Ihr Herz schlug kurz, aber sie atmete nicht und starb

Andrea Tedeschi | 
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Täglich gebärt eine Frau in der Schweiz ein totes Kind, aber nicht jede werdende Mutter hat dieselben Rechte. Bild: Roberta Fele

Jede fünfte Schwangerschaft in der Schweiz endet mit einer Fehlgeburt, täglich gebärt eine Frau ein totes Kind. Anne Catherine Baudin erlebte beides. Weil sie ihre Kinder vor dem sechsten Monat verlor, hatte sie nicht dieselben Rechte wie später werdende Mütter. Nun reagiert die Politik.

Vor elf Jahren brachte Anne Catherine Baudin ein Kind zur Welt, das zwei Stunden nach der Geburt starb. Die Hebamme wickelte das Kind in ein weisses Tuch und übergab es ihr. Baudin sah ihm nicht ins Gesicht. Als wolle sie den Tod nicht wahrhaben.

Nur eine Woche zuvor hatte nichts auf das abrupte Ende im fünften Schwangerschaftsmonat hingewiesen. Jede Untersuchung bestätigte, dass das Ehepaar eine gesunde Tochter erwartete. Sang Baudin ihr was vor oder drehte die Musik auf, bewegte sie sich. Auch die Länge der Nackenfalte wies auf keine Missbildung hin.

«Wenn Eltern ihr ungeborenes Kind verlieren, soll man sie für diesen Verlust nicht noch unnötig bestrafen.»

Hannes Germann, SVP-Ständerat (SH)

Dachte Baudin an ihre früheren Fehlgeburten, zweifelte sie jedoch, dass ihrer Tochter im fünften Monat keine Gefahr mehr drohte. Ungute Gefühle bewogen das Paar in der 20. Schwangerschaftswoche, einen Ultraschall-Spezialarzt aufzusuchen. Sie sahen es in seinem Gesicht, dass etwas nicht stimmte. Die Nachricht war ein Schock: Ihre Tochter litt an Trisomie 18, eine Chromosomenstörung. Das Gehirn war unterentwickelt, dem Herz fehlte eine Kammer. Sie würde die Geburt nicht überleben. Sollte Baudin ihr Kind normal im 10. Monat austragen oder die Schwangerschaft sofort beenden? Nach vier Tagen entschied sich das Paar für den Abbruch.

Anlaufstellen für Betroffene

Es ist ein warmer Sommertag im Juli, als sich die 47-Jährige erinnert. Sie wirkt gelassen und zugleich bestimmt. Sie scheint das Erlebte hinter sich gelassen, aber nicht vergessen zu haben. Tage zuvor hat die ständerätliche Gesundheitskommission den Bundesrat einstimmig beauftragt, einen bezahlten Urlaub nach einer Fehl- oder Totgeburt vor der 23. Schwangerschaftswoche zu prüfen. Sie reagiert auf eine Tessiner Standesinitiative, die für Betroffene einen bis drei Urlaubstage fordert. Doch die Kommission will das Thema nicht bloss auf einen Urlaub reduzieren.

«Ich war anderen Müttern mit demselben Schicksal nicht gleichgestellt, wegen drei Wochen.»

Anne Catherine Baudin, Mutter

Die rechtliche Situation sei heute zu starr, findet der Mitte-Ständerat Erich Ettlin (OW), der die Kommission präsidiert. Aber es brauche zuerst eine vertiefte Analyse, wo rechtliche Lücken bestünden, zu den Kosten und ab wann es sinnvoll sei, dass betroffene Frauen Ansprüche geltend machen könnten. Auch Baudin sagt: «Es geht bei betroffenen Frauen um mehr als bloss um ein paar Urlaubstage mehr.»

Geburt, aber kein Mutterschutz

Jede vierte bis fünfte Schwangerschaft endet vor der 23. Woche. Laut Fachleuten gibt es in der Schweiz pro Jahr 20 000 Fehlgeburten. Von 1000 Kindern kommt jedes vierte Kind nach der 23. Schwangerschaftswoche tot zur Welt. Die Zahl dürfte jedoch grösser sein. Bis zur 23. Woche werden Totgeburten statistisch nicht erfasst. Auch haben werdende Mütter nicht dieselben Rechte wie jene, die ab der 23. Woche gebären. Sie haben keinen Mutterschaftsurlaub, sind bei Lohnausfall nicht voll entschädigt und gegen Kündigungen nicht geschützt.

Zu Unrecht, findet Baudin. Sie engagiert sich mit anderen Betroffenen für eine bessere Anerkennung. Sie sagt, nicht jede Fehl- oder Totgeburt laufe komplikationsfrei ab und gefühlslos schon gar nicht. Je länger die Schwangerschaft dauert und je grösser das Kind ist, desto grösser ist die Bindung der Mutter zum ungeborenen Kind. Ab der 23. Woche sei ein Kind lebensfähig, wenn es 500 Gramm wiegt, heisst es. Aber die Hälfte der Frühgeburten überleben laut Fachleuten nicht.

Baudin fühlte sich unfähig, natürlich zu gebären, wie es Hebammen empfehlen. Das Risiko sei kleiner für Gebärende, sagen sie. Auch sei es für die Trauerbewältigung besser, langsam Abschied zu nehmen. Héloïse Fleur kam in der 20. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt zur Welt. Sie war 20 Zentimeter gross, wog 200 Gramm. Ihr Herz schlug kurz, aber sie atmete nicht und starb.

Baudin blieb drei im Tage Spital, der Schnitt musste heilen, die Gebärmutter sich senken. Da waren aber auch ihr damals 3-jähriger Sohn, der ihre ungeteilte Zuneigung wollte und zugleich die tiefe Traurigkeit, die sich wie eine Decke über die Familie legte. Sie sei körperlich und psychisch ausser Stande gewesen, gleich wieder zu arbeiten, sagt Baudin.

Vor 100 Jahren war es nicht ungewöhnlich, wenn ein Kind vor oder bei der Geburt starb. Der Schmerz ist derselbe geblieben, aber die Situation der Frauen ist eine andere. Während sie sich früher meist um den Haushalt kümmerten, sind inzwischen knapp 90 Prozent im gebärfähigen Alter berufstätig. Diese Realität bildet das Gesetz jedoch nicht ab.

Baudin hatte vor elf Jahren zwar normal geboren. Für sie galt das Arbeitsverbot aber nicht wie nach einer Geburt üblich. Auch hatte sie rechtlich keinen Anspruch auf vollen Lohn. Ihr Arzt schrieb Baudin während acht Wochen krank, wie so oft bei Frauen nach einer Totgeburt vor der 23. Woche. Da sie erst ein Jahr bei ihrem Arbeitgeber war, hatte sie jedoch keinen Kündigungsschutz. Er hätte sie theoretisch nach drei Wochen entlassen können. Obwohl sie nichts zu befürchten hatte und den vollen Lohn bekam, ärgert sie die Ungleichbehandlung, die unverändert geblieben ist: «Ich war anderen Müttern mit demselben Schicksal nicht gleichgestellt, wegen drei Wochen.»

Auch Fehlgeburten können Frauen arbeitsunfähig machen. Baudin hatte zuvor drei Fehlgeburten in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen erlitten. Eine nur Tage bevor sie einen neuen Job hätte antreten sollen. Baudin musste den Fötus operativ entfernen lassen, pausierte aber nicht. Man trete nicht eine Stelle an, sagt sie, und lasse sich gleich krankschreiben.

Ein halbes Jahr später folgte eine weitere Fehlgeburt. Erneut musste sie den Fötus ausschaben lassen, diesmal unter Vollnarkose. Sie blieb wenige Tage zu Hause, aber weniger lang als erforderlich gewesen wäre. Es habe pressiert ins Büro zurückzukehren, sagt Baudin. Sie habe nicht sagen wollen, was ihr passiert sei.

Hier wären zwei Wochen ideal gewesen, bis der Körper sich habe umstellen können, sagt sie. Nach einer Geburt ab der 13. Schwangerschaftswoche fände sie einen Mutterschutz von mindestens acht Wochen angemessen. «Im Rückblick hätte ich mir mehr Zeit nehmen müssen, um all die Verluste zu verarbeiten. Auch bei einer Fehlgeburt verliert man ein Kind, dessen Hände und Füsse im Ultraschall sichtbar sind.»

Politik hat Problem erkannt

Politisch fordert Links-Grün in Vorstössen seit Jahren, dass Frauen wie Baudin als werdende Mütter anerkennt werden. Auch Irène Kälin, Grüne-Nationalrätin (AG), engagiert sich im Vorstand der Fachstelle Kindsverlust, dass diese Frauen dieselben Rechte erhalten. Die Ungleichheit, sagt sie, stürze die Frauen in ein unnötiges Dilemma. «Zwar ist die körperliche Regeneration wohl in vielen Fällen kürzer, aber die Frauen müssen eine Trauer bewältigen.»

Eine Tot- und Fehlgeburt könne eine Krise und einen Vertrauensverlust in den Körper auslösen, sagt Sarah Pietsch, seit 25 Jahren Hebamme im Thurgau. «Die Frauen haben nichts falsch gemacht, aber ihr Kind dennoch verloren.» Dabei komme es nicht darauf an, ob dies in der 12. oder 36. Schwangerschaftswoche passiere. «Der Verlust trifft zwar jede Frau anders, aber es bleibt ein tiefer Einschnitt.»

Trauer ist ein Prozess. Der Schmerz verändert sich mit der Zeit. Nicht immer lässt er sich überwinden. Was so schwer zu ertragen ist: dass die Geburt mit dem Tod zusammenfällt. Zurück bleiben Erinnerungen an ein Kind, mit denen Eltern nie gespielt oder gelacht haben. Und unbeantwortete Fragen: Wie wäre es für ein Kind geworden? Wie hätte er wohl ausgesehen? Was hätte sie aus ihren Leben gemacht?

Dass es für betroffene Frauen eine Gesetzesänderung braucht, ist inzwischen auch im bürgerlichen Lager unbestritten. «Es ist eine Vorlage, gegen die Einzelne nicht sein können», sagt Mitte-Ständerat Erich Ettlin (OW). Auch sein Kollege, SVP-Ständerat Hannes Germann (SH), sagt: «Der Handlungsbedarf ist für mich gegeben. Wenn Eltern ihr ungeborenes Kind verlieren, soll man sie für diesen Verlust nicht noch unnötig bestrafen.»

Umstritten bleibt jedoch, ab wann die Leistungen für Fehl- und Totgeburten gelten sollen. Ab dem ersten Ultraschall oder früher? Germann sagt: «Das soll der Bundesrat nun aufzeigen.» Ettlin verweist ebenfalls auf den Bericht des Bundesrats: «Wir erwarten, dass er uns auf Lücken hinweist und auch Lösungen aus dem Ausland präsentiert.» Kälin dagegen fordert, dass die Leistungen ab dem ersten Tag der Schwangerschaft gelten sollen und diese von Kosten befreit sind. «Tot- und Fehlgeburten sind in der Gesellschaft auch deshalb ein Tabu, weil das Gesetz werdende Mütter nicht ab dem ersten Tag anerkennt.»

Forderung nach Enttabuisierung

Obwohl viele Frauen dieselbe Erfahrung machen, ist eine zurückhaltende Haltung im Umgang mit Fehl- und Totgeburten in der Gesellschaft spürbar. Menschen seien damit überfordert und wichen lieber aus, sagt die Hebamme Sarah Pietsch.

Auch im Gesetz trifft man auf Ablehnung. Frauen sind rechtlich nicht Mutter geworden und ihre Kinder existieren offiziell nur deshalb nicht, weil diese vor der 23. Schwangerschaftswoche tot zur Welt gekommen sind und weniger als 500 Gramm wiegten. Inzwischen weiss man: Damit nimmt man Eltern die Möglichkeit zu trauern. Erst seit vier Jahren können Betroffene die Existenz ihrer tot geborenen Kinder beurkunden lassen. Auch haben einige Kantone wie Schaffhausen, Basel-Stadt oder Zürich, oft auf Initiative von Fachleuten und Betroffenen, sogenannte Sternengräber geschaffen, damit Eltern die Kinder zumindest in einem Gemeinschaftsgrab beerdigen können.

«Die Frage ist, wann das Leben anfängt: bei der Zeugung oder sobald eine Frau das Kind spürt und ab wann die Gesellschaft das Elternsein anerkennt», sagt die Hebamme Sarah Pietsch. Es ist eine Frage, die politisch und im Hinblick auf rechtliche Anerkennung relevant ist.

Denn die Krankenkassen bezahlen bis zur 13. Schwangerschaftswoche keine operativen Eingriffe wie eine Curetage, obwohl Fehlgeburten im ersten Drittel der Schwangerschaft häufig vorkommen und nicht jede Fehlgeburt mit einer Abbruchblutung beendet ist. «Dabei ist es gängig, dass der Körper in diesem Zeitraum häufig abstösst, was sich nicht gut entwickeln kann», sagt Pietsch. Werdenden Müttern werde deshalb noch immer geraten, die ersten drei Monate nicht über ihre Schwangerschaft zu reden.

Anne Catherin Baudin glaubt, dass dieses Schweigen die Tabuisierung fördere. «Solange Fehl- und Totgeburten verborgen bleiben und die Politik nicht alle werdenden Mütter rechtlich anerkennt, wird sich wenig ändern.» Sie hat nach ihrer tot geborenen Tochter einen gesunden Sohn bekommen. Für andere Frauen hofft sie nun auf den Bundesrat und das Parlament. Die Grüne-Nationalrätin Kälin ist jedoch skeptisch. Sie begrüsst zwar, dass der Ständerat erste Schritte für eine Gesetzesänderung angeschoben hat. Aber sie ist Realistin genug, um zu wissen, dass der politische Wille oft an der Finanzierung scheitert. Sie sagt: «Frauenthemen haben es politisch ohnehin schwer. Und mit dem generellen Spardruck dürfte es nicht einfacher werden.»

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