Nach Ausreisser-Fall im Klettgau: Warum laufen Jugendliche von zu Hause weg? Ein Sozialpädagoge erklärt

Kay Fehr | 
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Vier Jugendliche sind von zuhause abgehauen. Ein Sozialpädagoge erklärt die möglichen Gründe und was Eltern vorbeugend tun können. Symbolbild: Melanie Duchene

Nachdem die vier vermissten Jugendlichen aus dem Klettgau wieder aufgetaucht sind, sollen sie jetzt nicht mehr im Rampenlicht stehen, sagt Sozialpädagoge Markus Eichenberger. Er rät Eltern und Kindern, was sie tun können, damit es gar nicht erst so weit kommt.

Gross war die Erleichterung, als die vier ausgebüxten Jugendlichen aus dem Klettgau am vergangenen Sonntagabend wieder aufgetaucht sind.

Dass Kinder oder Jugendliche von Zuhause weglaufen, ist an sich kein neues Phänomen. Es gelte aber zu unterscheiden, ob sie einfach mal kurz Abstand bräuchten und eine Nacht im Zelt im Garten oder im Estrich verbrächten oder schwierigen Situationen ausweichen wollten, sagt Sozialpädagoge Markus Eichenberger.

Seit Jahrzehnten ist er in der pädagogischen Arbeit tätig und am Puls der jungen Generationen. Ein koordiniertes Ausbüxen wie in diesem Fall komme nicht so oft vor. «Die Beweggründe der vier Jugendlichen können von aussen kaum beurteilt werden. Man sollte nicht darüber spekulieren», so Eichenberger. Stattdessen sei wichtig, dass sie Unterstützung erhalten. «Je grösser die Aufmerksamkeit, desto schwieriger wird es für sie, zurück zur Normalität zu finden.»

Dabei könne ein klares Ziel vor Augen helfen, der Sozialpädagoge nennt das einen «Leuchtturm»: beispielsweise der erfolgreiche Schulabschluss und der Start einer Lehre. «Die Ausreisser haben einen kleinen Umweg eingelegt, aber der ‹Leuchtturm› sollte jetzt wieder in den Fokus rücken.»

Eskalation verhindern

Solch einer Situation im Vorfeld entgegenwirken können Eltern, Lehrpersonen und auch die Kinder selbst, sagt Eichenberger. «Respektspersonen sollen Kindern mit Interesse, Anerkennung und Wertschätzung begegnen und so ihr Selbstvertrauen und ihre soziale Kompetenz stärken.» Diese fühlen sich dadurch verstanden und wahrgenommen – auch in schwierigen Situationen. «Kinder und Jugendliche müssen lernen, ihre Emotionen zu kanalisieren und sie auf eine konstruktive Art zum Ausdruck zu bringen», so Eichenberger. Zu diesem Zweck habe man früher draussen ein Lagerfeuer gemacht oder eine Hütte gebaut – etwas in der Natur erlebt. «Das ist heute weniger der Fall.»

Ein Stichwort sei für Eltern speziell wichtig: «wachsame Sorge». Der vom israelischen Psychologen Haim Omer geprägte Begriff meint eine klare Haltung der Eltern, die auf die Bedürfnisse der Kinder Rücksicht nimmt und zeitgleich als fester Anker dient. «Eltern sollen nicht Macht ausüben, sondern innere Stärke zeigen, ein stabiler und sicherer Ort für ihre Kinder sein», sagt Eichenberger.

«Eltern sollen nicht Macht ausüben, sondern innere Stärke zeigen.»

Markus Eichenberger, Sozialpädagoge

Dem Nachwuchs soll Spielraum gewährt werden; zeitgleich ist die «Ankerkette» zu spüren. «Das Zuhause und die Schule sollten sichere Orte sein, wo das Kind gerne ist. Ausprobieren und Fehler machen müssen erlaubt sein.» Auch die Kommunikation untereinander spielt eine Rolle. «Eltern sollen sich bewusst Zeit fürs Kind nehmen und ihm zuhören», so Eichenberger.

Zeigt der Sprössling eine Verhaltensänderung – zieht sich beispielsweise aus dem sozialen Leben zurück – , sollte man hellhörig werden und nicht zu lange mit einer Intervention warten. Bei verhärteten Fronten sei es schwieriger, die Situation wieder zu entspannen. «Wenn Eltern merken, dass sie selbst nicht stabil sind und in Not kommen, sollten sie sich Unterstützung holen», so der Sozialpädagoge.

Auf der kantonalen Website sind diverse Angebote aufgeschaltet, etwa vom Kinder- und Jugenddienst. «Kinder haben oft einen ‹guten Grund›, warum sie etwas machen. Laufen sie also von Zuhause weg, sollte man versuchen zu verstehen, warum sie das tun und ob man selbst etwas damit zu tun haben könnte», rät Eichenberger. Das gesamte Umfeld trage eine Verantwortung. «Man darf in so einem Fall nicht alles auf die Schultern der Jugendlichen abladen.»

Kinder müssen eigenen Weg gehen

Stehen Kinder oder Jugendliche vor grösseren Problemen, die sich auch nicht im Freundeskreis lösen lassen, können auch sie sich an die entsprechenden Stellen wenden. «Der grösste Teil von ihnen kennt die Angebote, etwa den Flyer der ‹Abteilung Kind Jugend Familie›. Manche brauchen aber einen Anstoss von aussen, dass sie sich Hilfe holen», sagt Eichenberger. Er beobachtet, dass es für Kinder und Jugendliche anspruchsvoller wurde, ihren eigenen Weg zu finden.

«Es gibt eine idealisierte Vorstellung davon, was ‹gut› ist, auch durch die sozialen Medien», so der Pädagoge. «Darum wünsche ich jedem Kind eine gute Widerstandsfähigkeit, auch in anspruchsvollen Situationen bestehen zu können.»

Das macht die Kesb, wenn vermisste Kinder auftauchen

Grundsätzlich sei es so, dass die Polizei sich bei der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) meldet, wenn ihr das Kindeswohl als gefährdet erscheint, erklärt Präsidentin Denise Freitag auf Anfrage.

Die Kesb kläre dann die Lebenssituation ab und trifft, soweit nötig, die erforderlichen Kindesschutzmassnahmen, etwa die Errichtung einer Beistandschaft. Gegebenenfalls bedarf es einer ausserfamiliären Unterbringung, wenn das Kind im Moment nicht mehr nach Hause gehen kann. «Das Ziel ist es, das familiäre System so zu unterstützen, dass das Kind wieder nach Hause gehen kann. Selten ist das nicht möglich», so Freitag.

Eine Zunahme von Fällen, bei denen Kinder weglaufen, könne sie nicht beobachten. Die Präsidentin äussert sich nicht dazu, ob die Kesb in besagtem Fall aktiv wurde.

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