«Schule soll etwas Schönes sein»

Regula Lienin | 
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Olaf Rühlemann – hier auf dem neuen Spielplatz der Sprachheilschule – ist seit 2017 Geschäftsführer der Schaffhauser Sonderschulen. Bild: Melanie Duchene

Die Schaffhauser Sonderschulen organisieren sich neu. Im Sommer tauschen mehrere Klassen die Schulhäuser. Mit diesem Schritt wird der Bereich für geistig beeinträchtigte Kinder auch räumlich zusammengeführt.

Im Kanton Schaffhausen werden 200 Kinder ­separativ unterrichtet und 115 weitere integrativ an den Regelschulen unterstützt. Die Sonderschulen befinden sich in den städtischen Schulhäusern Granatenbaumgut (Bereich Geistige ­Behinderung), Sandacker (Körper- und Wahrnehmungsbehinderung) und Marienstift, in dem die Sprachheilschule untergebracht ist. Zu den weiteren Angeboten zählen die integrative Sonderschulung, Therapien, eine Tagesstruktur sowie ein Internat. An den Sonderschulen sind 320 Personen angestellt, die sich 140 Stellen teilen. Der Jahresaufwand beträgt rund 17,3 Millionen Franken. Geschäftsführer ist seit 2017 Olaf Rühlemann. Er steht zugleich der sechsköpfigen Geschäftsleitung vor.

Diesen Sommer neigt sich ein jahrelanger Prozess dem Ende zu: Die Zusammenlegung ehemals kantonaler und städtischer Sonderschulinstitutionen. Faktisch existieren die Sonderschulen Schaffhausen als öffentlich-rechtliche Anstalt seit 2007. Doch bis heute wirken die historisch ­gewachsenen Strukturen nach. Mit der Neubespielung der Schulhäuser Sandacker und Granatenbaumgut sollen diese aufgehoben werden. In den Sommerferien wird deshalb umgebaut und gezügelt.

Herr Rühlemann, zu Beginn etwas Grundlegendes: Wann besucht ein Kind die Schaffhauser Sonderschulen?

Olaf Rühlemann: Unser Auftrag ist es, Kindern mit einer Behinderung Bildung zu ­ermöglichen. Das ist bei diesen Kindern zentral, damit sie Anschluss an die Gesellschaft und ins Berufs- und Erwachsenenleben finden. Wir machen sie so fit, wie es ihr Potenzial ermöglicht.

Die Sonderschulen führen neben der Sprachheilschule den Bereich G für Geistige Behinderung und den Bereich K für Körper- und Wahrnehmungsbehinderung. Warum diese Einteilung?

Dies ist im Kanton Schaffhausen so üblich und auch gesetzlich verankert. Man kann sich fragen, weshalb man nicht nur eine Schule für alle macht. Aber selbst Kantone, die sehr stark auf integrative Schulen gesetzt haben, stellen mittlerweile fest, dass es eine Nachfrage nach Sonderschulen gibt. Die Regelschule ist nicht in der Lage, ­alles zu tragen. Für viele Kinder ist inte­grative Sonderschulung passend, manche haben aber in einer Sonderschule die besseren Bildungschancen.

Nach den Sommerferien werden die Kinder des Bereichs G neu nur noch im Granatenbaumgut beschult, die Kinder des Bereichs K im Sandacker. Man spricht immer von ­Integration, weshalb wird mit diesem Schritt weiter getrennt?

Wir heben die Separation innerhalb des Bereichs G auf und entfernen die Bereiche von G und K räumlich voneinander. Aber die Bereiche sind heute schon im Granatenbaumgut getrennt. Nehmen wir den Pausenplatz. Die grosse Pause der Kinder im Bereich K läuft ähnlich ab wie bei Kindern in der Regelschule. Im Bereich G gestalten die Lehrpersonen mit den Kindern die Pause, weil sie diese nicht alleine machen können. Getrennt sind sie auch über Mittag. Die einen essen in der Tagesstruktur, die anderen am Mittagstisch im Schulhaus.

Sie heben die Separation im Bereich Geistige Behinderung auf. Was bedeutet dies?

Bislang hatten wir in den beiden Schulhäusern Kinder mit einer geistigen ­Behinderung. Mit verschiedenen Lektionentafeln, Stundenplänen und Unterrichtsprogrammen und zwei Schulleitungen. Das ist ein Relikt aus der Zeit, als Stadt und Kanton je eine separate Schulen betrieben. Der Sonderschulrat hat uns mit der Aufgabe betraut, den Bereich G inhaltlich wie auch räumlich zusammenzuführen. Damit erreichen wir nun auch eine wichtige sonderpädagogische Zielvorgabe, nämlich behinderungsheterogene Klassen.

Was steckt dahinter?

Behindertenheterogen bedeutet, dass wir die Kinder mischen und beispielsweise nicht alle im Rollstuhl in einer Klasse zusammenfassen. Es ist erwiesen, dass sie sich in gemischten Klassen am besten entwickeln und voneinander lernen. Mit der Zusammenführung des Bereichs G im Schulhaus Granatenbaumgut können wir das künftig noch besser machen.

Mit Neuerungen holt man nie alle Betroffenen ab. Wie geht die Lehrerschaft damit um?

Wir haben Mitarbeitende, die mit ganz grosser Empathie und Motivation an ihre Aufgabe herangehen. Das Engagement für das Kind ist riesig. Die Frage hingegen, wie mit Veränderungen umgegangen wird, ist individuell. Wir sind den ganzen Prozess partizipativ angegangen, mit Teamtagen, Videokonferenzen und schriftlichen Vernehmlassungen. Die Konzeptidee, die wir nun umsetzen, stammt von einer Lehrperson. Aber es gab auch welche, die die Veränderung nicht mittragen wollten und sich zur Kündigung entschlossen haben.

Gezügelt wird vom Schulhaus Granatenbaumgut ins Schulhaus Sandacker und umgekehrt, betroffen sind beide Bereiche. Wie organisieren Sie das?

Die Kinder ziehen klassenweise mit ihrer Lehrperson um. So bleibt etwas vom Wichtigsten, die Beziehungen, erhalten. Im Schulhaus Granatenbaumgut werden dann die beiden neu zusammen geführten Lehrerteams des Bereichs Geistige Behin­derung weiter als eigenständige Teams ­funktionieren und in ihrem eigenen Tempo zusammenwachsen.

Wie gehen Kinder und Eltern mit dem ­bevorstehenden Umzug um?

Bei Kindern, die mit der vertrauten Lehrperson umziehen, ist es kaum Thema. Unter den Eltern gab es in einem Fall eine negative Rückmeldung, weil mit dem Wechsel Internat und Schulhaus nicht mehr nebeneinander liegen. Das Kind wird den Schulbus benützen müssen.

Neben den bereits angesprochenen Bereichen haben die Schaffhauser Sonderschulen auch einen Sprachheilbereich. Wann wird ein Kind dort eingeschult?

Wenn ein Kind beispielsweise im Kindergarten auffällt, dann wird es von mehreren Stellen abgeklärt. Handelt es sich um eine starke Spracherwerbsstörung, kommen wir ins Spiel. Dann müssen die Eltern aber auch bereit sein, es zu uns zu schicken. Das fällt denjenigen aus Neuhausen in der Regel einfacher als Eltern, die in einer weiter entfernten Landgemeinde leben. Je früher ein Kind zu uns kommt, desto besser. Es wird hier mit Logopädie und einem inten­siven sprachheilpädagogischen Unterricht unterstützt. Dies endet meistens mit der zweiten, maximal dritten Klasse, dann geht das Kind wieder in die Regelschule. Wir sind sehr erfolgreich mit diesem temporär-separativen Modell.

Wie gross ist die Durchlässigkeit zwischen den anderen Bereichen und der Regelschule?

Es gibt immer wieder Grenzfälle. Eltern denken zum Beispiel, ihr Kind habe keine so starke Einschränkung, dass es in den Bereich Geistige Behinderung gehört. Dann wird es schulpsychologisch abgeklärt – wobei auch der IQ erhoben wird –, und man merkt, dass es doch dort am besten aufgehoben ist. Im Bereich Körper- und Wahrnehmungsbehinderung gibt es Kinder mit ADHS, die in der Regelschule nicht klarkommen. Wenn ein solches Kind eine Sonderschule besuchen kann und sich wieder erdet, ist das positiv. Schule soll für das Kind ja ­etwas Schönes sein und nicht mit Versagensängsten verbunden sein.

Seit 2007 ist die Anzahl Schüler, die in die Regelschule integriert wurden, von 2 auf 115 angestiegen. Wie sind diese Zahlen einzuschätzen?

Auch wenn die Anzahl steigt: Der Kanton Schaffhausen ist wohl einer der desintegrativsten Kantone in der Schweiz. Für die Integration in die Regelschule gibt es zwei Gelingensbedingungen. Gibt es Heil­pädagogen und eine Schulleitung vor Ort, stehen die Chancen für eine integrative Sonderschulung gut. So lässt sich bedeutend einfacher die heilpädagogische Unterstützung organisieren und die Akzeptanz wird einfacher erreicht.

In der Stadt Schaffhausen, wo es nach wie vor keine Schulleitungen gibt, ist die Zahl integrierter Kinder aus der Sonderschule also besonders klein?

Es gibt gute Beispiele, in denen integrative Sonderschulung in der Stadt funktioniert, aber es ist schwieriger. Eine Heilpädagogin an einer Regelschule kann eine Art Dolmetscherrolle ausüben zwischen Lehrperson und Kind, der Schulleitung kommt eine unterstützende Rolle zu. Wichtig ist auch: Wenn schon einmal gute Erfahrungen gemacht wurden, klappt es leichter erneut.

Wie sehen Sie die künftige Entwicklung?

Ich denke, dass es uns noch eine Weile brauchen wird. Die Schülerzahlen steigen. Während der vergangenen zwei Pandemiejahre haben Kinder vermehrt Störungsbilder entwickelt. Das sind nun keine klassischen Sonderschüler, aber es gibt Faktoren in der Gesellschaft, die vielleicht bedingen, dass der Sonderschulbedarf zunimmt. Andererseits können dank behindertengerechtem ÖV und Schulhäusern mehr Kinder mit einer körperlichen Beeinträchtigung eine Regelschule besuchen. Wir sind es gewohnt, flexibel auf sich ändernde Schülerzahlen in den einzelnen Bereichen zu reagieren.

Eine letzte Frage: Wie gut sind Sie punkto Umbau und Lehrerstellenbesetzungen unterwegs?

Es ist schon ein rechter Lupf. Aber wir haben Werkverträge mit allen Handwerkern und gehen davon aus, dass wir auf Schulbeginn hin fertig sind mit den Umbauarbeiten. Die Schule startet wie geplant. Ich bin stolz, dass wir alle Stellen besetzen konnten. Die Quote an vollständig qualifiziertem Personal ist hoch. Aber natürlich haben wir auch Lehrpersonen, die berufsbegleitend die erforderlichen Abschlüsse nachholen.

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