Die Sprache mit dem komischen R

Damiana Mariani | 
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Yaryna (Mitte) widmet sich ihrer Aufgabe. An den freien Unterrichtsstil in Benken musste sie sich erst gewöhnen. Bild: Melanie Duchene

Insgesamt drei ukrainische Schulkinder unterrichtet die Primarschule in Benken derzeit in ihrem Regelunterricht. Die Eingewöhnung fiel nicht allen gleich leicht. Die Trennung von den Freunden, die fremde Sprache und dann ist da auch noch eine völlig andere Unterrichtsform, an die sich die Kinder gewöhnen mussten. Ein Besuch vor Ort.

Da steht: «Ein Glas Milch kaufen. Eine Geschichte erzählen. Eine Blume püken.» Fein säuberlich in Kinderhandschrift notiert. Das Aufgabenblatt ist mit Yarynas Namen beschriftet. Yaryna ist acht Jahre alt und kommt aus der Ukraine. Seit neun Monaten besucht sie die Primarschule in Benken. Sie ist ein aufgewecktes Mädchen mit wachen Augen, die dunkelblonden Haare zu Zöpfen geflochten, so wie es in der Ukraine üblich ist. Wenn sie spricht, tut sie das mit Temperament und Bestimmtheit und ihre Ohrringe mit Herzanhänger baumeln dann.

«Sie ist blitzgescheit», sagt Luzia Lovallo, Primarlehrerin der 3. und 4. Klasse an der Schule Benken. «Meine Befürchtung, sie könne dem Unterricht nicht folgen, hat sich rasch zerschlagen. Im Gegenteil: Ich muss schauen, dass sie sich nicht langweilt.» Dann nämlich würde sich ­Yaryna unaufgefordert anderen Tätigkeiten widmen.

Aller Anfang ist schwer

Es ist 9 Uhr und Lovallo unterricht Religion, Ethik und Kulturen. Sie steht vor der bunt beschrifteten Wandtafel und formuliert für ihre Schüler eine Aufgabe, diese sollen zu bestimmtem Thema Begriffe notieren. «Sind bis hierhin noch Fragen?», erkundigt sie sich. Die seit Mai von der Schule verpflichtete Übersetzerin Anna Schweri wendet sich an Yaryna: «Hast du alles verstanden?», Yaryna nickt und legt los. Ihr grün glitzernder Bleistift hüpft über das Papier. Sie schreibt schnell und dieses Mal fehlerfrei. Später im Kreis prüft die Lehrerin die Antworten der Schülerinnen und Schüler und stellt Fragen. Yaryna ist die Einzige, die sich zu Wort meldet.

Einen Stock höher, in der 5. und 6. Klasse von Jürgen Meurer, ist keine Übersetzerin anwesend. 14 Kinder lösen einen Kriminalfall rund um Falschgeld, auch der 12-jährige Pasha. Die Aufgabe: wild zusammengewürfelte Bilder in die richtige Ordnung bringen. Pasha liest aufmerksam und schluckt dann, er hat die Aufgabe nicht verstanden. Eine Mitschülerin schaltet sich ein, erklärt, auf Hochdeutsch, dann auf Englisch, nun versteht Pasha. Zusammen wird der Fall gelöst. Dann klingelt es, alle stürmen in die Pause.

Eine lange Reise

Unter der Woche steht Yaryna jeden Morgen um 7.20 Uhr auf, frühstückt und geht zur Schule. Dass sie ihre erste Mahlzeit zu Hause einnimmt, und nicht, wie in der Ukraine, in der Schule, findet sie komisch. Ihre Freunde David, 8, und Pasha, 12, pflichten ihr bei. In der Ukraine sei man den ganzen Tag an der Schule, sagen sie.

Um 7.40 laufen die Jungs los, um pünktlich zum Unterricht zu erscheinen. Yaryna nicht. Sie mache sich zehn Minuten später auf den Weg und renne. «Ich bin schnell», sagt sie und grinst. Yaryna, David und Pasha haben ihre Heimatstadt Saporischschja in der Südukraine acht Tage nach Kriegsausbruch, am 4. März 2022, verlassen; zusammen mit ihren Geschwistern und ihren Müttern, die miteinander befreundet sind. «Wir waren zu zwölft. Und es war gut, dass wir zusammen geflüchtet sind», sagt Davids Mutter, Nataljia Romanishina. «So konnten wir uns gegenseitig unterstützen.» Sie zögert einen Moment, ehe sie weiterspricht: Die Reise sei schwierig gewesen. «Die Kinder haben sie vielleicht als Spiel gesehen», führt sie aus. «Wir haben ihnen nicht alles erzählt, um sie zu schützen.»

Fussball und Integration

Am 14. März erreichen die Mütter mit ihren Kindern Zürich und reisen weiter nach Benken. Dort kommen sie in dem von der reformierten Kirche zur Verfügung gestellten alten Pfarrhaus unter. Er habe auf der Reise viel geschlafen, sagt Pasha leise. Auf die Frage, ob ihm das Neue, Bevorstehende Angst gemacht habe, verneint er, er sei gespannt gewesen. «Ich hab mir nicht allzu viele Gedanken gemacht», schaltet sich David ein.

Den verantwortlichen Lehrern Lovallo und Meurer ging es da anders. «Ich habe mir Sorgen darüber gemacht, wie ich mit den Kindern kommunizieren, wie ich mit dem Schulstoff weiterfahren werde», sagt Lovallo. Meurer pflichtet ihr bei: «Und dann weiss man auch nicht, in welchem Zustand die Kinder hier ankommen, was sie gesehen, was sie erlebt haben.»

Meurer hat bereits in Deutschland eine Seiteneinsteigerklasse mit ausschliesslich fremdsprachigen Kindern unterrichtet, Pasha ist sein erster Schüler aus der Ukra­ine. Pasha habe zu Beginn Mühe gehabt, sich zu integrieren, Anschluss zu finden, sagt Meurer. «Ich hab ihm geraten, in der Pause mit seinen Klassenkameraden Fussball zu spielen, das hat funktioniert. Nun tschuttet er regelmässig.»

Doch Pasha hat immer noch Mühe, er vermisst seine Freunde. Die fremde Sprache mit dem komischen R, weich ausgesprochen, nicht hart gerollt, bereitet ihm Mühe. David dagegen hat Gefallen am Deutsch gefunden. Was seine Mutter bejaht. Er bringe ständig Bücher aus der Schulbibliothek nach Hause und fordere sie zum Vorlesen auf. «Wenn ich etwas falsch ausspreche, korrigiert er mich. Was ich nicht verstehe, erklärt er mir», sagt sie.

Zeichentrickfilme und Saft

David gehe gerne zur Schule, so Romanishina. «Er mag die Lehrer sehr, weil sie ihn unterstützen und loben.» In der Ukra­ine werde von den Schülern einiges mehr an Disziplin gefordert. Und es würden mehr Hausaufgaben verteilt. «Die Kinder büffeln in der Schule und sie büffeln zu Hause. Auch am Wochenende wird gebüffelt. Freizeit bleibt kaum.»

«In der Ukraine wird von den Schülern einiges mehr an Disziplin gefordert. Und es werden mehr Hausauf­gaben verteilt.»

Nataljia Romanishina, Mutter von David, einem ­ukrainischen Schüler an der Primarschule in Benken

«In der Ukraine sind die Lehrer streng und die Klassen grösser», sagt Yaryna. «Und wir halten uns fast nur drinnen auf. Hier darf man in den Pausen rausgehen», ergänzt Pasha. «Textiles Gestalten ist viel spannender, wir können mit allen möglichen Materialien experimentieren», wirft David ein. «Aber die Geburtstage sind in der Ukraine schöner», sagt Yaryna mit einem Blick zu ihrer Klassenlehrerin. «Dort schauen wir dann einen Zeichentrickfilm und trinken Saft.»

Seit David in Benken zur Schule gehe, sei er ruhiger und selbstbewusster geworden. «Er sagt, er möchte viel lernen und irgendwann der Beste der Klasse sein», so Romanishina.

Während Yaryna, David und Pasha in Benken fleissig lernen, befinden sich ihre Väter noch immer in der Ukraine, im Krieg.

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