«Deutschland ist ein schlechtes Beispiel»

Sidonia Küpfer | 
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Für den ehemaligen Bundesrichter Heinz Aemisegger würde die Annahme der Selbstbestimmungs-Initiative mit einer Schwächung des Stimmrechts der Stimmbürgerinnen und -bürger einhergehen. Bild: Selwyn Hoffmann

30 Jahre lang war Heinz Aemisegger Bundesrichter. Die Selbstbestimmungs-Initiative hält er für gefährlich, weil sie Tür und Tor öffne, um die Grundrechte anzugreifen.

Die Kampagne der SVP zur Selbstbestimmungs-Initiative kommt ungewohnt ruhig und orange daher. Wie viel juristische Sprengkraft hat diese Vorlage aus Ihrer Sicht überhaupt?

Heinz Aemisegger: Es ist eine der wichtigsten und auch der extremsten Initiativen, welche die SVP bis jetzt gestartet hat. Die ruhige Kampagne ist darauf ausgerichtet, die echten Probleme, welche hinter dieser Ini-tiative stecken, zu kaschieren.

Wo sehen Sie denn das Hauptproblem?

Es gibt zwei Hauptprobleme: Erstens schwächt die Initiative das Stimmrecht der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ganz deutlich. Und zweitens unterhöhlt sie die Grundrechte. Gerade die Medienfreiheit sowie die Meinungs- und Informationsfreiheit sind für unsere direkte Demokratie ganz zentral. Diese Grundrechte sind durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützt. Wenn beispielsweise die Medienfreiheit nicht mehr umfassend geschützt ist, leidet darunter die direkte Demokratie enorm. Im Moment haben wir die Situation dank der EMRK im Griff. Aber wer garantiert uns, dass nach einer Annahme der Selbstbestimmungs-Initiative und nach einer Kündigung der EMRK nicht eine künftige radikale Initiative die Medienfreiheit empfindlich einschränkt? Diese Gefahr will ich nicht eingehen.

Die Initiative beschränkt unser Stimmrecht? Die SVP macht genau das Gegenteil geltend: Nur die Initiative stelle sicher, dass das, was wir an der Urne beschlössen, auch umgesetzt werde.

Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind das höchste Organ in der Schweiz. Das waren sie bisher, das werden sie auch weiterhin sein, mit oder ohne Annahme dieser Initiative. Die direktdemokratischen Instrumente werden heute doch überhaupt nicht infrage gestellt. Aber diese Initiative gefährdet direktdemokratische Errungenschaften.

Inwiefern?

Im Initiativtext steht, dass bei einem Widerspruch zwischen Völkerrecht und Bundesverfassung «nötigenfalls» die internationalen Verträge gekündigt werden müssen. Was heisst denn dieses «nötigenfalls»? Das ist nicht definiert, und nun verlangt man vom Bürger, dass er einen so unbestimmten Begriff, quasi einen Blanko­check, in die Verfassung schreibt. Danach hat er es nicht mehr in der Hand, zu bestimmen, welcher Vertrag gekündigt werden soll und welcher nicht. Wie die Kündigungs- Initiative der SVP betreffend das Personenfreizügigkeitsabkommen zeigt, kann der Bürger heute eine bestimmte Initiative zur Kündigung eines ihm missliebigen internationalen Vertrages lancieren, und wenn er gewinnt, wird gekündigt. Im Falle eines Ja zur Selbstbestimmungs-Initiative tritt ein Automatismus in Kraft: Steht eine bestehende völkerrechtliche Verpflichtung, die nicht dem Referendum unterstand, im Widerspruch zur Bundesverfassung, muss der entsprechende völkerrechtliche Vertrag automatisch neu verhandelt und nötigenfalls gekündigt werden. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben dazu nichts mehr zu sagen.

Zuerst wird ja noch verhandelt.

Versuchen Sie einmal mit dem Europarat Verhandlungen aufzunehmen zu den EMRK-Garantien. Das können Sie nicht. Diese Garantien sind nicht verhandelbar. Sie können auch keinen Vorbehalt zu einzelnen Garantien aufstellen, das haben wir erlebt, darauf lässt sich der Europarat nicht ein. Es bleibt also nichts anderes übrig als die Kündigung der Konvention. Und damit fallen die EMRK-Grundrechte weg und damit auch der darin garantierte Schutz der Bürgerinnen und Bürger.

Aber die SVP weist doch zu Recht darauf hin, dass es in der Schweiz auch vor dem Beitritt zur EMRK Grundrechte gab. Wir haben auch eine Verfassung.

Also den Grundrechtskatalog, den wir in unserer Verfassung haben, gab es bei der Ratifizierung der EMRK 1974 in der heutigen Form noch nicht. Der wurde 1999 – stark beeinflusst durch die EMRK und in Abstützung auf sie – eingeführt. Er ist auch von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geprägt. Das war bei der Annahme der Verfassungsrevision von 1999 jedermann bekannt.

Dennoch: Heute haben wir diese Grundrechte auch in der Schweizer Verfassung. Das relativiert doch die Bedeutung der EMRK?

Nein, es braucht diesen uneingeschränkten umfassenden Schutz durch die EMRK vor allem wegen künftiger radikaler Initiativen. Wenn wir diesen Schutz nicht mehr haben, kann man unsere Grundrechte bis zum Gehtnichtmehr einschränken. Künftige Initiativen könnten zum Beispiel die Unschuldsvermutung, den Datenschutz, das rechtliche Gehör, die Informations- und die Medienfreiheit empfindlich aushöhlen. Was ist, wenn radikale Umweltschützer eine Initiative durchbringen, die bei Umweltschutzvergehen die Unschuldsvermutung einschränkt oder aufhebt? Solches liesse die EMRK niemals zu. Sie bildet einen unüberwindlichen Schutzwall dagegen.

In ihrem Argumentarium verweist die SVP auf Deutschland. Dort hat das Bundes- verfassungsgericht festgehalten, dass es Urteile aus Strassburg nicht umsetzt, wenn sie dem deutschen Grundgesetz widersprechen.

Deutschland ist in diesem Zusammenhang ein ganz schlechtes Beispiel. Dort hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein völlig anderes Machtpotenzial gegenüber dem Deutschen Bundestag als das Bundesgericht gegenüber dem schweizerischen Parlament. Das Schweizer Bundesgericht kann Bundeserlasse nicht aufheben. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hebt hingegen Parlamentsbeschlüsse auf, wenn sie gegen das Grundgesetz verstossen. Und das Grundgesetz ist ganz anders ausgestaltet als unsere Verfassung. Dort gibt es eine Ewigkeitsklausel, das heisst eine Garantie, dass bestimmte wichtige Normen auch im Wege einer Verfassungsänderung nicht angetastet, nicht geändert werden dürfen. Man darf zum Bespiel die persönliche Freiheit nicht beschränken. Hätten wir eine solche Garantie in unserer Bundesverfassung, dann könnte man über eine Initiative wie die Selbstbestimmungs-Initiative meinetwegen diskutieren. Denn dann brauchten wir den EMRK-Schutz viel weniger. Aber jetzt versuchen radikale Initiativen wie die Zweitwohnungs-Initiative, just diese Grundrechte explizit auszuhöhlen. Das gelingt ihnen wegen der EMRK heute jedoch nicht.

Im letzten SN-Interview 2014 haben auch Sie gesagt, dass Strassburg bisweilen überbordet. Stört Sie das nicht?

Natürlich! Ein Gericht ist nie unfehlbar. Das Bundesgericht macht Fehler, das Obergericht Schaffhausen macht Fehler. Das gehört zum Leben. Und auch Strassburg hat in einzelnen Fällen Dinge entschieden, die mir nicht passen. Aber das kann kein Grund sein, das Kind mit dem Bade auszuschütten. In einem Referat habe ich die Schweizer Europaratsparlamentarierinnen und Europaratsparlamentarier aufgefordert, sie sollten in Strassburg Einfluss nehmen, um gewisse missliebige, namentlich verfahrensrechtliche Entscheide des Strassburger Gerichtshofs künftig zu verhindern.

Aber geht es einem als Richter nicht gegen den Strich, wenn Strassburg findet, dies oder das habe man falsch entschieden?

Das gehört zum Richterdasein dazu. Das Bundesgericht hebt jedes Jahr zahlreiche Entscheide vorinstanzlicher Gerichte auf! Und man muss sehen: Viele Bundesgerichtsentscheide werden mit drei zu zwei Stimmen gefällt. Die zwei unterlegenen Richter sind ja keine Deppen, die haben sich auch ernsthafte Gedanken gemacht. Und wenn sich dann das Strassburger Gericht auf deren Seite stellt, kann man die Gründe meist gut nachvollziehen.

Die Initianten betonen immer wieder, dass es in der Schweiz lange Zeit gut geklappt habe mit der Auslegung von internationalem Recht, das in Konflikt zu nationalem Recht steht. Bis es dann 2012 zum Sündenfall gekommen sei durch einen Bundesgerichtsentscheid, der die Ausschaffung eines Mazedoniers verhindert habe.

Zuerst muss ich festhalten: Die Schweiz hat sehr wenige Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof erlebt. Das passiert rund ein- oder zweimal pro Jahr. Die Fälle, die am meisten stören, sind die ausländerrechtlichen Urteile, aber auch dort geht es nur um einen ganz kleinen Anteil. Die SVP kommt nun mit ihrer Rasenmäherinitiative und will wegen dieser ausländerrechtlichen Fälle, die sie stören – und die zum Teil auch mich stören – das Kind mit dem Bade ausschütten. Ich nehme diese wenigen Einzelfälle, die man nicht aufbauschen darf, in Kauf. Der Grundrechtsschutz der EMRK, der sich auf Ausländer bezieht, betrifft nur einen sehr kleinen Teil der EMRK-Garantien. Für mich stehen die EMRK-Garantien, welche die Inländer, die Schweizerinnen und Schweizer, in umfassender Weise schützen, klar im Vordergrund.

Aber die Feststellung der Initianten, dass es Konflikte zwischen internationalem Recht und nationalem Recht gibt, trifft doch durchaus zu?

Ja, aber das können Sie nicht vermeiden. Das gehört zu unserem Rechtssystem und macht den Weg frei für fallbezogen angemessene und flexible Lösungen. Mit starren Normen kann man diese Pro-blematik nicht auffangen. Hinter jedem Fall steht eine in ihrer Rechtsstellung betroffene konkrete Person, die eine gerechte Lösung ihrer zum Teil unverschuldet entstandenen Probleme anstrebt. Es geht oft um bedauernswerte persönliche Schicksale. Das Bundesgericht gibt im Übrigen nur selten internationalem Recht den Vorrang, und dies grundsätzlich nur im Bereich der Menschenrechte. Bemerkenswert ist ferner, dass unser Parlament Meister ist in der Schaffung offener Normen, also von Gummiparagrafen. Wenn es keine Einigung herbeiführen kann, schafft es auslegungsbedürftige Normen und schiebt die heissen Kartoffeln den Gerichten zu, welche dann die offenen Fragen klären müssen. Es handelt sich dabei um Begriffe wie «nötigenfalls».

Und dann?

Das Bundesgericht muss unabhängig sein und sich an rechtsstaatliche Grundsätze halten. Es darf sich nicht an Parteiparolen orientieren. Deshalb zieht es, wenn keine innerstaatlichen Referenzpunkte vorhanden sind, für die Auslegung unbestimmter Begriffe mitunter auch internationales Recht bei. Aber es übernimmt dieses nicht einfach. Anders ist es bei den EMRK-Garantien. Sie sind für das Bundesgericht direkt anwendbar und gewährleisten dadurch einen umfassenden Schutz der demokratischen Rechte und der Grundrechte der Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz, insbesondere der Schweizerinnen und Schweizer. Dieser Schutz darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Er kann durch die Bundesverfassung nicht dauerhaft und wirksam genug gewährleistet werden, weil er durch einseitig abgefasste radikale Verfassungsinitiativen empfindlich eingeschränkt werden kann. Die sogenannte Selbstbestimmungs-Initiative, die sich bei Lichte betrachtet als SelbstbeschränkungsInitiative erweist, ist jedoch auf eine Kündigung der EMRK ausgerichtet. In dieser gefährlichen Zielsetzung der Initiative liegt für mich der Hauptgrund, sie zur Ablehnung zu empfehlen.

 

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Kommentare (2)

Regina Abt Di 20.11.2018 - 20:02

Wir brauchen also fremde Richter, weil es sonst in der Schweiz drunter und drüber gehen könnte! Warum sind wir dann in der ganzen Welt als Hort der Rechtssicherheit, als Paradies des Friedens und des Wohlstandes bekannt?

Hugo Bosshart Di 06.11.2018 - 20:51

Da müsste sogar die SN ob ihrer Abstimmungsempfehlung ins Grübeln kommen?!

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