau einordnen können, ob manche Kinder traumatisiert seien. Es habe Situationen gegeben, in denen jemand sich hingelegt, irgendwie niedergeschlagen gewirkt habe. «Über den Krieg reden wir nicht. Wie auch?» Es ist ein zu schwieriges Thema für so wenige Worte, die man in einer fremden Sprache zur Verfügung hat. Deswegen finde sie die Willkommensklassen so toll. «Die Kinder und Jugendlichen finden schnell Anschluss. Die Sprache verbindet sie.»
Ganzen Tag fremde Sprache
Es seien zu Beginn noch drei andere Kinder und Jugendliche in der Klasse gewesen, erzählt Boller. Aber sie seien in andere Städte in der Schweiz gezogen. Sie selbst unterrichtet jeden Morgen in der Einführungsklasse. Vorher hat sie Deutschunterricht für Erwachsene gegeben. Jeden Vormittag unterrichtet eine andere Kollegin mit ihr: Vier davon sind Lehrpersonen, die bereits pensioniert wurden; eine ist im Mutterschaftsurlaub.
Personal zu finden sei die grösste Herausforderung, sagt Steinacher. Dass die Lehrerinnen kein Russisch und Ukrainisch können, darin sieht er nicht unbedingt einen Nachteil. «Die Kinder und Jugendlichen sollen schliesslich Deutsch lernen.» Ausserdem stünden bei Bedarf Übersetzende zur Verfügung.
«Die Väter dieser jungen Menschen sind fast alle im Krieg. Wir hoffen jeden Tag, dass keine schlimmen Nachrichten kommen.»
Beat Steinacher, Schulleiter Kirchacker Neuhausen
Nach ein paar Wochen in der Einführungsklasse werden die Schülerinnen und Schüler nach einem Gespräch mit einer Heilpädagogin und Übersetzerin in eine Regelklasse eingegliedert. Den Deutschunterricht besuchen sie auch dann weiter: täglich für zwei Lektionen. «Es ist extrem ermüdend, den ganzen Tag eine fremde Sprache zu hören», sagt Steinacher. Aber es lenke auch ab. «Die Väter dieser jungen Menschen sind fast allesamt im Krieg.» Manche sind ohne Eltern da. «Da haben sowohl Mutter als auch Vater das Gewehr in die Hand genommen. Und wir hoffen jeden Tag, dass keine schlimmen Nachrichten kommen.»
Nur Kyrillisch
Bettina Maier unterrichtet eine 1. Klasse am Schulhaus Breite, wo sie auch Vorsteherin ist. Sie hat einen ukrainischen Buben in der Klasse. Als er ankam, beherrschte er nur die kyrillische Schrift. Die Situation sei schwierig. Oft stehe sie bei ihm am Pult, zeige ihm etwas. «Das ist Zeit, die mir dann für die Betreuung der anderen Kinder fehlt.» Gern hätte man in der Stadt Integrationsklassen, sagt Maier. «Dann hätten die Schülerinnen und Schüler Gleichaltrige, um zu reden und um besser mit dieser schwierigen Situation klarzukommen.» Auch sagt sie, der Bub ermüde schnell, weil das sprachbedingte Nichtverstehen sehr anstrengend sei. Das sei nicht neu, die Situation sei nie leicht, wenn ein geflüchtetes Kind zur Klasse stosse.
Neuhausen ist die einzige Gemeinde im Kanton, die alle geflüchteten Kinder in Einführungsklassen einschult. In anderen Gemeinden werden die Kinder nach ihrer Ankunft direkt in bestehende Klassen integriert – eines oder selten zwei pro Klasse.
Zurzeit gehen 38 aus der Ukraine geflüchtete Kinder in der Stadt zur Schule, weitere 17 werden demnächst Klassen zugewiesen. Die meisten gehen ins Breiteschulhaus (8) und ins Steingut (4). Würden die Schulen mit Willkommensklassen arbeiten, gäbe das in der Stadt einige zusätzliche Klassen. «Das ist in der Praxis nicht umsetzbar», sagt Stadtschulratspräsident Christian Ulmer. Es gibt so schon zu wenig Lehrpersonen.
Zahlenmässig würden die zusätzlichen Schulkinder das städtische Schulsystem nicht überfordern. Nur wisse man nicht, wie der Krieg in der Ukraine sich weiterentwickle und wie viele Kinder noch kommen.
Das Smartphone übersetzt
Konkret gibt es mit jedem Kind – meist ist die Mutter oder Oma dabei – ein Erstgespräch mit einer Fachperson aus der Heilpädagogik oder Schulsozialarbeit. Generell kommen die Kinder in dieselbe Stufe, in der sie auch in der Ukraine waren. Verteilt werden sie nach Wohnort. Einige Lehrpersonen seien proaktiv auf ihn zugekommen, sagt Ulmer, sie wollten gern ein geflüchtetes Kind bei sich in der Klasse aufnehmen. Man dürfe aber nicht vergessen: «Ein fremdsprachiges Kind zu beschulen ist ein Zusatzaufwand. Hinzu kommt, dass einige Kinder hochdramatische Dinge erlebt haben.» Schulsozialarbeiter und der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst unterstützen hier, genauso wie auch Dolmetscher des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks. Manche Kinder würden Apps benutzen, sagt Ulmer, «da schwatzen sie ukrainisch rein und aus dem Handy kommt das Gesprochene auf Deutsch wieder raus».
«Der Lernerfolg steht noch nicht zuvorderst. Aber gerade das Lernen kann Struktur schenken.»
Raphaël Rohner, Bildungsreferent Stadt Schaffhausen
Wie alle anderen Kinder auch werden die geflüchteten Kinder mit Schulmaterial ausgestattet, auch Tablets seien bestellt worden, sagt Bildungsreferent Raphaël Rohner. Benotet werden die Kinder noch nicht. Wie es nach den Sommerferien weitergeht, wird erst noch entschieden. «Der Lernerfolg steht noch nicht zuvorderst. Aber gerade das Lernen kann Struktur und Normalität schenken», sagt er. Das Wichtigste sei, dass die Kinder zur Ruhe kommen. Das brauche viel Empathie, viel Herz. «Wir tun, was wir können.»