«Es läuft etwas grundsätzlich falsch»

Elena Stojkova | 
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Susanne Nefs Aufgabe besteht vor allem darin, den kantonalen Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention zu erarbeiten. Bild: Roberta Fele

Susanne Nef ist seit Anfang September Leiterin der kantonalen Koordinationsstelle Istanbul-Konvention. Sie spricht über die steigenden Fälle von Gewalt an Frauen, über die Ungleichstellung der Geschlechter als Ursache von Gewalt – und über Handlungsbedarf.

Unzählige Gespräche mit gewaltbetroffenen Frauen hat Susanne Nef schon geführt. Sie erzählen ihr, wie sie körperlich, sexuell, seelisch missbraucht wurden oder werden. Manchmal, sagt Nef, reden sich Betroffene zwei Stunden von der Seele, was sie erdulden mussten, ohne dass sie auch nur eine Zwischenfrage stellt. Sie brauchen einfach jemanden, der zuhört. Ohne zu urteilen. Ohne abwehrende Gesten. Ohne in Tränen auszubrechen.

Nef hat Anfang September dieses Jahres die Stelle als Leiterin der Koordinationsstelle Istanbul-Konvention im Kanton Schaffhausen angetreten. Die Istanbul-Konvention ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Die Stelle besteht seit dem 1. März 2020. Viel sei seither passiert, sagt Nef. Ihre Vorgängerin Maya Sonderegger hat die Aufgabe übernommen, eine Bestandsaufnahme zu machen, zu ermitteln, wo im Kanton Handlungsbedarf besteht, wo Aspekte der Istanbul-Konvention aber auch bereits erfüllt sind. Letzten Monat ist der dazugehörige Bericht dem Regierungsrat vorgelegt worden. Sein Inhalt soll am 25. November, am internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, publiziert werden.

Zur Person Susanne Nef

Susanne Nef ist seit dem 1. September Leiterin der kantonalen Koordinationsstelle Istanbul-Konvention im 50-Prozent-Pensum. Ebenfalls ist sie Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Die 39-Jährige kommt aus dem Thurgau und lebt mit ihrem Mann und ihrem zweijährigen Sohn in Zürich.

Nefs Aufgabe besteht nun vor allem darin, den kantonalen Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention im Kanton Schaffhausen zu erarbeiten und unterschiedliche Akteure zu vernetzen. Sie führt Gespräche mit Behörden auf kantonaler, interkantonaler und Bundesebene, mit zivilgesellschaftlichen Frauenorganisationen, mit Fachstellen, mit Schulen. Es gehe darum, sichtbar zu sein, herauszufinden, wer was braucht, um seinen Teil zur Umsetzung der Istanbul-Konvention zu leisten. Nef hört zu, liest und recherchiert viel über das Thema, ist stets informiert, was in anderen Kantonen oder auf nationaler Ebene im Bereich Gewalt gegen Frauen aktuell ist. So ergeben sich Kooperationen, sagt Nef, die Kantone können voneinander lernen.

Gewaltfälle nehmen zu

Seit neun Jahren beschäftigt sie sich mit Gewalt im Geschlechterverhältnis, Gewalt gegen Frauen, häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt in der Ehe und sexueller Belästigung im öffentlichen Raum und am Arbeitsplatz. Viel hat sie geforscht, im Rahmen der Forschung zahlreiche Gespräche geführt. Auch mit Studierenden der Sozialen Arbeit an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, wo sie als Dozentin und Projektleiterin Forschung tätig ist – Leiterin der Koordinationsstelle ist sie im 50-Prozent-Pensum –, analysiert sie diese Themen immer wieder.

Fakt ist: Die Fälle von häuslicher Gewalt und Gewalt an Frauen und Kindern nehmen zu – auch im Kanton Schaffhausen steigen die Zahlen, wie Nef sagt. Es gebe zwei Arten, diesen Anstieg der Zahlen zu lesen. Einerseits kommt es wohl zu mehr Gewalt aufgrund der Coronakrise und ihren Folgen: aufgrund Verlust vom Arbeitsplatz, Belastungen im Arbeitsmarkt, beengenden Wohnverhältnissen. Andererseits könne die Zunahme auch bedeuten, dass die Gesellschaft sensibilisierter ist, dass mehr Gewaltfälle ans Licht kommen. Man geht nach wie vor davon aus, dass nur zehn bis zwanzig Prozent der Betroffenen Anzeige erstatten, wenn ihnen Gewalt angetan wird. «Die Dunkelziffer ist hoch», sagt Nef. Aber: Mehr Frauen würden den Schritt wagen, zur Polizei zu gehen.

Erfahrung omnipräsent

Auf die Frage, was sie dazu bewegt hat, sich mit dem Thema Gewalt zu beschäftigen, antwortet Nef nicht sofort. Es sei eben nicht nur ein Schlüsselmoment, der dazu geführt habe, sondern ganz viele – und das ist das Schlimme daran. «Ich habe Gespräche mit Frauen jeden Alters, aus verschiedenen sozialen Milieus und aus verschiedenen Kulturen gesprochen», sagt sie, «und gemerkt, wie omnipräsent die Erfahrungen mit Gewalt sind.»

Fast alle Frauen können von Erfahrungen der Ungleichbehandlung oder der sexuellen Belästigung berichten: im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz. «Und zwar nicht nur von einer, sondern von mehreren.» Und auch von Gewalterfahrungen können viele berichten.

Jede Frau hat ihre Strategien

«Ich erinnere mich, wie mir meine Mutter – ich war noch ein kleines Mädchen – erzählt hat, dass sie den Schlüsselbund, wenn sie abends allein unterwegs war, so hielt, dass sie sich bei einem Angriff damit verteidigen könnte.» Viele Frauen würden ihr erzählen, welche Strassen sie nachts meiden, weil dort Bäume sind, hinter denen sich jemand verstecken könnte. «Es kann doch nicht sein, dass jede Frau individuelle Strategien entwickeln muss, um mit solchen Situationen umzugehen. Es läuft etwas grundsätzlich falsch, und daran müssen wir als Gesellschaft arbeiten.» Wenn einem jungen Mann das Portemonnaie geklaut wird, frage man ihn nicht, warum er in der Dunkelheit allein auf der Strasse unterwegs war. «Wie schnell stellt man einer Frau diese Frage? Oder fragt sie nach einem Übergriff, was sie anhatte?» Ähnliches gelte für Frauen, die monate- oder gar jahrelang in einer Beziehung mit einem Mann bleiben, der sie schlägt, tritt, beleidigt. «Man fragt sie, warum sie nicht aus der Beziehung gegangen ist. Aber dass sie so lange Zeit alles getan hat, damit sie und ihre Kinder überleben, das wird häufig nicht gesehen.»

Ein Teufelskreis

Bei Worten, Bildern, Normen, Werten der Gesellschaft müsse man ansetzen, wenn sich etwas ändern soll, sagt sie. Und zwar schon in der Kindheit. «Man muss mit Kindern und Jugendlichen besprechen, was eine Beziehung, was Leidenschaft ist, was der Partner darf und was nicht», sagt Nef. «Sie sollen gestärkt werden in ihrem Recht auf Selbstbestimmung.» Aufgrund der ­Ungleichstellung der Geschlechter und Machtverhältnisse entstehe Gewalt, sagt Nef. Und aufgrund Gewalt werde Ungleichstellung reproduziert: ein Teufelskreis.

Die Mädchen haben «herzig» zu sein, den Buben sage man «Indianer kennen keinen Schmerz», «Weine nicht» oder «Sei doch kein Mädchen». «Geschlechterstereotypen werden schon früh in der Erziehung reproduziert», sagt Nef. Sie gibt weitere Beispiele von solchen Bildern, die in der Gesellschaft verankert sind: Buben werde oft vermittelt, dass Aggressionen Teil der Männlichkeit sind und Gefühle nicht gezeigt werden sollen. Frauen werde nachgesagt, sie seien manipulativ: Statt den schlagenden Mann zu verurteilen, werde nach Gründen für die Schläge – zum Beispiel Provokationen – gesucht. Wolle eine Frau aus einer Gewaltbeziehung, habe sie als Ehefrau und Mutter versagt. Werde eine Frau belästigt, soll sie es als Kompliment ansehen.

Eigene Grenzen verschwimmen

«Weil die eigenen Grenzen immer wieder überschritten werden, nimmt man sie nicht mehr richtig wahr», sagt Nef. Und weil die Gesellschaft oft wegschaue, signalisiert sie Betroffenen: Es ist rechtens, was hier passiert, oder es interessiert nicht. «Das sorgt dafür, dass Gewalt fortbesteht.»

«Orange the world» in Schaffhausen

Am 25. November ist der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. Weltweit wird rund um diesen Tag auf das Thema aufmerksam gemacht: Sehenswürdigkeiten werden orange beleuchtet. Auch Schaffhausen macht bei der «Orange the world»-Kampagne mit. Vorletztes Jahr wurde der Rheinfall orange beleuchtet, letztes Jahr der Munot. Dieses Jahr wird es, vom 20. bis zum 25. November, der Turm des St. Johann sein. Am Samstag, 20. November, gibt es eine Standaktion auf dem Fronwagplatz, gezeigt wird dort auch die Installation «Es gibt einiges zu verlieren» der Künstlerin Marja Scholten-Reniers. Am Donnerstag, 25. November, findet ein Solidaritätsumzug durch die Altstadt statt. Besammlung ist um 18.30 Uhr beim Rosengarten auf dem Munot. Um 20.15 Uhr wird Susanne Nef, Leiterin der Koordinationsstelle Istanbul-Konvention Schaffhausen, in der Rathauslaube ein Referat zum Thema Gewalt an Frauen halten. Anschliessend wird es ein Podiumsgespräch zur Erreichbarkeit und Unterstützung ­älterer gewaltbetroffener Frauen geben.

Organisiert werden die Aktionen von den Frauenorganisationen Sor­optimist Club Schaffhausen und Zonta Club Schaffhausen sowie der Fachstelle für Gewaltbetroffene und der Koordinationsstelle Istanbul-Konvention Schaffhausen. (est)

Aus der Forschung wisse man, dass Betroffene durchschnittlich mit bis zu sechs Personen über die Gewalt, die ihnen angetan wird, sprechen müssen, bis jemand reagiert. «Viele möchten das nicht hören. Das trägt dazu bei, dass Betroffene denken, die Gewalt sei legitim.»

In Schaffhausen bestehe Handlungsbedarf, sagt Nef. «Aber dieser wird auch gesehen. Der Wille zu handeln, ist spürbar.» Und es tue sich etwas. «Immer mehr Bewegungen gegen Gewalt formieren sich, Gewaltbetroffene sind sichtbarer geworden. Da würde ich schon erste Ansätze von sozialem Wandel festmachen.» Nefs Wunsch, dass Gewaltbetroffene wissen, dass das, was ihnen passiert, nicht rechtens ist. Alle, sagt sie, haben Bilder in sich, wie eine richtige Frau, ein richtiges Mädchen, ein richtiger Mann oder Bub zu sein hat. Selbst Bilder von «richtigen» Betroffenen und Tätern seien in uns. «Diese Bilder sollte jede und jeder Einzelne überdenken.»

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