«Jugendliche haben keinen emotionalen Zugang zu den Gräueltaten des Nationalsozialismus», sagt der Schulpräsident

Dario Muffler | 
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Stadtschulratpraesident, Werner Baechtold, fotografiert am Donnerstag 21. Maerz 2024, in Schaffhausen. (Roberta Fele / Schaffhauser Nachrichten)
Schulpräsident Werner Bächtold sagt, dass Jugendliche auch mal Grenzen überschreiten dürfen. Bild: Roberta Fele

Extremismus an der Schule – zuletzt tauchte eine nationalsozialistische Zeichnung in Buchthalen auf – beschäftigt Lehrpersonen schon länger stark. Schulpräsident Werner Bächtold sagt, dass das Problem nicht primär bei den Jugendlichen liege.

Die Zeichnung mit Hitlergruss und Hakenkreuz, die an der Oberstufenschule in Buchthalen gefunden wurde, sorgte für Schlagzeilen über Schaffhausen hinaus. Die Schulbehörden haben mit einer Aufklärungsstunde bei den Klassen des Schulhauses auf den Vorfall reagiert. Schulpräsident Werner Bächtold nimmt die Jugendlichen nun in Schutz – und sieht die Erwachsenen in der Pflicht.

Herr Bächtold, wie geht es der Lehrerin und dem Schüler, die auf der Zeichnung mit der Gaskammer abgebildet waren?

Werner Bächtold: Der Lehrerin geht es den Umständen entsprechend gut. Sie kann den Vorfall einordnen. Dem Jungen geht es derweil nicht so gut. Er hätte gerne seine Ruhe, der Rummel um die Zeichnung setzt ihm etwas zu.

Haben die Täter inzwischen zugegeben, dass sie beteiligt waren?

Drei Jugendliche haben sofort zugegeben, dass sie mitgemacht haben. Ihnen tut es auch leid. Sie wurden bestraft, sind aber wieder in der Klasse und dort gut integriert. Beim vierten Jugendlichen ist die Situation anders. Mit ihm fanden mehrere Gespräche statt. Das letzte Gespräch hat aufgezeigt, dass er ziemlich sicher nicht beteiligt war.

Dieser Schüler wäre nicht das erste Mal mit nationalsozialistischem Gedankengut aufgefallen. Wie erklären Sie sich das?

Die Jugendlichen sind stark vernetzt. Wenn man sieht, wie präsent antisemitische Themen auf Tiktok sind, erstaunt es mich nicht, wenn die Jugendlichen mit diesem Gedankengut in Berührung und dann auf solche Ideen kommen. Denn sie haben keinen emotionalen Zugang zu den Gräueltaten des Nationalsozialismus. Sie können sich das gar nicht vorstellen. Ich zögere deshalb, den Jungen in eine politische Ecke zu stellen. Er befindet sich in einem Reifungsprozess.

Sie sprechen von einer dummen Aktion und einem Einzelfall. Verharmlosen Sie nicht nationalsozialistische Symbolik?

Ich verharmlose das auf keinen Fall, aber die drei beteiligten Jugendlichen gehören definitiv nicht in diese Ecke. Ihnen Antisemitismus vorzuwerfen, wäre falsch. Ich glaube, dass das ein arg missglückter Streich war – und sie wurden mit einer Schuldispens dafür bestraft.

Was passiert an den Schulen in der Stadt Schaffhausen, wenn Jugendliche sich extremistisch verhalten?

Wir tolerieren keinerlei extremistische Äusserungen. Wir sprechen die Kinder oder Jugendlichen darauf an und ziehen bei krassen Fällen die Polizei bei. Die Täterschaft wird zudem bestraft.

«Es gehört seit jeher zu den Erziehungsaufgaben der Schule, Grenzen aufzuzeigen und deren Einhaltung einzufordern.»

Haben solche Grenzüberschreitungen zugenommen in den letzten Jahren?

Ich bin mir da nicht sicher. Die öffentliche Aufmerksamkeit für solche Fälle hat einfach stark zugenommen. Es gehört seit jeher zu den Erziehungsaufgaben der Schule, Grenzen aufzuzeigen und deren Einhaltung einzufordern.

Die Vandalenakte stehen in einer Reihe mit schlimmeren antisemitischen Taten, die sich zuletzt ereignet haben.

Extremismus ist und war schon immer ein Problem. Die Schule ist sich das gewöhnt. Ich bedauere, dass die heutige Jugend permanent mit so schwierigen Themen konfrontiert ist. Überall ist Krieg, es herrschen Konflikte und neue Krisen drohen. Die Schule ist sehr wach und zieht rote Linien und entsprechende Konsequenzen, sollten diese Grenzen überschritten werden. Ich bin aber überzeugt, dass die Jugendlichen auch mal Grenzen überschreiten müssen. Die Schule weiss, wie damit umzugehen ist.

Sie fordern, dass die Eltern mehr Verantwortung übernehmen müssen. Welche Rolle spielen sie, wenn es um Extremismus geht?

Ich würde es sogar noch weiter fassen: Wir als Gesellschaft sind in der Verantwortung. Die Jugendlichen suchen Vorbilder – und das sind wir Erwachsene. Die Eltern und das gesamte Umfeld der Kinder sind deshalb in einer besonderen Verantwortung, keine extremistischen Haltungen zu vertreten. Insbesondere auf Social Media sollten wir die Jugendlichen nicht allem aussetzen, was es gibt.

«Mein Eindruck ist, dass in den letzten Jahren immer mehr Verantwortung auf die Schule geschoben wurde.»

Bröckelt der Konsens, was Aufgabe der Schule ist und was nicht?

Mein Eindruck ist, dass in den letzten Jahren immer mehr Verantwortung auf die Schule geschoben wurde. Ich will nicht abstreiten, dass die Schule viel Verantwortung trägt. Aber sie kann die Kinder nur während der Schulzeit beeinflussen. Die Kunst ist, dass Eltern und Schule am selben Strick ziehen, sonst kommen die Kinder in einen Loyalitätskonflikt.

Wieso zieht man weniger am selben Strick?

Die Stellung der Schule hat gelitten. Der Respekt gegenüber Lehrpersonen ist gesunken. Ich musste Eltern schon ermahnen, dass ihr Umgang mit Lehrpersonen unangemessen ist. Immer schneller und öfter drohen Eltern sogar mit einem Anwalt. Das ist ein gesellschaftliches Problem: Autoritäten und Respektspersonen werden nicht mehr so ernst genommen wie vor einigen Jahren. Das sieht man auch in der schwindenden Kompromissfähigkeit in der Politik. Ich will keine alten Zeiten auferstehen lassen, aber wir sollten uns wieder einig werden über die Ziele für die Kinder und Jugendlichen. Nur so können wir Erfolg haben.

Anstand, Gesprächsbereitschaft und Konsensfähigkeit sind Werte, welche die Schule vermitteln könnte und somit einen grossen gesellschaftlichen Hebel hätte.

Die Schule hat unglaublich viele Aufgaben und wir müssen aufpassen, sie nicht zu überladen. Die Schule versucht bereits engagiert, diese Werte zu vermitteln. Nur, wenn man rundherum andere Werte vorgelebt bekommt, nützt das wenig.

Sind das kulturelle Unterschiede, welche die Schule hier spürt?

Kulturelle Unterschiede können wir nicht leugnen. Der Zugang zur Bildung ist nicht bei allen Familien gleich. Wir müssen den Eltern deshalb auch erklären, was das Ziel der Schule ist. Beispielsweise müssen wir den Eltern klarmachen, dass eine Abklärung beim schulpsychologischen Dienst ihr Kind nicht benachteiligt, sondern ihm helfen soll.

Wird die Schule mit dieser kulturellen Heterogenität alleine gelassen?

Es wird sehr viel den Schulen überlassen. Vor 30 Jahren war ich Lehrer, heute würde ich es mir nicht mehr ohne Weiteres zutrauen zu unterrichten.

Gibt es Ansätze, um diese Heterogenität in den Griff zu kriegen?

Wir müssen die Eltern noch stärker einbeziehen. Deshalb bin ich ein grosser Fan von Elternweiterbildungen. In der Stadt haben wir im vergangenen Herbst erstmals einen Informationsabend für Eltern durchgeführt, deren Kinder erst in den Kindergarten kommen. Dort haben wir darüber gesprochen, was uns wichtig ist. Das können einfache Dinge sein wie: Finken anziehen, Znünitäschli dabei haben und pünktlich sein. Wenn hier eine Einigkeit besteht, hat man ein gutes Fundament. In Deutschland ist man mancherorts schon weiter.

Inwiefern?

Ich habe in Berlin eine Brennpunktschule besucht. Die Schüler werden dort nur aufgenommen, wenn die Eltern eine Mindestzahl von Weiterbildungen besuchen. So entwickelt die Schule mit den Eltern ein gemeinsames Verständnis des Unterrichts. Um diese Ansätze weiterzuverfolgen, fehlt uns hier aber die gesetzliche Grundlage, wir können keine Eltern an einen Informationsabend zwingen. Wir planen aber einen Versuch: Wir wollen mit Kindern und deren Eltern bereits vor dem Schuleintritt ein paar Waldnachmittage durchführen.

Was soll das bringen?

So kommen sie nicht in eine fremde Welt nach den Sommerferien. Die Kinder kennen den Kindergarten und sich schon etwas. Auch die Eltern lernen sich und die Lehrpersonen kennen. Ich erhoffe mir viel von diesem Ansatz.

Kann man mit solchen Anlässen Vorfälle wie in Buchthalen verhindern?

Nein, natürlich nicht. Ich bin überzeugt, dass die Jugendlichen Unfug machen müssen. Dass dazu Nazi-Symbole verwendet werden, ist daneben, aber sie müssen die Grenzen auch mal überschreiten dürfen. Wenn man ihnen dieses Recht wegnimmt, machen sie es als Erwachsene. Es ist doch besser, wenn ein Jugendlicher mit dem frisierten Töffli von der Polizei zurechtgewiesen wird und daraus etwas lernt, als wenn er Jahre später ein Raserdelikt verübt.

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Kommentare (1)

Erich Bloch Mi 27.03.2024 - 16:14

Ich habe Verständnis, dass es nicht ausschliesslich bei der Schule liegt. Die Eltern sollten ebenso zur Verantwortung gezogen werden und auch das Umfeld.
Die Antwort von Herrn Bächtold verursacht bei mir lediglich eine "mittlere Zufriedenheit". Es tut mir weh, dass dies ausgerechnet in "meinem ehemaligen Schulhaus" geschehen ist. An einer kurz bevorstehenden Klassenzusammenkunft werden wir auch dies besprechen. Die Zeichnung "Gaskammern" hat nämlich mit der aktuellen Lage in Israel nichts zu tun.

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