Doppelter Knochenbruch im Hort

Tobias Bolli | 
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Während des Spielens kommt es immer wieder zu potenziell gefährlichen Situationen. Symbolbild: Melanie Duchene

An einer Kindertagesstätte wurde ein Knabe von einem älteren Spielkameraden mit einem Hartgummiriemen traktiert. Ein Armbruch war die Folge. Der Fall illustriert den schwierigen Balanceakt zwischen Freiraum und Sicherheit, den Aufsichtspersonen wahren müssen.

«Ich gebe mein Kind für einen halben Tag in die Kindertagesstätte und muss es dann mit einem doppelten Knochenbruch wieder abholen.» Die Mutter ist bewegt, als sie von einem Vorfall in einer regionalen Kindertagesstätte berichtet. Ihr 5-jähriges Kind sei während des Spielens von einem 9-Jährigen mit einem Hartgummiriemen angegriffen worden. Dieser habe nicht von ihm abgelassen, obwohl der 5-Jährige in aller Deutlichkeit signalisiert habe, sich nicht mit ihm balgen zu wollen. Er habe sogar nach Hilfe gerufen. Die Art der Verletzung, laut Notfallpraxisbericht ein Bruch der Elle und ein Biegungsbruch des Unterarms, gebe klare Hinweise darauf, dass sich ihr Kind während der Auseinandersetzung in einer Abwehrhaltung befunden habe. «Typischerweise kommt es zu solchen Brüchen bei brutaler Polizeigewalt, etwa wenn Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken auf Demonstranten eindreschen.»

Der Vorfall laufe ganz grundsätzlich den Erwartungen zuwider, die man an eine Kindertagesstätte haben könne. Die Kita habe für den Schutz der Kinder zu sorgen und zumindest solch schwerwiegenden Verletzungen vorzubeugen. «Es ist klar, dass Unfälle passieren können, aber zu einem kompletten Knochenbruch sollte es nicht kommen.» Der ältere Junge sei schon vorher ausfällig geworden, so die Mutter des 5-Jährigen, und altersbedingt viel kräftiger als andere Kinder; man habe ihr bei der Übergabe fälschlicherweise gesagt, alles sei in Ordnung, das Kind sei lediglich mit einem Gummiobjekt gestreift worden.

Zwei Versionen

Der Hort bedauert auf Anfrage ausdrücklich, dass es zu einem Knochenbruch gekommen war, stellt aber die vorangegangene Handlung anders dar. So hätten die beiden in gegenseitiger Absprache miteinander «gekämpft», worauf es zu einem Streit kam. Der 5-Jährige habe seinen Spielkameraden zuerst mit dem Gummiriemen geschlagen. Darauf sei der Ältere in Zorn geraten und habe mit dem Objekt zurückgeschlagen. Die beiden Knaben, versicherte die Hort-Leitung, hätten zuvor friedlich miteinander gespielt. «Der sich dann entwickelnde Streit ist von einer Lernenden erkannt worden. Den Schlag mit dem Gummiriemen hat sie trotz einer raschen Reaktion nicht mehr verhindern können.»

Man habe den malträtierten Arm anschliessend untersucht und sichergestellt, dass er schmerzfrei in alle Richtungen bewegt werden kann und keine Fehlstellungen aufweist. Die Schwere des Vorfalls sei so nicht deutlich geworden, zumal der Junge kurz darauf wieder habe spielen wollen und den Arm dabei normal benutzt habe. Erst einige Tage später zeigte sich bei einem Spitalbesuch, wie gravierend die Verletzung tatsächlich war. Anschliessende Klärungsversuche zwischen den betroffenen Eltern und der Hort-Leitung erwiesen sich als wenig fruchtbar; die Eltern erwägen nun, rechtliche Schritte einzuleiten.

Schwieriger Balanceakt

Der Vorfall weist auf ein Dilemma hin, das alle familien- und schulergänzenden Betreuungsinstitutionen navigieren müssen. Auf der einen Seite sollen sie – das in diesem Zusammenhang oft gebrauchte Wort «Hort» weist darauf hin – ein Ort des Schutzes sein. Auf der anderen Seite sollen sie Kindern die Möglichkeit zur Entfaltung bieten: Kinder sollen hier reifen und Verantwortung übernehmen lernen. Das aber erfordert einen teilweisen Rückzug der Betreuungsperson, die Schaffung eines Freiraums, der unweigerlich ein gewisses Risiko mit sich bringt. Die Entdeckung und der Welt und der eigenen Kompetenzen kann nicht hundertprozentig risikofrei geschehen. Natürlich lässt sich im vorgestellten Fall aber fragen, ob der herumliegende Hartgummiriemen die Kinderwelt nicht mit unnötigen Risiken angereichert hat und ob die Aufsicht besser hätte wahrgenommen werden können.

Kanton schaut hin

In Schaffhausen ist seit drei Jahren das Erziehungsdepartement (ED) für die Bewilligung und Aufsicht der Kindertagesstätten zuständig, vorher zeichnete die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) dafür verantwortlich. «Abgestützt auf die kantonale Pflegekinderverordnung schauen wir unter anderem, ob der Betreuungsschlüssel eingehalten wird», so Nadine Wolfer, Verantwortliche des Erziehungsdepartements. Der Betreuungsschlüssel regelt, wie viele Aufsichtspersonen pro Kind mindestens vorhanden sein müssen. Zusätzlich überprüfe man während eines teilweise unangemeldeten, eintägigen Besuchs, ob die im Konzept der Kitas formulierten pädagogischen Leitlinien in der Praxis umgesetzt werden. Wolfer stellt den insgesamt 51 Betreuungseinrichtungen im Kanton ein sehr gutes Zeugnis aus. «Die Betreuungseinrichtung leisten Grosses, um eine gute Betreuung, Bildung und Förderung der Kinder sicherzustellen.» Erst einmal habe der Betreuungsschlüssel einer Einrichtung beanstandet werden müssen. Die oben thematisierte Kindertagesstätte sei nie negativ aufgefallen.

«Ein Restrisiko bleibt immer und überall bestehen.»

Nadine Wolfer, Verantwortliche Bewilligung und Aufsicht Erziehungsdepartement

Den Vorfall bezeichnet Wolfer als extrem unschön und schmerzhaft für die Betroffenen. Sie könne den konkreten Fall aus der Ferne nicht beurteilen. Letztlich verfügten alle Betreuungspersonen aber nur über zwei Hände; ein Restrisiko bestehe immer und überall. «Je mehr man Kinder vor Erfahrungen schützt, desto unsicherer werden sie, da sie sich selbst dann nichts mehr zutrauen.» Laut Untersuchungen könne ein zu starker Fokus auf Sicherheit dazu führen, dass nicht weniger, sondern noch mehr Unfälle passieren.

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