Wie 1401 ein Gerücht allen Juden in Schaffhausen das Leben kostete

Ralph Denzel | 
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«Wie die Juden zu Diessenhofen einen armen Knaben ermorden und wie es ihnen erging» von Diebold Schilling dem Jüngern, aus dem Luzerner Schilling. Bild: Wikimedia

Im Mittelalter war der Hass und das Misstrauen gegen Juden gross. Auch in Schaffhausen. Hier führte ein Gerücht und eine falsche Beschuldigung 1401 zu einem Blutbad an der jüdischen Bevölkerung.

Das ellend jammerige und trostlose Volk der Juden (…) hat das allerheiligste Sakrament vielfältig gebrochen,(…) daher wurden die Juden(...) mit gebührender Pein des Tods gestraft.

Aus der «Schedel'schen Weltchronik» 1493

Es ist die Osterzeit im Jahre 1401 in Schaffhausen, die heiligste Zeit im Christentum – und die Zeit, in der an Jesu Tod und Auferstehung erinnert wird. Für die Christen sind die Schuldigen, die ihren Heiland auf dem Gewissen haben, die Juden. Das ist einer der Gründe, warum Groll und Hass gegen die Andersgläubigen tief verankert sind in den Köpfen der Menschen von damals.

Als dann ein brutaler Mord an einem Jungen in Diessenhofen geschieht, ist die grausame Bluttat ein passendes Ventil. Schnell sind die Leute in der Region Schaffhausen sich sicher: Es muss ein Ritualmord gewesen sein – ausgeführt durch Juden. Um den Hintergrund dieser Verstrickung zu verstehen, muss man noch etwas weiter zurückblicken. 

Juden und Christen in Schaffhausen: Offener Hass und Bösartigkeiten

Der Vorwurf, Juden würden Christenkinder aus rituellen Gründen töten, ist auch im Schaffhausen des Mittelalters nicht neu: Schon in der Antike gibt es immer wieder Gerüchte darüber. 

Ein Holzschnitt, der den sogenannten «Hostienfrevel» zeigt. Dabei sollen Juden Hostien entweiht haben. Bild: Wikimedia

Das Misstrauen beruht auf Gegenseitigkeit. Immer wieder kommt es zum Streit zwischen Juden und Christen. Wobei die Justiz dieser Zeit klar auf der Seite der Christen steht: Gerichtsakten aus der Zeit des Mittelalters belegen, dass Juden überproportional oft vor Gericht stehen müssen – nicht, weil sie streitsüchtig sind, sondern weil sie immer wieder angeklagt werden.

Wenig hilfreich ist dabei, dass nicht alle Juden in Schaffhausen die andauernden Beleidigungen und den Hass einfach hinnehmen. So gibt es etwa Berichte, wonach die Frau eines Juden Aaron «ihren ars (Hinterteil – Anm. d. Red.)» einer vorbeilaufenden Passantin zeigt und dabei wüste Beschimpfungen gerufen haben soll. Besonders gefährlich für die Juden, aber besonders ehrverletzend für die Christen: Gotteslästerungen. Auch davon gibt es Berichte, wonach Juden damit die christliche Bevölkerung provozierten. So soll ein junger Jude mit obszönen Handgesten und wüsten Beschimpfungen des christlichen Gottes durch die Stadt geritten sein.

Das Zusammenleben zwischen Juden und Christen ist wegen solchen Zwischenfällen ein Pulverfass. Wie geladen und gefährlich die Stimmung ist, zeigen auch die Ereignisse des Jahres 1397. Als der Sohn eines Schaffhauser Einwohners nicht auftaucht, macht sich dieser direkt auf den Weg in die Neustadt - dort leben damals die Juden - und droht «mit viel Geschrei»: sollte der beschuldigte Jude seinen Sohn nicht rausgeben, so würde er blutige Rache nehmen. Ob der Knabe darauf wieder nach Hause zurückkehrte, ist nicht belegt.  Es zeigt dafür aber: Der Verdacht fällt zuerst auf die Juden.

Und eben auch beim Mord in Diessenhofen sollten letztlich die Juden es sein, die an den Folgen dieser Tat leiden.

Der Mord an Konrad Lori

Zu Ostern 1401 wird in Diessenhofen ein toter Bub gefunden. Es handelt sich dabei wohl um Konrad Jori, vier Jahre alt und Sohn des angesehen Diessenhofer Ratsmitglieds Hermann Lori. Der Täter ist wahrscheinlich ein Christ, ein Reiterknecht. Er wird auf der Flucht gefangen genommen und verhört. Eigentlich sollte die Sache damit schnell beendet sein. Nach damaligem Recht kann der Mann nur mit dem Tod rechnen. Wahrscheinlich auch mit diesem Wissen, wirft er mit haltlosen Beschuldigungen um sich - und trifft auf offene Ohren als er behauptet, er sei von Juden angestiftet worden, den Jungen zu töten.

Diebold Schilling der Jüngere zeigt in einer Zeichnung, wie Juden für den Mord an dem Knaben bezahlt haben sollen. Bild: Wiki

Laut Unterlagen aus Winterthur, die über diesen Fall berichten, habe er drei Gulden für die Tat von einem Juden bekommen. Dieser habe das Blut des Jungen gewollt. Damals war der Fall dann klar: es muss sich bei dieser Tat um einen Ritualmord handeln. 

Juden flüchten aus Schaffhausen

Das Gerücht macht schnell die Runde und ist auch bald in Schaffhausen Gesprächsthema. Der in Schaffhausen lebende Jude «Hirt», der in Diessenhofen schwer belastet wird, wird festgenommen und brutal gefoltert. Die anderen Juden vor Ort ahnen wohl, was auf sie zukommt. So suchen viele ihr Heil in der Flucht. Laut Quellen versuchen zum Beispiel drei über Feuerthalen nach Stein am Rhein zu gelangen, werden aber auf der Flucht geschnappt. Das macht sie zusätzlich verdächtig.

Unterdessen gesteht Hirt alles, was die Peiniger hören wollen – ob es wahr ist, oder nicht. So soll der Ritualmord in Diessenhofen nur die Spitze des Eisberges gewesen sein. Er gesteht eine regelrechte Verschwörung durch Juden im Bodenseeraum und in der Ostschweiz. So sollen zwei Konstanzer Juden bereit gewesen sein, ihm 80 Gulden für Christenblut zu zahlen. Heute wären das ungefähr 30‘000 Franken.

Immer wieder gibt es mittelalterliche Darstellung von angeblichen Ritualmorden durch Juden an Christenkindern. Bild: Wikimedia

Weitere Juden werden gefoltert, welche die Geschichte unter Qualen ebenfalls bestätigen. Das Christenblut haben sie unter anderem trinken oder auch zur Herstellung von Tinkturen benutzen wollen, die das Vieh und die Brunnen in Schaffhausen vergiften sollen.

In Schaffhausen werden in der Folge weitere Andersgläubige zusammengetrieben und gefangen genommen. Nach Wochen, auch unter der Folter an Frauen und Kindern, kommt es Ende Juni zur Urteilsvollstreckung.

Am 25. Juni brennen 30 Scheiterhaufen

Wie die Folter damals ablief, lässt sich an Quellen nachzeichnen. Den Juden werden Nadeln unter die Fingernägel getrieben, bis sich diese ablösen. Ausserdem wird beschrieben, dass man ihnen die Beine aufschneidet, die Wunden mit «kochendem Pech» befüllt, die Wunde heilen lässt – um dann wieder mit der Prozedur von vorne zu beginnen. Eine andere Quelle berichtet, dass «ihre Sohlen unten so angebrannt waren, dass man bei ihnen wohl den blossen Knochen gesehen hätte».

Mit den Füssen auf glühende Kohlen stehen ist ebenfalls eine brutale, aber effektive Foltermethode. Bild: Wikimedia

Auf dem Weg zum Scheiterhaufen soll ein Verurteilter noch gerufen haben: «Ich weiss nicht, was ich gestanden habe; denn bei der Marter hätte ich gesprochen, dass Gott nie Gott worden wäre.» Drei Verurteilte sind so schwer von der Folter gezeichnet, dass sie nicht laufen können. Auf Karren werden sie vor die Stadt gebracht, wo sie ihr Ende finden sollen.

Als sie dann am Scheiterhaufen ankommen, erwachen laut verschiedener Quellen nochmal die Lebensgeister der schwer geschundenen Menschen. Mehrere Ratsknechte aus Schaffhausen berichten, dass die Verurteilten laut protestieren, ihre Unschuld beteuerten und die Anwesenden anflehten, man möge sie verschonen und «für sie beten».

Es bringt nichts.

Alle 30 Schaffhauser Juden werden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Bild: Schedelschen Weltchronik von 1493, Wikimedia

Im Hauptbuch der Stadt wird später «226 Pfund Judengold» als Einnahme und eine Rechnung für das Stroh, welches für die Scheiterhaufen notwendig ist, vermerkt. Die Überreste der 30 Schaffhauser Juden werden in eine Grube gelegt und verscharrt.

Der ermordete Konrad wird derweil in Diessenhofen fast wie ein Heiliger verehrt. An seinem Grab sollen Wunder geschehen und immer wieder besuchen die Einwohner der Gemeinde seine letzte Ruhestätte. Erst als Diessenhofen reformiert wird, hört dieser Glaube auf.

Judenfreies Schaffhausen – für eine Weile

Nach dem 25. Juni existiert das jüdische Leben in Schaffhausen nicht mehr. Aber trotz dieser schrecklichen Ereignisse kommen knapp 20 Jahre später wieder Juden nach Schaffhausen. Damals, einem Beschluss vom Konzil von Basel folgend, müssen sie rote Judenkappen tragen, damit sie direkt als Juden erkannt werden können.

Trotz dieser Schikane wird es zumindest etwas leichter für sie. So erlässt der Stadtrat eine Verordnung, nach der das Vermögen von verstorbenen Juden nicht der Stadt oder Bürgern der Stadt zukommen darf, sondern nur den Erben des Verstorbenen. Das soll verhindern, dass es zu einer Judenverfolgungen aus Geldgier kommt.

Die Taten des Jahres 1401 bleiben derweil in vielen Chroniken lebendig – so auch in der jüdischen Chronik des Rabbiners Joseph ha-Kohen. Er erinnert an diesen grausamen Akt in seinem geschichtlichen Werk «Emeq habacha» - was aus dem hebräischen übersetzt so viel wie «Tal der Tränen» bedeutet.

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Kommentare (1)

k s Mi 23.10.2019 - 08:24

Sehr geehrter Herr Denzel,

sie haben sich für den Artikel wirklich Mühe gegeben.
Mit ein wenig mehr Mühe hätten Sie vielleicht auch die Werke von Hellmut Schramm und Ariel Toaff entdeckt. Hellmut Schramm zeigt chronologisch, wie Juden (bzw sich als Juden Ausgebende), aus verschiedenen Teilen der Welt, Ritualmorde an Christen und Anderen verüben.
Dies ist eine historisch belegte Tatsache, die nicht abstreitbar ist. Ich wünschte Sie würden auch darüber einen Artikel schreiben.

Hier haben Sie mal ein Beispiel aus Zürich aus dem Werke Schramms:
"On 2 March 1349 Jews stole the four-year-old son of a Zurich shoemaker and cut up his body; the blood was collected. The body was thrown into the so-called Wolfsbach [literally: Wolf's Creek] where it was soon discovered in the mud. An altar was erected in Münster, "through which devotion increased by the day, until the city renounced the old Catholic faith; thereby the devotion of all their old forebears vanished and was entirely extinguished. . ."

Den Wolfsbach gibts noch in Zürich. Das, an das Opfer gewidmete Denkmal, konnte ich leider nicht ausfindig machen. In den Stadtarchiven sollte dieser Mord auch aufzufinden sein, falls Sie daran interessiert sind. Wäre doch super Stoff für einen Artikel, nicht?

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