«Ausländer nicht wie Feinde behandeln»

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Er gilt als Doyen der Schweizer Politik: Der 91-jährige Helmut Hubacher frage sich manchmal, ob er im Alter nach rechts gerückt sei. «Ich behaupte Nein», sagt er im Interview. Er sei weder radikaler noch milde geworden. Bild: Selwyn Hoffmann

Kritik, die SP sei Opfer ihres eigenen Erfolges geworden, lässt ihr ehemaliger Parteipräsident nicht gelten: Das Erreichte müsse verteidigt werden, sagt Helmut Hubacher. Und er erzählt, warum er Kolumnen für das Blocher-Blatt «Basler Zeitung» schreibt.

 

von Anna Kappeler und Janosch Tröhler

Die SP hat sich von einer Arbeiter- zu einer Akademikerpartei gewandelt. Herr Hubacher, wofür steht die SP heute überhaupt noch?

Helmut Hubacher: Immer noch für dasselbe – für mehr Solidarität und Gerechtigkeit. Manchmal meint man, das sei nicht mehr nötig. Seit 1989 haben die 300 Reichsten im Land ihr Vermögen versiebenfacht. Ein Prozent hat mehr Vermögen als die restlichen 99. Der deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf hat gesagt, das 20. Jahrhundert sei das sozialdemokratische Jahrhundert gewesen – nun sei der Auftrag erfüllt. Das stimmt überhaupt nicht. Es geht darum, das Erreichte zu verteidigen. Es gibt noch viel Arbeit für eine soziale Partei. Das zeigt sich aktuell auch an der Abstimmung über die Renten­reform 2020.

Viele Arbeiter wählen heute SVP. Ist die SP Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden, weil ihre grössten Forderungen erfüllt wurden?

Die SP wurde nach der 68er-Bewegung von einer Arbeiter- zu einer linken Volkspartei. Die 68er haben die Frauen und neue Berufsgruppen in die SP gebracht. Das brauchte die Partei auch, sonst wären wir ei- ne Randerscheinung geblieben, die eher ins Museum gehört als ins Bundeshaus.

Letztes Jahr stellte die SP ihr Wirtschaftspapier vor. Ein liberaler Flügel war damit nicht einverstanden und gründete eine eigene Plattform für die Wirtschaftsliberalen innerhalb der SP. Muss sich die Partei gegen die Mitte öffnen?

Im Parteiprogramm steht immer noch «Überwindung des Kapitalismus». Das kommt ja nicht so gut an. Die einen sagen, es sei eine Illusion. Der eher rechte Bundeskanzler Helmut Schmidt sprach immer von «Raubtierkapitalismus». Der Bruch kommt für mich mit diesem Raubtierkapitalismus, der es fertigbringt, dass die sieben reichsten Männer gleich viel Vermögen haben wie die untersten 2,5 Milliarden der Weltbevölkerung. Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Die Schwierigkeit für die SP ist eine Wirtschaftspolitik, die vom Volk akzeptiert wird. Mit der sozialen Marktwirtschaft könnte ich leben.

Ist der Slogan «Überwindung des ­Kapitalismus» noch zeitgemäss?

Hubacher: Eine Partei braucht eine Vision. Helmut Schmidt sagte, wer Visionen habe, gehöre ins Spital. David Ben-Gurion sagte es anders: Die Utopie von heute ist die Realität von morgen. Die SP macht Politik gegen das kapitalistische System. Das ist der Kern einer Linkspartei. Aber gleichzeitig gibt es die Tagespolitik, und die ist nicht visionär. Dort ist die SP die Rotkreuz­kolonne, die den Kapitalismus sozial verträglicher machen will.

Im Bereich der Ausländerthematik agiert die SVP, während die SP nur zu reagieren scheint. Hat die SP den Puls der einfachen Bürger verloren?

Ja, das ist ein Problem. Wir werden ständig damit konfrontiert, auch wenn es gerade jetzt etwas ruhiger ist diesbezüglich. Aber: Wir sind hier nicht passiv. Doch wir können und wollen keine SVP-Politik machen und die Ausländer wie Feinde behandeln.

hubacher

Sie müssten das Feld ja gleichwohl nicht völlig der Rechten überlassen.

1970 sagten schon unglaubliche 46 Prozent Ja zur Schwarzenbach-Initiative. Damals kam einmal ein 63-jähriger Arbeiter zu mir und beklagte sich darüber, dass der 21-jährige Sizilianer ohne Schulbildung mehr verdiene als er. Da sagte ich ihm, dass sein Arbeitgeber ein – Entschuldigung – Sauhund sei. Nur: Er war gar nicht auf den Arbeitgeber wütend, sondern auf den Ausländer, der in der Akkordarbeit dem Alten überlegen war. Wenn er nun deshalb rechts wählt, ist es schwierig, dem politisch etwas entgegenzusetzen.

Wird sich die SP künftig vermehrt mit Ausländerthemen beschäftigen?

Das machen wir bereits – das ist ein ewiges Thema.

Naja, es hat schon noch etwas Luft nach oben.

(wird laut) Wir können die Ausländerfrage nicht lösen! Die Wirtschaft braucht offenbar Ausländer. Nun jammert sie ja bereits wieder, dass seit der Masseneinwanderungs-Initiative weniger Arbeitskräfte aus dem Ausland kommen. Plötzlich heisst es überall, von Chemie bis Pharma, es herrsche ein Fachkräftemangel. Unsere Position ist: Wir machen keine Anti-Wirtschafts-Politik. Deshalb haben die Gewerkschaften bei der Personenfreizügigkeit flankierende Massnahmen verlangt. Es braucht doch auch eine Partei, welche die Ausländer – die wie gesagt nicht wir holen, sondern die Wirtschaft – anständig behandelt, wenn sie denn schon einmal hier sind.

Gehen wir einen Schritt weiter: Am 24. September kommt die Renten­reform 2020 vors Volk. Die AHV ist ein urlinkes Anliegen, diese Vorlage vor allem ein grosser Kompromiss. Was halten Sie davon?

Am 2. Februar 2000 wurde die Botschaft der 11. AHV-Revision vom Bundesrat verabschiedet, geschrieben noch von Ruth Dreifuss. Darüber stimmen wir jetzt ab.

17 Jahre später ...

... gelang endlich eine Lösung. Und ja, es ist ein Kompromiss, der nie alle Probleme löst. Wie die Gegner die Vorlage jetzt aber schlechtmachen, ist völlig übertrieben. Wenn man sich die Breite der Verbände ansieht, die dafür sind, kann der Kompromiss nicht so schlecht sein. Es gibt einfach keinen besseren. Zwar löst dieser Kompromiss das Problem nur bis 2030 – aber man weiss ja, dass die grosse Revision jetzt schon aufgegleist werden muss. Das ist Schweizer Politik.

Wir schinden also einfach Zeit.

Die freisinnigen Bundesräte haben zehn Jahre «vertublet». Und jetzt haben wir einen Kompromiss mit breiter Unterstützung, von Leuten mit Verantwortung, von Menschen, die nicht blöd sind. Das Bessere ist der Feind des Guten. Aber niemand hat einen Plan B, weder die FDP noch die Wirtschaft.

Gerade linke Frauen bestanden darauf: «Solange es nicht den gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt, arbeiten wir nicht gleich lange.» Gibt die Linke hier nicht einen Trumpf aus der Hand?

In den ersten Jahren lag das AHV-Alter für Mann und Frau bei 65 Jahren. Dann hat der «AHV-Bundesrat» Hans-Peter Tschudi gesehen, dass die Frauen stark benachteiligt sind. Eine Ehefrau hat keine Rente erhalten, heute haben meine Frau Gret und ich je die Hälfte. Als Gret eine Beiz aufmachte, musste ich bei der Bank unterschreiben, damit sie ein eigenes Bankkonto bekam. Wegen dieser Benachteiligungen hat Tschudi dann das Rentenalter für Frauen auf 62 gesenkt. Von der heutigen Lebenserwartung her ist aber nichts mehr dagegen einzuwenden, dass es bei beiden auf 65 Jahre festgesetzt wird.

Einverstanden. Aber bei der Lohngleichheit hapert’s noch immer.

Die AHV kann das Problem der Gleichberechtigung beim Lohn nicht lösen. Das ist etwas ganz anderes. Bei der AHV ist das gleiche Alter für Mann und Frau für mich kein Pro­blem mehr.

Nächste Woche wird wieder ein Bundesrat gewählt. Sie sagten mal, Ihre grösste Niederlage sei die Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen gewesen. Wie wichtig ist die Frauenfrage aktuell?

Die Frauenfrage ist für mich kein Thema mehr. Entscheidend ist die Qualifikation, nicht das Geschlecht. Wir hatten für kurze Zeit vier Bundesrätinnen. Und das Land hat es überlebt. Es könnten von mir aus auch fünf sein. Die Frage ist eher: Kann der Tessin erneut desavouiert werden? Staatspolitisch wäre der Tessiner gesetzt und nicht der Romand – ob Frau oder Mann spielt da keine Rolle. Die Tessiner FDP hat einen Fehler begangen, als sie kein Zweier­ticket mit Laura Sadis vorgeschlagen hat. Das war einfach arrogant von den Tessinern. Vogel friss oder stirb – Cassis und keinen anderen.

Wie schätzen Sie Cassis ein?

Ich kenne ihn nicht. Der Spannendste wäre Pierre Maudet aus Genf. Ein welscher Freisinniger, der in einem Interview sagt, die Armee könne die Schweiz nicht mehr verteidigen. Das traut sich nicht mal ein SPler zu sagen. Das ist ein ganz interessanter Typ.

Sie sind jetzt 91 Jahre alt und streiten immer noch gerne. Keine Spur von ­Altersmilde?

Es gibt eine Altersradikalität und eine Altersmilde. Als ich in Basel bei den Grauen Panthern referierte, hat mich ein 70-Jähriger links überholt. Manchmal frage ich mich, ob ich so nach rechts gerutscht bin. Ich behaupte Nein. Ich bin weder radikaler noch milde geworden. Politik ist mein Leben, das ist immer noch so. Das Parteipräsidium war für mich das schönste Amt. Politisieren ist wie die Tour de France: Ob im Maillot jaune oder zuhinterst, alle fahren gleich viele Kilometer. Aber vorn fährt es sich viel leichter. Wer vorn in der Politik dabei ist, kann mehr bewirken.

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Wir halten fest: Sie sind nicht nach rechts gerutscht. Aber Sie schreiben eine Kolumne in Blochers «Basler ­Zeitung».

Solange ich schreiben kann, was ich will ... Am letzten Samstag hat Markus Somm im Leitartikel die AHV-Reform von Berset zerfetzt. In der gleichen Ausgabe habe ich das Gegenteil geschrieben(lacht). Als Typ ist Somm spannend, wir kommen blendend aus. Wir streiten gerne, er braucht das. Er ist wie Blocher: Der kann ohne Feind gar nicht leben.

Apropos Blocher: Rechte Politiker sind in Interviews oft lockerer, Linke eher argwöhnischer. Ihr langjähriger Begleiter Jean Ziegler sagte, Sie seien links und fröhlich. Wie kommt’s?

Ich halte mich an das Motto von Willi Ritschard: «Ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Und weil ich ein schlechtes Gedächtnis habe, kann ich nicht lügen. Ich wüsste nämlich nicht mehr, was ich vor drei Wochen gelogen habe.» Also sag, was du denkst, so kann niemand spotten: «Hubacher, vor einem halben Jahr hast du das Gegenteil gesagt.»

 

 

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