Die verschwundenen städtischen Friedhöfe

Zeno Geisseler | 
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Parks, Parkplätze und Freizeitanlagen in der Stadt Schaffhausen teilen sich eine morbide Geschichte: Viele waren einst Begräbnisstätten. Unter Teer und Rasen ruhen auch heute noch Tausende.

Nächste Woche ist wieder Allerseelen: Die Christen, und dabei vor allem die Katholiken, gedenken ihrer Verstorbenen. Jene, die von uns gegangen sind, sind allerdings nicht nur in Gedanken bei uns. Die Toten sind uns näher, als vielen bewusst ist, gerade in der Stadt Schaffhausen: Dort, wo wir wohnen, arbeiten, Sport treiben oder unsere Autos abstellen, ruhen die Schaffhauser der vergangenen Jahrhunderte. Allein auf dem Kirchhof beim St. Johann, heute ein Parkplatz, sollen bis Mitte des 16. Jahrhunderts 30 000 bis 40 000 Verstorbene beerdigt worden sein.

Spürt man der Geschichte dieser Personen und jener der Friedhöfe nach, erfährt man viel über den Tod in der Stadt, aber noch viel mehr über das Leben der damaligen Leute, über die Wirtschaft und die Stadtplanung.

Hinrichtungen auf der Breite

Wie viele Friedhöfe es in der langen Geschichte der Stadt wirklich gab, weiss niemand so genau. Es finden sich aber immer wieder Überreste. «Fast überall, wo heute in der Altstadt noch ehrwürdige Bäume und etwas Grün erhalten geblieben sind, befand sich einst ein Friedhof», schrieb die damalige Kantonsarchäologin Beatrice Ruckstuhl 1990 in den «Schaffhauser Beiträgen zur Geschichte». Allein in der Altstadt hat sie zehn Friedhöfe und Fundstellen von Skeletten nachgewiesen, die bis in die alamannische Zeit zurückreichen, dazu kommen Grabstätten ausserhalb des Altstadtkerns, aus neuerer Zeit etwa der erst im Zweiten Weltkrieg geräumte Emmersbergfriedhof, der Steigfriedhof und natürlich der heute noch bestehende Waldfriedhof. Erwähnenswert ist auch der Radacker auf der Breite – dort wurden die mit dem Rad Hingerichteten verscharrt.

Wüste Besäufnisse

Schaffhausen hat im Umgang mit seinen Gottesäckern immer eine bemerkenswert pragmatische Haltung an den Tag gelegt. In früherer Zeit waren die Friedhöfe jedenfalls beileibe nicht nur ein Ort des Todes. Die Frauen wuschen und trockneten dort ihre Wäsche, es gab Verkaufsstände, Aufführungen, ja sogar wüste Besäufnisse und Unzucht, wie aus Klagen und Anweisungen in Ratsakten im Stadtarchiv hervorgeht.

Keine falsche Zurückhaltung kannten die Schaffhauser auch, wenn es um die Umnutzung ging. Das Beinhaus auf dem Kirchhof, dort also, wo die alten Knochen gelagert wurden, wurde keine zehn Jahre nach der Auflassung des Friedhofs in eine Wohnung umgebaut (die Knochen waren zuvor natürlich entfernt worden). Viel später dann kamen ein Schulhaus und der Parkplatz auf den Kirchhof.

Aus einem Teil des alten Baumgartens wiederum wurde der Mosergarten, ein Park, wo heute auch schon mal Fussballmeisterschaften in Zelte übertragen werden und die Fasnacht gefeiert wird. Und aus dem Emmersbergfriedhof wurde zuerst ein Pflanzgarten und später eine Freizeit- und Sportanlage samt, pardon, Aschenbahn. Tod und Leben waren und sind in Schaffhausen stets nahe beieinander.

Die erste Todesanzeige

Die Schaffhauser gingen auch medial sehr modern mit dem Tod um: Die allererste Todesanzeige, die in der «Neuen Zürcher Zeitung» je veröffentlicht wurde, war jene des Schaffhauser Stadtratspräsidenten Johann Heinrich Im-Thurn im Jahr 1845, wie Hans Ulrich Wipf in seinen 2016 erschienenen «Schaffhauser Quellenbelegen zur Volkskunde» schreibt. Für die damalige Zeit, in der es noch üblich war, bei einem Todesfall «eine schwarz gekleidete Weibsperson in die Häuser der Verwandten und Freunde» zu schicken, um das Ableben zu verkünden, muss eine Todesanzeige im neuen Medium Zeitung so ungewöhnlich gewesen sein, wie wenn  heute jemand einen Todesfall in der Familie auf Facebook bekannt gibt.

Heinrich Mosers Einfluss

Aber zurück zu den Schaffhauser Friedhöfen. Jener auf dem Emmersberg war besonders prächtig, wie alte Fotos im Stadtarchiv zeigen. Berühmte Schaffhauser wie die Industriellen Georg Fischer und Heinrich Moser ruhten dort in mächtigen Familiengräbern, aber auch ganz gewöhnliche Bürger wurden am Fuss des Munots bestattet.

Moser selbst war eine treibende Kraft für den Emmersbergfriedhof gewesen: Bis 1864 wurden die Toten im Baumgarten, der bis zum Fluss hinunterreichte, begraben. Moser aber wollte am Rhein sein Kraftwerk bauen, und dieses beanspruchte einen Teil des Platzes des Baumgartenfriedhofs, weshalb er auf eine Verlegung des städtischen Gottesackers drängte.

Letzte Überbleibsel

Während vom Baumgartenfriedhof heute nichts mehr zu sehen ist, gibt es vom alten Emmersbergfriedhof, der 1914 zugunsten des neuen Waldfriedhofs aufgegeben und im Zweiten Weltkrieg geräumt wurde, letzte sichtbare Spuren. Der Sockel der Friedhofsmauer bildet heute die Umrandung des Sportfeldes, und in einer Ecke bei der Abfallsammelstelle steht noch eine Säule, die von der Friedhofskapelle stammt.

Auf der Säule gibt es eine Inschrift, wonach der Gottesacker 1940/42 geräumt wurde – aber diese Angabe stimmt so nicht ganz: Im Stadtarchiv findet man ein Schreiben der Friedhofsverwaltung an den Stadtrat und die Stadtbibliothek vom 10. März 1944, wonach «in der zurückliegenden Woche die letzten zwei Privatgräber des Emmersbergfriedhofs gänzlich abgeräumt worden sind», also zwei Jahre später, als auf der Säule notiert. Abgeräumt ist dabei übrigens nicht mit «exhumiert» gleichzusetzen. Die Toten sind mehrheitlich immer noch auf dem Emmersberg, nur die Grabsteine sind weg. «Mit Rücksicht auf die zukünftige Verwendungsweise des Friedhofsareals findet eine Ausgrabung allfällig noch vorhandener Überreste ohne Auftrag nicht statt. Diese liegen in so grosser Tiefe, dass sie durch die nur ca. 30 Zentimeter tiefe Oberflächenlockerung nicht berührt werden», schrieben die SN 1942.

Die verschwundene Kirche

Ein anderer alter städtischer Friedhof ist samt Grabsteinen wenigstens zum Teil noch erhalten: der Friedhof Steig an der Stokarbergstrasse. Dort gab es bis 1944 eine Kirche, diese fiel jedoch der Bombardierung Schaffhausens vom 1. April 1944 zum Opfer. Die neue Steigkirche wurde dann an einem ganz anderen Ort, an der Nordstrasse auf der Breite, errichtet – gegen den Willen der Kirchgemeinde und der Quartierbewohner, welche eine neue Kirche lieber am alten Ort erbaut hätten.

Die Zerstörung im Krieg war aber nicht der Grund, warum der Steigfriedhof aufgelassen wurde. Viel eher sollte auch die Steig, wie alle anderen Stadtquartiere, ihre Verstorbenen ab 1914 auf dem Waldfriedhof beerdigen. 1902 wurde eine Frau von Ziegler-Arbenz auf dem Steigfriedhof als letzte Person beerdigt, wie aus einer Aktennotiz der Waldfriedhofsverwaltung von 1927 hervorgeht. In dem Schreiben geht es ­darum, dass der Steigfriedhof nun aufgehoben werden könne, weil die Pietätsfrist abgelaufen sei.

Es gab aber nachweislich auch nach 1902 noch Begräbnisse: Auf einem Grabstein, der noch heute zu sehen ist, gibt es eine Inschrift von einer Karoline Siegerist, die 1911 starb, und auf dem gleichen Stein ist auch eine Louise Kirchhofer, geb. Siegerist, verewigt, die bis 1933 lebte. Sie war wohl die Tochter. Auf einem weiteren Grabstein findet sich sogar ein Todesdatum von 1937.

Doch wieso ruhen diese Personen auf der Steig, wenn schon Jahre vorher der Waldfriedhof als einziger städtischer Friedhof eingeweiht worden war? Des Rätsels Lösung findet sich in einem Artikel in den SN vom 3. Juli 1915, also wenige Monate nach Einweihung des Waldfriedhofs: «Wiederholt gestellte Gesuche um Weiterbenützung der ausser Betrieb gesetzten Friedhöfe zur Bestattung sind abschlägig beschieden worden. Ausnahmen können einzig gestattet werden für die Beisetzung der Asche im Grab eines auf dem Emmersberg oder auf dem Steigfriedhof bestatteten Angehörigen.»

Aufgehobene Friedhöfe, Park- und Sportplätze über Gräbern, Platzmangel: Was für unsere Vorfahren beinahe Alltag war, dürfte für heutige und viele kommende Generationen kein Thema mehr sein. Zwar gibt es auf dem Waldfriedhof derzeit laut Aussage der Stadt genau 4598 Gräber, und jedes Jahr werden dort nicht ganz 300 Leute bestattet. Weil aber der Waldfriedhof so gross ist und Gräber nach einer gewissen Zeit aufgehoben werden, wird es dort auf Jahrzehnte hinaus genügend Platz für alle geben.

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