Krebstod von Kindern: «Es wird nicht besser, aber anders»

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Obwohl Hündin Jakira ursprünglich der Wunsch von Sohn Flurin war, ist sie mittlerweile eine enorme Stütze für die gesamte Familie geworden. Bild: Melanie Duchene

2014 verloren Wolfgang und Irmela Pfalzgraf ihren jüngsten Sohn an Krebs. Bevor er starb, ermutigte Silvan seine Eltern immer wieder, nicht die Hoffnung zu verlieren. Heute wäre er 13 Jahre alt.

von Fabienne Niederer

Sommerferien 2011 der Familie Pfalzgraf aus Feuerthalen: Mutter Irmela, Vater Wolfgang und die vier Kinder Lisa (13), Maurus (11), Flurin (9) und Silvan (5) sind in den Walliser Alpen. Es sollte der perfekte Ausflug werden, zwei Wochen Entspannung in den Bergen. Doch das Schicksal macht ihnen einen Strich durch die Rechnung: Immer wieder klagt Silvan über starke Bauchschmerzen – etwa der Blinddarm? Die Mutter will nichts riskieren und macht sich auf den Weg zum nächsten Kinderarzt. «Als der Arzt nichts finden konnte, wollte er uns eigentlich wieder wegschicken», sagt Irmela Pfalzgraf. Doch sie lässt nicht locker. Und tatsächlich: Ein Bluttest zeigt stark erhöhte Entzündungswerte – Mutter und Sohn werden weiter in die Notaufnahme geschickt. «Ich dachte, wir fahren kurz hinunter zum Kinderarzt und dann wäre die Sache geklärt», erzählt sie rückblickend. Doch so einfach scheint das Problem nicht gelöst zu sein. Auch in der Notaufnahme meint man zuerst den Blinddarm als Übeltäter gefunden zu haben. Eine Ultraschallaufnahme stellt nach der stundenlangen Unsicherheit jedoch klar: Es sind die Nieren. Vermutet wird ein Tumor. Erneut wird die Familie weitergeschickt, erneut kann man ihnen nicht helfen. Aber als der Mutter eröffnet wird, man müsse den Jüngsten auf der Stelle ins Kinderspital Zürich bringen, kommt den Ärzten zunächst nur Unverständnis entgegen. Wie, nach Zürich? Doch nicht jetzt, wo man gerade so schöne Ferien in den Alpen gemacht hat. Dass Silvan einen Tumor haben könnte, sickert noch gar nicht richtig durch. Wie in Trance machen sich die Eltern mit Silvan schliesslich auf den Weg ins Kinderspital.

Dann geht alles sehr schnell: «Erst als ich zum ersten Mal durch die Tür mit der Aufschrift ‹Onkologie› hindurch ging, realisierte ich: ‹Doch, das ist wirklich wahr›», sagt die Mutter.

Chemo statt Kinderspielplatz

Was folgt, ist ein langer, ermüdender Kampf mit der Krankheit. Silvan ist im Kindergartenalter, als die Diagnose Nierentumor nicht nur sein Leben, sondern auch das der gesamten Familie erschüttert. Krebs. Was bedeutet das? Wie geht es nun weiter? Auf diese Fragen weiss in dieser Zeit niemand eine Antwort.

Ein Jahr lang muss Silvan immer wieder zur Bestrahlung ins Kinderspital. Ein Jahr lang heisst es für ihn: Chemo statt Kinderspielplatz. Dann, im nächsten Frühling, sagen die Ärzte endlich: Doch, jetzt ist alles gut.

«Als er mit der ersten Klasse anfing, wussten wir, dass er sterben würde.»

Irmela Pfalzgraf, Hebamme und Mutter

Aber es ist eben nicht alles gut. Keine zwei Monate später, bei der ersten Nachkontrolle im Spital, ist der Krebs wieder zurück. Im zweiten Jahr wird die Therapie deshalb noch aggressiver durchgeführt. Mit weiteren Bestrahlungen und Spritzen kämpft sich Silvan durch, bis das Jahr um ist und die Sommerferien wieder vor der Tür stehen. Dieses Mal sind die Ärzte vorsichtig. Irgendwas sei da, sagen sie, aber fürs Erste solle man noch abwarten. Dann, am Ende der Sommerferien 2013 schliesslich die ernüchternde Nachricht: Der Krebs ist zurück – eine weitere Behandlung zwecklos. Deshalb entscheidet man schlussendlich, die Therapie einzustellen. «Als er mit der ersten Klasse anfing, wussten wir, dass er sterben würde», sagt Irmela Pfalzgraf.

Wie all ihre Kinder war auch ihr jüngster Sohn Silvan ein sehr aktives Kind, erzählen die Eltern Irmela und Wolfgang Pfalzgraf.

Trotzdem, oder gerade deswegen, will Silvan noch so oft wie möglich normal die Schule besuchen. «In der ersten Woche lief noch alles ganz normal ab», erzählt Wolfgang Pfalzgraf. Die zweite Woche kostet dann schon mehr Anstrengung, und die dritte Woche noch mehr. Silvans Ziel für das Jahr: Weihnachten miterleben. «In den Monaten bis zum Dezember ging es ihm dann schon sehr schlecht», sagt Irmela Pfalzgraf. «Aber er überlebte Weihnachten.» Dem Zweitjüngsten der Familie, Flurin, gab das Hoffnung. «Er ging zu seinem Bruder hin und sagte: ‹Komm, Silvester schaffen wir auch noch!›» Und tatsächlich: Auch zum Jahreswechsel blieb Silvan noch bei ihnen. Das nächste Ziel für die Feuerthaler Familie: Noch einmal gemeinsam Hilari erleben. Die Schmerzen sind mittlerweile so stark, dass Silvan nicht mehr selbstständig laufen kann. In einer Nacht- und Nebelaktion startet Mutter Irmela deshalb einen Aufruf auf Facebook, und noch in der Nacht vor Hilari meldet sich tatsächlich jemand, der Silvan einen Kinderrollstuhl vorbeibringt. So kann der Grundschüler, gemeinsam mit seiner Familie, am nächsten Morgen den Umzug in Feuerthalen besuchen.

Nach über zwei Jahren, in denen er tapfer gegen den Krebs angekämpft hat, stirbt Silvan schliesslich im Januar 2014 – Knapp eine Woche nach dem Hilari-Umzug. Über 400 Leute nehmen an seiner Beerdigung von ihm Abschied.

Mit Blick in die Zukunft

Heute ist es gut acht Jahre her, seit sich für die Familie Pfalzgraf alles verändert hat, und es sind fünf Jahre seit Silvans Tod vergangen. So lange fühlt sich das aber gar nicht an, sagen die Eltern. In einem Café in der Schaffhauser Altstadt berichten die beiden von den wohl schwersten Jahren ihres Lebens. «Kurz nach seinem Tod haben wir uns entschieden, uns einen Hund zu holen», erzählt Irmela Pfalzgraf. Und obwohl das ursprünglich der Wunsch des Sohnes Flurin war, kann sich die Familie ein Leben ohne Hündin Jakira nicht mehr vorstellen. «Wenn sie nicht gewesen wäre, weiss ich nicht, wie es mir gehen würde», sagt sie.

Heute arbeitet Irmela Pfalzgraf nach einer Pause wieder als Hebamme. «Nach dem Tod von Silvan war ich andauernd wütend», erzählt sie. Sie konnte mit den Sorgen der Wöchnerinnen nicht umgehen und entschied sich für eine Neuorientierung, um diese Wut nicht an den Müttern auslassen zu müssen. Nach einer Ausbildung zur MFM-Kursleiterin arbeitet sie mittlerweile allerdings wieder gerne auf ihrem Beruf. Der Vater, Wolfgang Pfalzgraf, ist Physiklehrer an der BMS in Winterthur. Ausserdem engagieren sich beide mittlerweile stark für andere betroffene Eltern. Sie wollen zeigen, dass das Leben nicht vorbei sein muss, wenn das Kind gestorben ist. Wolfgang Pfalzgraf übernimmt deshalb künftig die Schaffhauser Selbsthilfegruppe «Regenbogen», wo sich Eltern treffen, die ihre Kinder verloren haben. Es ist diese Gruppe, die Irmela und Wolfgang Pfalzgraf durch ihre schwerste Zeit hindurch geholfen hat. «Die Leute dort verstehen einen einfach, ohne dass man sich lange erklären muss», sagt sie.

«Wir haben auch Bilder dabei», sagt Wolfgang Pfalzgraf plötzlich und greift in seine Tasche. Heraus zieht er eine Karte. «Silvan Andrì Pfalzgraf – 2006 bis 2014», heisst es vorne drauf, direkt unter einem grossen Bild von einem strahlenden Silvan. Faltet man die Karte auseinander, kommen einem dutzende Kinderfotos entgegen. Silvan, wie er als Baby im Arm seiner Mutter liegt. Silvan, wie er gerade in eine Geschirrspülmaschine klettern will. Silvan, wie er als Pirat verkleidet mit furchteinflössendem Blick in die Kamera starrt. Aber man sieht auch einen anderen Silvan: Im Krankenbett, der Kopf kahl. Oder neben einem Arzt, der ihm gerade eine Spritze verabreicht.

Und ganz hinten wohl eines der letzten Bilder: Die ganze Familie zusammengerückt auf dem Sofa, ein blasser aber strahlender Silvan in der Mitte.

Schattenkinder

Wenn ein Kind der Familie von so einem Schicksal getroffen wird, geht eine sehr wichtige Frage nicht selten unter: Wie geht es eigentlich den anderen Kindern? «Schattenkinder», erklärt Wolfgang Pfalzgraf, «das sind die Geschwister des erkrankten Kindes.» Die, die eben nicht mit Geschenken überhäuft werden oder nur dann in die Schule gehen müssen, wenn ihnen gerade danach ist. Vor allem für die jüngsten Mitglieder der Familie ist es häufig schwer zu verstehen, wieso der Bruder oder die Schwester eine «Sonderbehandlung» bekommt. Doch Familie Pfalzgraf schätzt sich glücklich. «Anders als bei anderen Familien haben uns die Geschehnisse noch stärker zusammengeschweisst», sagt Wolfgang Pfalzgraf.

Laut einer Studie des Kinderspitals Zürich sterben in der Schweiz jedes Jahr zwischen 400 und 500 Kinder und Jugendliche – die Hälfte von ihnen noch im ersten Lebensjahr.

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