Ihr Herz schlägt dort, wo Bomben fliegen

Sophie Nussli | 
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Sofia Lipska und Mykyta Kalaschnikov sind aus der Ukraine geflüchtet und besuchen seither die Kantonsschule Schaffhausen. Bild: Sophie Nussli

Sofia und Mykyta sind kurz nach Ausbruch des Krieges aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet. Sie sprechen gut deutsch und fügen sich in den Schulalltag ein. Es wundert sie, dass Mitschülerinnen und Mitschüler wenig Interesse an ihrem Schicksal zu haben scheinen.

Zu den Personen

Mykyta Kalaschnikov ist 16 Jahre alt und Ende März 2022 von der ­ukrainischen Hafenstadt Odessa in die Schweiz geflüchtet. Mit seinen ­Eltern wohnt er in Meris­hausen und besucht die Kantonsschule.

Sofia Lipska ist mit ihrer Familie Anfang März 2022 von Odessa mit dem Auto in die Schweiz geflüchtet. Die 17-Jährige war die erste Geflüchtete an der Kantonsschule Schaffhausen.

«Kaum einer weiss, woher ich komme, wie ich 17 Jahre lang gelebt habe oder was mich beschäftigt.» Sofia Lipska spricht über die Schwierigkeiten in einer neuen Klasse, in einem neuen Land sozialen Anschluss zu finden. Seit Mitte März wohnt die 17-Jährige in Löhningen und besucht die Kantonsschule Schaffhausen. Mit der Invasion russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 musste Sofia ihr Zimmer, ihren Freundeskreis und Verwandte zurücklassen.

Sechs Tage nach Kriegsbeginn, am ersten März, setzte sie sich auf die Rückbank des Familienautos und liess die ukrainische Hafenstadt Odessa hinter sich, gemeinsam mit ihren drei Geschwistern, ihren Eltern und ihrer Grossmutter. 290 Kilometer und fünf Stunden später, an der rumänischen Grenze, wurde ihnen die Durchfahrt verwehrt. Auch die Wächter an der moldawischen Grenze liessen sie nicht passieren.

Erst nach 24 Stunden der Angst und Verzweiflung, nicht weiterzukommen, konnte der Motor doch wieder angestellt und die nächsten Kilometer zurückgelegt werden. Die Strassen von Ungarn und Österreich führten Familie Lipska nach Schaffhausen. Die ersten Nächte verbrachten sie bei einer Tante, die 17 Jahre zuvor in die Schweiz ausgewandert war.

Heute lebt Sofia mit ihrer älteren Schwester und ihrer Grossmutter in einer Wohnung in Löhningen, während ihre Eltern und ihre zwei Brüder in einer anderen Wohnung der Tante unterkommen. Mit dem Krieg begann die Flucht und das andere Leben, von dem nichts geblieben ist ausser des Autos, der Familie und eines Koffers mit Kleidern.

Mit der Mutter und ohne den Vater

Zu Beginn war sie die einzige Geflüchtete in der Kantonsschule. «Das war eine schwierige Zeit. Niemand spricht deine Sprache, niemand hat diese schrecklichen Bilder gesehen.» In den weiteren Kriegsmonaten folgten acht ukrainische Flüchtlinge: einer von ihnen ist Mykyta Kalaschnikov.

«Das war eine schwierige Zeit: Niemand spricht ­ deine Sprache, niemand hat diese schrecklichen Bilder gesehen.»

Sofia Lipska Ukrainische Schülerin an der Kantonsschule

In der Ukraine wohnte er ebenfalls in Odessa, Sofia hat er aber erst in Schaffhausen kennengelernt. Gemeinsam mit seiner Mutter war Mykyta drei Tage im Bus unterwegs. Sein Vater war einige Tage vor Kriegsbeginn für das Transportunternehmen, bei dem er tätig ist, nach Polen gefahren und deshalb am 24. Februar nicht in der Ukraine. In den ersten Monaten wohnte Mykyta gemeinsam mit seiner Mutter bei seiner älteren Schwester, die fünf Jahre zuvor in die Schweiz ausgewandert war, bis im Sommer sein Vater in die Schweiz kam. Seitdem lebt er mit seinen Eltern in einer Wohnung in Merishausen.

Von der Angst, zu nahe zu treten

Sofia Lipska besuchte in der Ukraine eine Musikschule, Mykyta eine Schauspielschule. In der Schweiz wurden deshalb beide in Klassen mit musikalischem Profil eingeteilt. Die Mitschülerinnen und Mitschülern sowie Lehrpersonen sind sehr hilfsbereit, dennoch sei es schwierig, in der Schule sozialen Anschluss zu finden.

Eine russisch sprechende Schülerin aus einem älteren Jahrgang stand Mykyta anfänglich als Übersetzerin zur Seite. Mit ihr habe er viele schöne und persönliche Gespräche geführt. Mit den Schülerinnen und Schülern aus seiner Klasse könne er aber keine richtige Verbindung knüpfen. Er beobachtet, dass sie einander täglich fragen, wie es ihnen gehe – in den neun Monaten, die Mykyta in Schaffhausen ist, hätten sie ihm diese Frage aber noch nie gestellt.

Die Gründe dafür kann er sich nicht erklären. Ob es die Angst sei, etwas Falsches zu sagen und ihm zu nahe zu treten? Ob schlichtweg das Interesse für ihn und seine Kultur fehle? Ob zu viele Länder zwischen der Schweiz und der Ukraine liegen und der Blick nicht bis ins Kriegsgebiet reiche? «Ich wünschte mir, dass jemand fragt. Das ist ein Zeichen von Interesse, ein Zeichen davon, dass sich jemand um mich kümmert.» Sofia hat in der Parallelklasse ähnliche Erfahrungen gemacht, auch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler zeigen wenig Interesse an ihrer Vergangenheit.

Auch Sofia weiss nicht, woran es liegt, dass die ukrainische Kultur und ihre Geschichte nach neun Monaten in der Schweiz noch kein Thema sind in der Schule. Als ein Junge aus Armenien in der Ukraine in ihre Klasse kam, habe sie den Knaben und die armenische Kultur näher kennenlernen wollen. «Ich wollte wissen, woher er kommt und wieso er gehen musste.»

An der Sprache liegt es nicht, denn Sofia und Mykyta sprechen mittlerweile gut deutsch. Beide erhielten bereits in der Ukraine Deutschunterricht, dieser sei nach eigenen Angaben aber nicht wirklich gut gewesen. Seit sie hier sind, besuchen sie an den Nachmittagen unter der Woche oder am Samstagmorgen zusätzliche Deutsch­lektionen.

Roman Staude, Französischlehrer und Betreuungsperson für Geflüchtete aus der Ukraine, legt grossen Wert auf diese Zusatzlektionen: «Wir befinden uns nicht in einer Übergangssituation. Mit solchen Programmen haben wir es in der Hand, dass die Integration in den Schulalltag langfristig funktioniert.» Es brauche sprachliche Kenntnisse, um herauszufinden, ob die Schülerinnen und Schüler die schulischen Leistungen erbringen können, die für einen Maturitätsabschluss verlangt werden.

Wenn man fragt, erzählen sie gerne

Die Menschen, die Sofias und Mykytas Geschichte kennen, sind woanders. Zu ihren Freunden und Verwandten in Odessa hat Sofia täglich Kontakt – sofern das von Angriffen beschädigte Stromnetz dies zulässt. «Ich vermisse meine Freunde und Verwandten – ich habe sie noch nie so fest in meiner Nähe gebraucht wie jetzt», so Sofia. Sie wisse es zu schätzen, in der Schweiz in Sicherheit zu leben, doch die Angst um ihre Freunde und Verwandten sei enorm. In der Ukraine fehle es an Wasser und an Strom – aber nicht an Freunden. Die Teenager in ihrem Alter kochen und beliefern die umliegenden Ortschaften mit Essen. «Das sind meine Freunde, ich bin stolz auf sie.»

Täglich liest Mykyta über das Geschehen in der Ukraine. Am Tag des Gesprächs wurde die Hafenstadt Odessa mit mehr als zwölf Bomben beschossen. «Ich habe jeden Tag Angst um Freunde und Familie – heute besonders.» Die Menschen im Kriegsgebiet haben die Angst mittlerweile verloren, die Bombardierung ist zur Gewohnheit geworden. Kinder erkennen am Geräusch, um was für eine Granate oder Rakete es sich handelt und wie früher der Weg zur Schule zum Alltag gehörte, gehört heute der Weg in den Bunker dazu.

Mitten im Krieg: das Fest der Liebe

Und mitten im Kriegsgeschehen steht jetzt das Fest der Liebe vor der Tür. Weihnachten feiern, während im eigenen Land Krieg herrscht? Üblicherweise ist es die Zeit im Jahr, in der Familien zusammenkommen, in der Freunde gemeinsam um den Tisch sitzen und auf das Leben anstossen. Familie Lipska feiert Weihnachten am 7. Januar – wie so üblich bei den orthodoxen Christen, die nach dem julianischen Kalender leben. Sofia, ihre Geschwister, ihre Eltern und ihre Grossmutter werden dann in Löhningen zusammenkommen und gemeinsam Weihnachten feiern.

«Ich wünschte mir, dass ­jemand fragt. Das ist ein Zeichen von Interesse, ein Zeichen davon, dass es ­jemanden kümmert.»

Mykyta Kalaschnikov Ukrainischer Schüler an der Kantonsschule

Sofias Mutter wird ein 12-Gänge-Menü kochen, wobei das wichtigste Gericht der Kutja ist. Eine Süssspeise aus gekochten Weizenkörnern, Mohnsamen und Honig. Traditionell geht man nach dem Essen in Gruppen von Haustür zu Haustür, klingelt bei den Bewohnern und singt Weihnachtslieder: Das wird dieses Jahr nicht möglich sein. Ukrainische Familien wurden im Krieg zerrissen – Mütter und Kinder in Sicherheit, Väter an der Front. Oder wie Sofia mit ihrer Familie in Schaffhausen, ihre Freunde und Verwandten aber in Odessa.

Weihnachten so weit entfernt von zu Hause zu feiern – das kann sich Sofia noch nicht wirklich vorstellen. Immerhin dürfe sie die Zeit aber mit ihrer Familie in Sicherheit verbringen, sagt sie. «Es gibt viele Menschen, die ganz ohne ihre Liebsten mitten im Krieg feiern müssen.»

In Mykytas Familie habe das Weihnachtsfest keine grosse Bedeutung, sagt er. Auf die ukrainischen Gerichte, besonders auf den Kutja, freue er sich aber sehr. Der bedeutendste Feiertag sei für ihn Neujahr. Sie feiern mit Feuerwerk, hören laute Musik, gehen gemeinsam spazieren und schauen die Neujahrsrede vom Präsidenten. Wobei er sich fragt: «Dürfen wir an Silvester in der Schweiz überhaupt bis spät in die Nacht Musik hören? Oder müssen wir die Nachtruhe um 22 Uhr einhalten?»

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