Bits und Bytes für mehr Lebensqualität im Alter

Den Prototypen des älteren Menschen gibt es nicht. Wohlergehen auch im Alter kann nur individuell ermöglicht werden. Der Altersforscher Mike Martin setzt dabei auf «digitale Gesundheitsbildung».
Dass Gesundheit mehr bedeutet als nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen, nämlich der Zustand des körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon lange definiert. Vor drei Jahren hat sie jedoch zugefügt, dass der Mensch auch dann bis ins hohe Alter gesund sei, wenn er seine «funktionalen Fähigkeiten» aufrechtzuerhalten vermöge.

Das heisst, dass «er das tun kann, was ihm wichtig ist», erläuterte der international bekannte Altersforscher Mike Martin der Zuhörerschaft an der Senioren-Universität Schaffhausen im Saal des Park Casinos. Und der Professor, der an der Universität Zürich Gerontopsychologie lehrt und das Zentrum für Gerontologie leitet, machte deutlich, was er unter Lebensqualität, und zwar in jedem Alter, besonders aber für die Generation «60 plus», versteht: die Steuerung der Wechselwirkung zwischen individuellen Kapazitäten und Lebensumfeld. Oder in seiner von Fachbegriffen und Fremdwörtern nicht ganz freien Sprache: «Das Erstellen von individualisierten und kontextualisierten Profilen für jede und jeden.»
Vorsicht: Querschnittfalle
Die Instrumente dazu liefert die Digitaltechnik, dank der eben nicht nur Unmengen von persönlichen Daten erhoben, sondern diese auch zielgerichtet ausgewertet werden können. Allerdings steht nicht das «Werkzeug» der Elektronik für Mike Martin an erster Stelle, sondern die Frage, welche gesellschaftlichen Ziele wir uns setzen und ob wir dabei die Förderung der Lebensqualität, so wie es die globale WHO-Strategie «Gesundes Altern» tut, ins Zentrum stellen. Die heutigen digitalen Möglichkeiten einer individuellen alltagsnahen Messung der Lebensqualität im Alter bilden jedoch den Schlüssel zur Erreichung dieses Ziels. In seinem Referat nannte Martin allerdings keine konkreten Anwendungsgebiete solcher wissenschaftlich ausgewerteter Daten (etwa bezüglich Alterspolitik, Angebote in der Freizeitgestaltung oder Pflege), sondern setzte sich vornehmlich kritisch mit der Interpretation der vielen bisherigen Studien und Forschungsberichte in diesem Bereich auseinander: Sie führten bloss zu «Querschnitt»-Erkenntnissen, die für das Individuum nur sehr beschränkt zutreffen und kaum Vorhersagen für die Gesundheitsbildung des Einzelnen erlauben. Anders die Nutzung von über eine längere Zeit und vom Einzelnen selbst erhobenen Daten: «Wenn Menschen über die Möglichkeit verfügen, sich gut informiert an gesundheitsrelevanten Entscheidungen zu beteiligen, kann immer mehr Menschen der Erhalt ihrer dynamischen Lebensqualität ermöglicht werden.»
Das alles klang im Vortrag von Mike Martin sehr theoretisch, doch vor einem sehr konkreten Hintergrund: Die steigende Lebenserwartung (bereits erreichen in der Schweiz 87 Prozent der Menschen ein Alter von über 65 Jahre) sowie die Multimorbidität (Mehrfach-, meist chronische Erkrankungen, wovon 70 Prozent der über 75-Jährigen betroffen sind) bringen auch einen Wandel des Gesundheitsbegriffs: Er umfasst immer stärker die Lebensqualität. Doch diese wird noch immer von gängigen Vorstellungen und Annahmen über ältere Menschen geprägt und deckt weder die Fähigkeiten und noch die Gesundheitsbedürfnisse älterer Menschen ab, die im – dank digitaler Technik nun messbaren – individuellen Lebensverlauf des Menschen gründen. Bits und Bytes bleiben Masseinheiten für Datenmengen und sind keine Anti-Aging-Mittelchen, aber, so titelte Mike Martin seinen Vortrag, sie gehören zur «digitalen Gesundheitsbildung 60+, die unsere Gesellschaft gesünder macht».