«Kommt es zu Gewalt, leiden immer beide»

Fabienne Jacomet | 
Lesenswert
Noch keine Kommentare

Die Jugendgewalt nimmt in der Schweiz zu. Marcel Waser versucht Kinder und Jugendliche in Präventionskursen zu sensibilisieren und wünscht sich von den Schulen diesbezüglich mehr Engagement. Diese beschäftigen sich vor allem mit Onlinemobbing.

«Schläge müssen Wirkung zeigen», sagt Kung-Fu-Lehrer Marcel Waser, während er den acht Kindern in der Turnhalle in Oberhallau zuschaut, wie sie in Zweierteams üben. Es ist Mittwochnachmittag, die Kinder sind gekommen, um Selbstverteidigung zu lernen. «Wenn euch jemand von hinten versucht zu würgen, hebt ihr die Schulter an, streckt die Arme in die Luft, dreht euch um und schlagt zu.» Ein Mädchen lässt ihre Kollegin bei der Übung zu früh los. «Du bist eine zu nette Angreiferin», kommentiert Waser.

Es sind Extremsituationen, welche die Kinder hier in dem viertägigen Basiskurs simulieren. Waser spricht mit den Elf- bis Vierzehnjährigen aber auch über Gewalt und darüber, wie sie Konflikte vermeiden können. Er verbindet den Selbstverteidigungskurs mit Inputs zur Gewaltprävention, denn beide gehören eng zusammen. «Kämpfe, die ich vermeiden kann, sind Kämpfe, die ich gewinne.»

Zahl der Verurteilungen steigt

Immer wieder gibt es schweizweit Schlagzeilen zu Jugendgewalt. Zum Teil artet diese so stark aus, dass es Tote gibt. Mitte Oktober wird im Kanton Thurgau ein 15-Jähriger verhaftet, er soll einen 18-Jährigen getötet haben. Laut Bundesamt für Statistik nahm die Zahl der von Jugendlichen ausgeübten Gewalttaten zwischen 2018 und 2021 um 37,2 Prozent zu. «Schaut man sich die Kurve an, war die Zahl 1990 sehr hoch, dann ging sie sukzessive runter, und in den letzten fünf bis acht Jahren ist sie wieder gestiegen», sagt Waser, der seit 32 Jahren Selbstverteidigungskurse anbietet. Statistiken aus dem Kanton Zürich bestätigen seine Aussage: Bis 2015 war noch ein Rückgang bei der Anzahl der wegen einer Gewaltstraftat verzeigten Jugendlichen zu verzeichnen. Diese Erhebungen beschränken sich jedoch nur auf Fälle, bei denen Verurteilungen stattgefunden haben. Gewalt beginne aber nicht gleich mit einer körperlichen Attacke, sondern oftmals im Kleinen, so Waser.

Zurück im Kurs. Die Kinder haben sich in der Mitte der Turnhalle auf den schwarzen Kreis gesetzt. Repetition vom letzten Mal: Es gebe unterschiedliche Arten von Gewalt. Gegen den Körper, gegen das Herz und gegen Sachen. Waser fragt die Kinder nach ihren eigenen Erfahrungen. Viele von ihnen seien auf dem Pausenplatz schon beleidigt worden – Gewalt gegen das Herz, «eine unterschwellige Form». Regelmässig macht er dazu mit den Kindern Rollenspiele, bei denen sie sich «gegenseitig Beleidigungen an den Kopf werfen sollen», um zu sehen, was das bei ihnen auslöst. «Was machst du, wenn dir jemand auf dem Pausenplatz sagt, du bist ein Arschloch?», fragt Waser einen Kursteilnehmer. «Ich sag: selber», ist die Antwort. «Genau so kann es sich hochschaukeln bis zu Schlägen oder Schlimmerem.» Besser sei eine Gegenfrage: «Wieso hast du das gesagt?» Waser will den Kindern vermitteln, dass sie nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. «Kommt es zu Gewalt, leiden immer beide.»

An Schaffhauser Schulen «arten solche Situationen zum Glück selten aus», sagt der Präsident des Stadtschulrates Christian Ulmer auf Anfrage. «Einzelfälle von Gewalt kann es immer geben, das wollen wir auch nicht verniedlichen, aber wir müssen uns als Schulbehörde nicht ständig damit auseinandersetzen.» In Fällen, wo Gewalt im Spiel sei, würde die Schulsozialarbeit mit eingebunden und das Gespräch mit den Eltern gesucht. Es werde auch geschaut, ob schon früher Probleme aufgetaucht seien. «Oftmals zeigt sich, dass es Kinder betrifft, die bereits in früheren Situationen aufgefallen sind.» Es gebe auch Fälle, wo die Gesamtsituation in den Familien schlecht sei. «In krassen Fällen, bei welchen das Kindswohl gefährdet scheint, muss die Schulbehörde auch mal eine Gefährdungsmeldung bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) machen.»

Eine Videoreportage aus Oberhallau.

«Gewalt innerhalb der Familie ist die häufigste Form», sagt Waser. «80 Prozent der Übergriffe passieren in der Familie.» Im Kurs mit den Kindern spricht er auch dieses Thema an, es gehört zu den «schlechten Geheimnissen». «Wenn euch ein Familienmitglied plagt und sagt, dass ihr das niemandem sagen dürft, müsst ihr das jemandem erzählen. Eurer Lehrperson, eurem besten Freund, der besten Freundin.»

«Stossen irgendwann an Grenzen»

Waser wünscht sich von den Schulen, Gewaltprävention stärker in den Unterricht einzubinden. Laut Ulmer werde zusammen mit dem Verein für Jugendfragen, Prävention und Suchthilfe (VJPS) sowie der Polizei vor allem in Bezug auf Mobbing präventiv mit den Kindern gearbeitet. «Wir haben festgestellt, dass es vermehrt Cyber-Mobbing gibt. Laut einer Studie, welche die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften diesen Oktober veröffentlicht hat, wurde fast jeder fünfte Jugendliche schon einmal in den sozialen Medien bedroht. «Online haben wir kaum Kontrollmöglichkeiten, deshalb versuchen wir die Kinder aufzuklären.» Obwohl es eigentlich nicht erlaubt sei, hätten die Kinder ihre Handys in der Schule meist griffbereit. «Es ist ein Bereich, der sich verselbstständigt hat.» Die Schulen würden einen Teil der Erziehungsarbeit mit leisten, so Ulmer. «Aber wir stossen irgendwann an Grenzen, und da sind in erster Linie auch die Eltern gefragt.»

Waser sieht das ähnlich. «Wie die Jugendlichen ticken, hängt vom Verhalten der Erwachsenen ab und davon, wie sie mit den Kindern umgehen. Es ist wichtig, nicht einfach zu sagen ‹Die heutige Jugend ist furchtbar›, sondern sich zu fragen, was wir tun können, dass sich etwas ändert.»

Die Kinder in der Turnhalle machen derweil ein paar neue Übungen. Die Hände vor dem Gesicht, fester Stand. Es geht darum, Schläge abzuwehren. Und noch einmal sagt Waser ihnen, dass sie nur zuschlagen sollen, wenn es wirklich nicht anders geht.

Ist dieser Artikel lesenswert?

Ja
Nein

Kommentare (0)

Neuen Kommentar schreiben

Diese Funktion steht nur Abonnenten und registrierten Benutzern zur Verfügung.

Registrieren