Wenn Eltern eine Pause vom Pflegen brauchen

Elena Stojkova | 
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Praviya und Mathursan beim Malen in der WG Kunterbunt auf der Breite in Schaffhausen. Im Hintergrund spielt Pascal. Bild: Melanie Duchene

Erstmals konnten Eltern in Schaffhausen ihre pflegebedürftigen Kinder ein Wochenende lang in die Obhut von Pflegefachfrauen der Stiftung Joël Kinderspitex geben. Ein schlechtes Gewissen habe sie dabei gehabt, sagt eine Mutter. Aber die Erholung habe sie dringend gebraucht.

Ein ganzes Wochenende ohne ihren Sohn Pascal. Das gibt es für Tabea Toupal und ihren Mann sonst eigentlich nicht. «Wir sind es nicht gewohnt, ihn wegzugeben», sagt Pascals Mutter. «Wir hatten ein schlechtes Gewissen. Ein schlechtes Gefühl.» Aber sie stiegen trotzdem ins Auto und fuhren von ihrem Heimatort Bellikon nach Schaffhausen. Denn hier bot die Kinderspitex vor ein paar Tagen erstmals ein Entlastungswochenende für Eltern an. Von Freitagabend bis Sonntagabend konnte das Paar sein Kind in die Obhut von Pflegefachfrauen geben – und sich erholen.

Pascal ist 12 Jahre alt. Er ist Autist und hat eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). «Er ist ein Kleinkind in einem grossen Körper», sagt Toupal. Was andere als alltägliche, einfache Handlungen bezeichnen würden, laufe für die Familie etwas anders ab. Beispielsweise das Morgenritual: «Ich bin morgens etwa eineinhalb Stunden beschäftigt, bevor es für Pascal zur Sonderschule und für mich zur Arbeit geht.» Aufstehen, anziehen, Zähne putzen, essen – das braucht viel Zeit, denn Pascal lässt sich sehr schnell ablenken. «Man muss ihm immer hinterher», sagt seine Mutter liebevoll und lächelt. «Er ist einmalig. Ein Goldschatz.»

Schwer sei es anfangs gewesen, einzugestehen, dass sie als Eltern bei der Betreuung ihres Kindes Hilfe brauchen. Aber das Leben der Familie sei nun einmal stressig. «Man muss als Mutter oder Vater eines Kindes mit Beeinträchtigung sehr behutsam sein», sagt Tabea Toupal. «Wir sind für die Betreuung nicht geschult.» Man wachse zwar mit jeder Aufgabe, die das familiäre Zusammenleben mit sich bringt. «Aber man darf ruhig Hilfe annehmen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke.»

Durch Spenden möglich

Bis Tabea Toupal an diesen Punkt kam, brauchte es Zeit. Zu Beginn wusste sie gar nicht, welche Angebote es für sie gibt – und welche Hilfe ihr zusteht. Wenn sie Pascal gerade nicht betreut, arbeitet sie im 80-Prozent-Pensum. Das sei neben der Betreuung eines Kindes mit speziellen Bedürfnissen viel. Aber finanziell würde es sonst nicht aufgehen, sagt sie.

Evelyn Eichmann
«Viele Eltern sind erschöpft und kommen an ihre Grenzen.»
Evelyn Eichmann, Stv. Regionalleiterin SH/ZH/ZG Stiftung Joël Kinderspitex

Ein Teil des Entlastungswochenendes wird über die Krankenkasse und die Invalidenversicherung abgerechnet, wie Evelyn Eichmann sagt. Sie ist stellvertretende Regionalleiterin Schaffhausen/Zürich/Zug bei der privaten Stiftung Joël Kinderspitex Schweiz, der grössten Kinderspitex des Landes. Eltern können einen Beitrag zahlen, der ihnen möglich ist. Vor allem aber erlauben Spenden das Entlastungswochenende – die WG Kunterbunt. Das Wochenende fand in den Räumlichkeiten des Internats der Schaffhauser Sonderschulen auf der Breite statt. Von volleingerichteten Zimmern inklusive Pflegebetten über Spielsachen und einen Garten gebe es dort alles, was man für die Betreuung der Kinder brauche, sagt Eichmann. Die Zusammenarbeit mit den Sonderschulen sei unkompliziert, das erste Entlastungswochenende in Schaffhausen sei absolut gelungen. Ziel ist, das Angebot weiterzuführen, hier und auch in anderen Regionen. «Vier bis sechs solche Wochenenden im Jahr wären schön.» Aber dafür braucht es weitere Spendengelder.

Keine Zeit für Erholung

Nutzen können das Angebot Eltern, deren Kinder von der Stiftung Joël Kinderspitex gepflegt werden. Das wären allein im Raum Schaffhausen Dutzende: mit körperlichen und geistigen Behinderungen, Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, chronischen Krankheiten. Und der Bedarf sei da, sagt Eichmann. Das weiss sie aus vielen Gesprächen. «Viele Eltern sind erschöpft und kommen an ihre Grenzen.» Zum Erholen reicht es oft nicht.

Gemischte Gefühle

Vergangenes Wochenende betreuten die ausgebildeten Pflegefachfrauen in der WG Kunterbunt vier Kinder im Alter zwischen 5 und 16 Jahren. Die Pflegenden arbeiten im Dreischichtbetrieb. Wie viele es für ein solches Wochenende braucht, müsse jedes Mal aufs Neue beurteilt werden, sagt Eichmann, das sei abhängig von der Anzahl Kinder und deren Bedürfnissen. Dieses Wochenende sei gebastelt und gekocht worden, ausserdem haben die Pflegefachfrauen Brett- und Ballspiele mit den Kindern gespielt und kleine Ausflüge zu einem Tiergehege in der Nähe gemacht. Die Pflege – baden, Verbandswechsel, Vitalwertüberwachung, Medikamentenverabreichung – gehört auch dazu. Das Team sei mit gemischten Gefühlen ins Wochenende gestartet, aber mit sehr positiven Gefühlen wieder nach Hause gegangen. «Die Eltern haben uns sehr viel Vertrauen geschenkt. Sie hatten zwar ein schlechtes Gewissen, ihr Kind abzugeben, aber waren dankbar um die Erholung.»

Das bestätigt Tabea Toupal. Mit ihrem Ehemann war sie wellnessen. «Es war erholsam. Wir haben das dringend gebraucht», sagt sie. «Es ist notwendig, dass man sich Erholung gönnt. Sonst bricht man irgendwann zusammen.» Zwar sei sie die erste Nacht ohne Pascal in der Nähe angespannt gewesen. Doch nach einem Telefonat am Samstag merkte sie: Es geht ihm gut, denn er wollte lieber spielen, als mit ihr telefonieren. «Er ist immer sehr ehrlich», sagt sie und lacht. Das Angebot des Entlastungswochenendes würde sie gern wieder in Anspruch nehmen. Ihre Seele, sagt sie, sei nun wieder mehr im Gleichgewicht. «Und mein Sohn hatte viel Spass.»

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