«Gewalt an Frauen geht alle etwas an»

Elena Stojkova | 
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Mit Lampions und Schals oder Jacken in Orange am Solidaritätsumzug (zuvorderst Sandra Koitka). Bild: Michael Kessler

Mit orangen Lampions in den Händen oder einem orangen Schal um den Hals: Am Donnerstagabend gedachte in der Schaffhauser Altstadt eine grosse Gruppe von Menschen Frauen, die dieses Jahr in der Schweiz aufgrund ihres Geschlechts getötet wurden.

Auf der Treppe vor der Kirche St. Johann sind am Donnerstagabend viele Paar Schuhe nebeneinander aufgestellt. Ganz verschiedene, alle in Orangetönen, alle mit einer Botschaft versehen. Denn diese Schuhe stehen für Frauen aus der Schweiz, die dieses Jahr getötet wurden – und solche, die knapp überlebt haben. «Stopp Feminizid!», sagt Bettina Sutter. Sie gehört zum Organisationskomitee (OK) der Mahnwache, die anlässlich des heutigen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen stattfand. Mit diesem Tag startet die internationale Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» (siehe Stichwortkasten). Das diesjährige Fokusthema sind Feminizide. Jede zweite Woche wird in der Schweiz eine Frau getötet, weil sie eine Frau ist. Ruth Stoll vom OK hält jedes einzelne Paar Schuhe in die Luft, nennt das Alter der Frau und den Ort des Tötungsdelikts. Beim letzten Paar angelangt, sagt sie: «Diese Schuhe stehen für die Frau, die hoffentlich nicht getötet wird.»

16 Tage gegen ­ Gewalt an Frauen

Der 25. November ist der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Am 25. November 1960 wurden in der Dominikanischen Republik drei Schwestern ermordet. Aus dem Gedenktag wurde ein Aktionstag, der über 30 Jahre später erweitert wurde in die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Sie dauert jeweils bis zum 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte.

Die Schaffhauser Frauenorganisationen Soroptimist Club und Zonta Club veranstalten seit Jahren verschiedene Aktionen zum Thema. Oft schon hat ein öffentliches Gebäude am Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen in oranger Farbe geleuchtet – letztes Jahr war es die Kirche St. Johann, vorletztes der Munot. Dieses Jahr ist es dunkler am Anlass, auf die Beleuchtung wurde aufgrund der Energiemangellage verzichtet. Doch es leuchten viele knallorange Lampions in den Händen der zahlreichen Menschen, die erschienen sind. Auf den Treppenstufen hinter den orangen Schuhen steht der Chor «salto corale» und singt gerade «Der Mond ist aufgegangen». Nach einigen Liedern macht sich die Gruppe zum Solidaritätsumzug zum Fronwagplatz auf.

Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen: Ein Aktionsplan für Schaffhausen

Die Koordinationsstelle Istanbul-Konvention besteht im Kanton Schaffhausen seit März 2020. Die ­Istanbul-Konvention ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Am Montag hat der Kantonsrat beschlossen, die 50-Prozent-Stelle zu verstetigen und ab 2023 auf 140 Stellenprozente zu erweitern. Primäres Ziel der Koordinationsstelle war es zunächst, eine Bestandsaufnahme zu machen: zu ermitteln, wo im Kanton Handlungsbedarf besteht. Basierend auf dieser Bestandsaufnahme ist ein kantonaler Aktionsplan entstanden, der kürzlich vom Re­gierungsrat beschlossen wurde. «Lücken wurden identifiziert, jetzt geht es darum, den Plan umzusetzen», sagt Koordinationsstellenleiterin Susanne Nef. Sie hat den Aktionsplan erstellt. Auf 75 Seiten sind 25 Massnahmen definiert.

Es geht beispielsweise darum, Beratungsangebote zu schaffen für Personen mit sexuellem Interesse an Kindern, gewaltfreie Erziehung und Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen an Schulen zu fördern. Oder darum, gegen Zwangsheiraten vorzugehen, mit gewaltausübenden Personen zu arbeiten und eine Leistungsvereinbarung mit einem ausserkantonalen Frauenhaus zu treffen (Schaffhausen hat kein eigenes mehr). Menschenhandel zu bekämpfen und die Prävention sexueller Gewalt im Freizeitbereich zu koordinieren sind weitere von vielen Beispielen.

«Zentral ist, dass wir den Fokus weg von Einzelmassnahmen hin zu ineinandergreifenden politischen Massnahmen setzen.» Bei jedem Ziel ist deshalb auch aufgelistet, welche Fach-, Beratungsstellen und Institutionen sich für eine Aufgabe nun vernetzen sollen. Viele Projekte im Bereich der Gewaltprävention oder des Opferschutzes bestehen bereits, nur müsse jetzt dafür gesorgt werden, dass die Akteure sich abstimmen, dass alle Massnahmen in eine Gesamtstrategie eingebettet werden. Dass alle, die sich mit dem Thema Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt beschäftigen (müssen), wissen, wer in Schaffhausen wo welchen Beitrag leistet. «Ziel ist, dass alle Institutionen an einem Strang ziehen.» Dazu soll es auch Schulungen und Weiterbildungen in verschiedenen Bereichen geben.

Die Absicht, welche über all diesen Massnahmen stehe, ist, Gleichstellung zu erreichen. «Damit Gewalt erst gar nicht entsteht», sagt Nef.

Aufruf zu Zivilcourage

«Es gibt viele Frauen, die einsam Gewalt erleben», sagt Sutter. Ihre Kollegin Sandra Koitka ruft auf, Frauen zuzuhören, wenn sie ihre Forderungen stellen. Sein eigenes Verhalten zu hinterfragen und Zivilcourage zu zeigen, wenn man übergriffiges Verhalten mitbekommt. Sie ruft dazu auf, sich für eine geschlechtergerechte und gewaltfreie Gesellschaft einzusetzen.

«Die Begriffe Femizid oder Feminizid beinhalten Kritik an den Strukturen der Gesellschaft und sind ein Appell an die Politik, dass gehandelt werden muss», sagt Susanne Nef, Leiterin der Koordinationsstelle Istanbul-Konvention im Kanton Schaffhausen, vor dem Anlass. Grundsätzlich seien sie Synonyme, sie würden jedoch auch kontrovers diskutiert. Selten würden sie von Kriminologinnen und Kriminologen oder Behörden verwendet, vielmehr von Nichtregierungsorganisationen und Aktivistinnen. «Die Begriffe betonen, dass diese Delikte mit dem Geschlecht in einem direkten Zusammenhang stehen, und es wird auf das ungleiche Geschlechterverhältnis aufmerksam gemacht.»

«Die Begriffe Femizid oder Feminizid beinhalten Kritik an den Strukturen der Gesellschaft.»

Susanne Nef, Leiterin Koordinationsstelle Istanbul-Konvention

In der Schweiz sei die absolute Anzahl der Tötungsdelikte im Vergleich zu anderen Ländern zwar gering. Doch der Anteil an Tötungen innerhalb der Partnerschaft ist in den letzten Jahren gestiegen: Rund 60 Prozent aller Tötungsdelikte in der Schweiz finden in aufgelösten oder bestehenden Beziehungen statt. Und es zeige sich, dass Frauen am häufigsten Opfer von Gewalt in Beziehungen werden.

Tötungsdelikte an Frauen seien keinesfalls weit weg von uns, sagt Nef. «Das Thema Gewalt an Frauen und Feminizide gehen alle etwas an. Die Zahlen sind weltweit, schweizweit alarmierend.»

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