Die seelische Not der Kinder und Jugendlichen

Damiana Mariani | 
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Die grosse Nachfrage nach psychiatrischer Betreuung für Kinder und Jugendliche führt zu Wartezeiten in den zuständigen Kliniken. Bild: Key

Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an Depressionen und psychischen Problemen. Die Nachfrage nach ambulanter Betreuung ist anhaltend gross, psychiatrische Kliniken führen bereits Wartelisten. Schaffhausen ist von dieser Entwicklung mitbetroffen.

Corona belastet die Psyche. Auch jene der Kleinen. Offensichtlich wird das, wenn man einen Blick auf die Wartelisten der hiesigen Kinder- und ­Jugendpsychiatrien wirft. Landesweit wird eine deutliche Zunahme bei der ambulanten und stationären Betreuung beobachtet.

Leiden Kinder oder Jugendliche in Schaffhausen an psychischen Problemen, ist der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst (KJPD) der Spitäler Schaffhausen eine der wichtigen Anlaufstellen – und eine der wenigen, denn: «Im Kanton Schaffhausen gibt es neben dem KJPD mittlerweile nur noch einen einzigen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater», sagt Carlo Strohner, Fachverantwortlicher Kindesschutz beim kantonalen Erziehungsdepartement. Und auch Jan-Christoph Schaefer, Chefarzt des KJPD in Schaffhausen bestätigt: «Ein breiteres therapeutisches Angebot wäre wünschenswert.»

Hinzukommt, dass der KJPD in Schaffhausen die jungen Patienten nur ambulant betreut, bedarf es aber einer stationären Betreuung, nehmen die zuständigen Ärzte eine Zuweisung vor. In der Regel würde es sich dabei um eine Krisensituation mit akuter Selbst- oder Fremdgefährdung handeln, in denen die Betroffenen nicht mehr absprachefähig seien, so Schaefer. Für solche Fälle führt der Kanton eine Leistungsvereinbarung mit zwei spezialisierten Kinder- und Jugendpsychiatrien in St. Gallen und dem Thurgau, der Klinik Sonnenhof in Ganterschwil und der Klinik Clienia in Littenheid.

Buben sind häufiger betroffen

Der KJPD in Schaffhausen verzeichnet für das Jahr 2021 über 500 Anmeldungen. Etwa zweidrittel der Kinder seien im Primarschulalter. Beim Geschlecht sei das Verhältnis 3:2, Buben seien häufiger betroffen als Mädchen, so Schaefer. Mädchen seien in diesem Alter oft widerstandsfähiger und würden sich besser den schulischen Anforderungen anpassen. Sie haben weniger mit Konzentrationsstörungen zu kämpfen, seien weniger aggressiv, leiden jedoch vermehrt an emotionalen Störungen und depressiven Stimmungen. Auch die Selbstverletzung komme bei Mädchen häufiger vor.

Aktuell kann der KJPD alle Anfragen gut bedienen, obschon sich die Anmeldungen im höheren Bereich bewegen. Von den Kindern und Jugendlichen, die beim KJPD jährlich betreut werden, werden zehn bis zwanzig in den stationären Bereich überwiesen, sprich: nach Ganterschwil oder Littenheid. Manche von ihnen werden sofort aufgenommen, andere auf die Warteliste gesetzt. Die Wartezeiten würden zwischen einer und acht Wochen schwanken, so Schaefer. «Die Nachfrage nach stationären Aufenthalten ist bei uns anhaltend gross», bestätigt Ulrich Müller-Knapp, Chefarzt der Klinik Sonnenhof. «Im Kinder- und ­Jugendbereich führen wir Wartelisten. Die Fallschwere und die Anzahl an Notaufnahmen und Kriseninterventionen haben in den vergangenen Jahren kontinuierlich ­zugenommen.» Seit Ausbruch von Corona würden bei den Jugendlichen depressive Symptome häufiger vorkommen. Die Anzahl manifester depressiver Erkrankungen sei seines Erachtens nach aber nicht gestiegen.

«Die Anzahl junger Patientinnen und Patienten hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht.»

Lars Wöckel Chefarzt, Kinder- und Jugend­psychiatrie Klinik Clienia

Auch in der Klinik Clienia Littenheid zeigt sich in den vergangenen Jahren eine deutliche Steigerung der stationären Aufnahmen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. «Die Anzahl junger Patientinnen und Patienten hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht», sagt Lars Wöckel, Chefarzt beim Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Klinik Clienia Littenheid. Die Nachfrage nach Angeboten in Notsituation sei gross. «In einer Krisensituation werden die Patienten immer sofort aufgenommen», führt er aus. Dies sei etwa der Fall, wenn ein Jugendlicher derart verzweifelt sei, dass er Suizidgedanken hege oder gar einen Suizidversuch hinter sich habe. Für die Vertragskantone wie Schaffhausen würden Plätze für Krisenangebote und stationärer Therapie zur Verfügung gestellt. Aufgrund der hohen Nachfrage wird die Klinik Clienia Littenheid in diesem Jahr eine neue Station für Krisensituationen für Jugendliche eröffnen. «Aktuell bieten wir 53 vollstationäre Plätze, demnächst sollen es elf weitere sein.»

Ein grösserer stationärer Bereich bedingt auch eine Investition in das Personal. Freie Stellen zu besetzen ist aber gar nicht so leicht: «Durch die landesweite maximale Auslastung in Kinder- und Jugendpsychiatrien kommt es bei Fachärzten schon mal zu Engpässen», sagt Wöckel. Denn auch die Klinik Sonnenhof baut ihr Angebot aus. So sollen ab 2025 zwölf neue stationäre Betten betrieben und eine grössere stationäre Kriseninterventionsstation eröffnet werden.

Oft bleibt es bei einem Versuch

Unicef warnte unlängst, dass Suizid die zweithäufigste Todesursache unter jungen Menschen in Europa sei, nur Verkehrsunfälle würden mehr Todesopfer fordern. «Die Zahlen von Unicef sind nicht neu», ­bemerkt Wöckel. Dass Selbstmord bei ­Jugendlichen die zweithäufigste Todesursache sei, liege auch daran, dass schwere körperliche Krankheiten in diesem Alter seltener vorkommen. Betrachte man die absoluten Zahlen, sei die Suizidrate bei den 50- bis 65-Jährigen dagegen am höchsten. Alarmierend sei hingegen, dass bei Jugend­lichen Suizidversuche häufiger vorkommen: «Ein Prozent der 15- bis 24-Jährigen in der Schweiz unternimmt einen Selbstmordversuch», so Wöckel. «Das ist deutlich mehr als in allen anderen Altersgruppen.»

Schaefer erinnert dabei an Goethes Werk «Die Leiden des jungen Werthers», in dem sich der Protagonist aus Liebeskummer das Leben nimmt, was seinerzeit einen ­bedauerlichen Nachahmungseffekt unter Gleichaltrigen hervorgerufen hat. «Es ist nicht neu, dass Jugendliche in Situationen geraten, in denen sie keine Perspektive mehr sehen und Suizidgedanken entwickeln», sagt er.

Mobbing und Leistungsdruck

Fragt man Psychiater und Psychologen nach der Ursache dieses Phänomens, bleiben stichhaltige Antworten jedoch aus. Ein Aspekt von vielen, der darauf hindeuten könnte, dass das Leben für Kinder und ­Jugendliche in den vergangenen Jahren komplizierter geworden ist, bezieht sich auf die schulische Leistung. «Die gestiegene Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt nach Hochschulabgängen stellt automatisch eine höhere Anforderung an die Schulleistung», sagt Strohner. Den jungen Menschen werde durch diese gesellschaftlichen Erwartungen deutlich zu verstehen gegeben, dass die Noten in ihrem Schulzeugnis von grosser Bedeutung seien und sie entsprechende Leistungen erbringen müssen. Diese verschärfte Fokussierung auf die schulische Leistung führe dazu, dass ­immer mehr junge Menschen Versagensängste quälen. «Der schulische Druck ist auch dann da, wenn Eltern keinen auf ihre Kinder ausüben», bestätigt Schaefer. «Die Kinder spüren den gesellschaftlichen Druck trotzdem.» Heute haben die Jugendlichen so viele Möglichkeiten, dass Scheitern gar nicht mehr in Frage komme. Es gebe immer wieder eine neue Option und damit eine ständig bestehende Erwartung, erfolgreich zu sein.

Ein weiterer Auslöser psychischer Probleme sei Mobbing. «Es fallen immer mal wieder Schülerinnen und Schüler aus dem Rahmen und geraten dadurch in den ­Fokus», so Schaefer. Mobbing habe einen enormen Einfluss. «Untersuchungen zeigen, dass Kinder, die gemobbt werden, eine ähnliche Belastung tragen müssen wie Kinder, die in einem Krieg leben.» Oftmals würden weder die Eltern noch die Lehrer dies mitbekommen. Dies, weil die Kinder sich aus Scham nicht mitteilen, und weil Mobbing immer öfter unsichtbar virtuell stattfindet.

Doch während Mobbing und schulischer Druck seit jeher da sind, ist Corona eine neuere Erscheinung. Und seine Auswirkungen auf die Psyche der Jungen scheint unterschätzt. Pro Juventute meldete 60 Prozent mehr Konflikte, die Kinder und Eltern austragen, und 70 Prozent mehr häusliche Gewalt während der zweiten Pandemiewelle in der Schweiz. 2021 wurden im Vergleich zum Vorjahr 40 Prozent mehr Beratungen zum Thema Suizid durchgeführt. «Corona zehrt an den Kräften», sagt Schaefer. «Ein Monitoring des Bundesamts für Gesundheit führt im ­Moment eine Reihe an Studien dazu durch. Aktuelle Resultate liegen jedoch noch keine vor.»

Die Familie als stärkende Basis

«Es wäre schön, könnte man rasch ­erkennen, wann ein Kind Hilfe braucht», sagt Wöckel. So einfach sei es aber nicht. Die Alarmglocken sollten klingeln, wenn sich ein Kind zurückziehe, nicht mehr mit den Eltern oder seinen Freunden kommuniziere. Genauer hinsehen sollte man ­zudem, wenn sich Verhaltensweisen des Kindes plötzlich ändern. Ein neu aufgetretenes aggressives Verhalten könne darauf hinweisen. «Allerdings könnte es sich ­dabei auch um eine altersgemässe Entwicklung handeln», so Wöckel. Kinder und Jugendliche müssen enorme Anpassungsleistungen vornehmen und diese Lernprozesse benötigen viel Zeit. Äussere ein Kind zunehmend Probleme, würden die Noten auf einmal schlechter, Hobbys und Freunde vernachlässigt, gelte es ­jedoch aufzuhorchen. «Kommen dann noch Drogen ins Spiel, erschwert das die Situation zunehmend.»

Würden Eltern bei ihren Kindern eine negative Veränderung bemerken, sollten sich nicht zu lange warten, warnt Schaefer. «In dem Moment, in dem sich Eltern fragen, ob sie sich Hilfe holen sollten, ist der richtige Zeitpunkt bereits gegeben.» Eine ambulante Beratung, Abklärung oder Therapie könnte dann Abhilfe schaffen.

Wie aber kann man einem Kind den ­Rahmen schaffen, in dem es gar nicht erst zu ernsthaften psychischen Problemen kommt? «Für Kinder ist es wichtig, die ­jeweiligen Lern- und Entwicklungsprozesse ihres Alters gut abschliessen zu können», sagt Wöckel. «Negative Erfahrungen können wir auch Kindern nicht ersparen. Ein guter Umgang damit kann die Entwicklung eines Kindes aber fördern.» Eine altersgerechte Teilnahme am Alltagsleben, die Bildung und Pflege von Freundschaften und eine gute Integration in der Schule seien Beispiele, die zum Gelingen einer ­guten Entwicklung beitragen. «Und dann ist ein vertrauensvolles familiäres Umfeld enorm stärkend für die Psyche eines Kindes.»

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Kommentare (1)

Beat Rüedi-Külling Mo 10.01.2022 - 06:30

Es ist nicht Corona - es ist das Verhalten der Entscheidungsträger, welches die Kinder und Jugendlichen belastet. Es sind die Masken und die ewige Testerei und die abgesagten Skilager und ..., welche die Kinder und Jugendlichen belasten.

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