«Bis das System in Scherben geschlagen ist»

Zeno Geisseler | 
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Urmutter und Ururenkelin: die älteste und die jüngste Ausgabe der «schaffhauser az». Bild: Zeno Geisseler

Die «schaffhauser az» hat sich seit ihrer Gründung vor 100 Jahren immer wieder gewandelt. Erschreckend ist allerdings ihre unkritische Haltung gegenüber dem linken Staatsterror.

Vergilbt und fleckig ist sie geworden, die allererste Ausgabe der «Arbeiterzeitung», die im Schaffhauser Stadtarchiv aufbewahrt wird. Generationen von Fingern haben ihre Spuren auf dem Papier hinterlassen. Die fragilen Zeitungsseiten, nie dafür gemacht, noch 100 Jahre später gelesen zu werden, sind an gewissen Stellen sanft restauriert worden. Die Frakturschrift ist für heutige Augen ungewohnt.

Am Samstag, dem 30. November 1918, ­erschien die «Arbeiterzeitung» zum ersten Mal. Der Schweizer Generalstreik war nur gerade zwei Wochen zuvor zu Ende gegangen, der Erste Weltkrieg nicht ganz drei Wochen früher. Und die Machtübernahme der Kommunisten in Russland war erst ein Jahr alt. Diese Zeiten des Umbruchs, des Aufbruchs und auch der Zerstörung be­flügelten ein paar radikal linke Schaffhauser, ein eigenes Medium auf die Beine zu stellen. Wenn auch anfänglich nur als Kopfblatt des Zürcher «Volksrechts», wie der Schaffhauser Historiker Eduard Joos in ­seiner Dissertation «Parteien und Presse im Kanton Schaffhausen» von 1975 festhält.

Schwartenmagen, Zigarren, Pelze

Aber was wollten diese linken Journalisten und Agitatoren erreichen? Die Redaktion versprach, «die Wahrheit zu verkünden, unbekümmert darum, ob es wohl oder wehe tut». Die «Arbeiterzeitung» werde «als unerschrockener Anwalt der wirtschaftlich Schwachen einen Kampf führen, bis zu jenem Tage, da das heute herrschende System in Scherben geschlagen ist, da wir auf Erden wirklich Brüder, Menschen geworden sind. – Mit dem Volke – für das Volk!»

Ein solcher Aufruf würde heute wohl als verfassungsfeindlich eingestuft, damals aber war die Resonanz nicht sehr gross – jedenfalls, wenn man das bürgerliche «Intelligenzblatt», wie die SN damals hiessen, als Referenz nimmt. Erst am 30. Dezember 1918 meldeten die SN, dass da «ein neues sozialistisches Blatt» erscheine, «gewissermassen unter Ausschluss der Öffentlichkeit», gelesen «nur in den Kreisen der dem linken Flügel der Partei angehörenden ­Genossen».

Wie jedes Start-up war auch die «Arbeiterzeitung» auf Geld angewiesen. In den Anfangszeiten finden sich denn auch immer wieder Aufrufe, doch bitte Werbung zu schalten und die Inserenten zu berücksichtigen. Bereits in der allerersten Ausgabe inserierte der Gasthof zum Eichenen Fass in der Webergasse («täglich frischer Schwartenmagen!»), ein Lokal, das bis heute stark mit der Schaffhauser Linken verbunden ist. Überraschender sind Anzeigen für so bourgeoise Produkte wie Pelzwaren (Carl Stemmler in der Vordergasse) oder Zigarren (200 Stück «Schaffhauser Stolz» für 9.70 Franken). Zum Vergleich: Das Jahresabo der «Arbeiterzeitung» kostete 1918 13.50 Franken, das sind heute knapp 70 Franken.

«Unsere russischen Genossen»

1929 hatte sich das Blatt in der Schaffhauser Medienwelt etabliert. Unter anderem war es nun amtliches Publikationsorgan der Stadt Schaffhausen und der ­Gemeinden Neuhausen, Feuerthalen und Langwiesen, wie es im Zeitungskopf hiess. Dort fällt noch etwas anderes auf: Die «Arbeiterzeitung» war nicht mehr ein sozial­demokratisches Blatt, sondern unter Walther Bringolf zum «offiziellen Organ der Kommunistischen Partei des Kantons Schaffhausen» geworden.

Aus heutiger Zeitungslesersicht sind diese Jahre die ödesten. Zwar hielt die moderne Technik Einzug, die AZ zeigte zum Beispiel schon damals erste Fotos, viel früher als die SN, aber es waren keine Aufnahmen vom Fronwagplatz, sondern zum Beispiel «neue Typen von Arbeiter-Wohnhäusern in Moskau und Swerdlowsk». Gleich propagandistisch waren die Texte, in der Regel Lobhudeleien auf Erfolge «unserer russischen Genossen».

Diese kommunistische Phase sollte aber nicht lange anhalten. Walther Bringolf fiel in Moskau in Ungnade und schloss sich der Kommunistischen Partei (Opposition) an, und das Gleiche passierte mit der «Arbeiterzeitung». Als sich Kommunisten und SP unter dem Eindruck der Umwälzungen in Nazi-Deutschland dann wieder annäherten, folgte auch die AZ. 1939, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, trug sie den Untertitel «Organ der Sozialistischen Arbeiterpartei des Kantons Schaffhausen».

Im selben Jahr erfolgte auch der komplette Bruch mit Moskau. Im August 1939 wurde deutlich, dass Deutschland und die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt unterzeichnen würden. Diese Nachricht erschütterte die Kommunisten im Westen, welche Stalin und die Sowjetunion so sehr als ­Bastion gegen den Nationalsozialismus verstanden hatten. In ihrer romantischen Verklärung des Stalinismus hatten viele Erzlinke übersehen, dass der Kreml-Herrscher sogar noch mehr als Hitler ein gnadenloser Machtpolitiker war, für den Ideologie bloss ein Mittel zum Zweck war.

Bringolf rechnete in der AZ vom 23. August 1939 mit Stalin ab. Er sprach von Liquidationen in Russland und der Vernichtung der Opposition, und er sah voraus, dass der Hitler-Stalin-Pakt das Ende Polens bedeuten würde. Falsch lag Bringolf allerdings mit seiner Mutmassung, dass «die englisch-französische Hochfinanz» den Krieg nicht wolle, und zwar, weil sie die Niederlage Hitlers nicht wolle. Hitler sei ­ihnen immer noch lieber als Stalin.

Tage später, nach der offiziellen Unterzeichnung des Nichtangriffspakts in Moskau, berichtete die «Arbeiterzeitung», wie der deutsche Aussenminister Joachim von Ribbentrop in Moskau am Flughafen empfangen worden sei und wie der Flughafen mit Hakenkreuzfahnen geschmückt gewesen sei. In diese Nachricht war eine «Anmerkung des Setzers» der AZ eingefügt: «Was mag wohl Thälmann und mit ihm die im Konzentrationslager schmachtenden deutschen Kommunisten denken?»

Die AZ rechnete mit den Schweizer Kommunisten ab, welche den Nichtangriffspakt in ihrem Parteiblatt, der «Freiheit», als grossen Erfolg feierten: «Man wird sich fragen dürfen, was wohl die ‹Freiheit› und die ‹Front› (Blatt der Schweizer Faschisten, Anm. d. Red.) heute noch hindert, zu fusio­nieren.»

Im Dezember 1939 lautete der Titel eines AZ-Leitartikels dann sogar: «Stalin hat den neuen Weltkrieg auf dem Gewissen.»

Die AZ als Lieblingslektüre der Nazis

Die Schweizer Behörden hatten Mühe mit dem Blatt. Ab März 1941 wurde die AZ unter Vorzensur gestellt, wie es in einem Bericht des Bundesrats über die Schweizer Pressepolitik von 1946 heisst. In der Folge gehörte ausgerechnet die Botschaft von Nazi-Deutschland in Bern zu den eifrigsten Lesern des Schaffhauser Arbeiterblatts: Denn was dort erschien, war offiziell abgesegnet und zeichnete eine genaue Linie der Haltung der Schweiz.

Meldungen aus Schaffhausen schafften es in den bewegten frühen Jahren der «Arbeiterzeitung» fast nie auf die Frontseite, und schon gar nicht als Aufmacher. Dieser Platz war für die Weltpolitik reserviert. Dies änderte sich aber, als die Stadt am Samstag, 1. April 1944, irrtümlich von alliierten Flugzeugen bombardiert wurde. Die folgenden Ausgaben widmeten dem Ereignis zahlreiche Seiten, darunter etwa eine bedrückende Reportage über einen Gang durch die Stadt, in der detailliert von brennenden Häusern und Leichenfunden berichtet wird.

Zum Ende des Kriegs ist es vor allem die Ausgabe vom 1. Mai 1945, die auffällt. Die erste Seite ist mit «Zeitenwende!» betitelt, und dabei ist nicht nur die sich abzeichnende Kapitulation Nazi-Deutschlands gemeint. Die «Arbeiterzeitung» schob die Kriegsschuld nun nicht mehr auf Stalin, sondern, neben Hitler, auch auf den Kapitalismus. Nur die Errichtung der sozia­listischen Gesellschaftsordnung sei ein ­Garant dafür, dass es nicht schon bald wieder zum Krieg komme. In seiner Rede zum 1. Mai 1945 sagte Stadtpräsident Bringolf, die Machtstellung des Kapitalismus und des Profits müsse gebrochen werden. Die sozialistische Idee habe gesiegt.

«Von den Roten Khmer bis zur SP-Sektion einer kleinen Schweizer Stadt zieht sich ein weiter Boden gemeinsamen Bemühens.»

SP des Kantons Schaffhausen, Artikel zum 1. Mai 1975, veröffentlicht in der «Arbeiterzeitung»

Der reale Sozialismus hinter dem Eisernen Vorhang liess die AZ-Redaktoren aber wenigstens temporär ernüchtern. Zum Volksaufstand in der DDR 1953 schrieb die AZ, die machthabende SED betreibe «ein Terror- und Spitzelregime». Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse unter dem russischen Besatzungsregime in Ostdeutschland seien traurig, der Aufstand sei nichts anderes als ein «Aufschrei gequälter Kreaturen gegen die Entrechtung, gegen die Unterdrückung ihrer persönlichen Freiheit». Das hätte so auch in einer NZZ stehen können. Später betonte die AZ immer ­wieder, dass Sozialismus und Demokratie Hand in Hand gehen müssten.

Lob für die DDR-Familienpolitik

Solchen Lichtblicken der Vernunft stehen allerdings immer wieder erstaunliche Anbiederungen gegenüber – nicht nur von der Redaktion, sondern auch von den Sozialdemokraten. So schrieb die SP zum 1. Mai 1975 in der AZ: «Der Sozialismus ist eine weltweite Idee … von den Roten Khmer bis zur sozialdemokratischen Sektion einer kleinen Schweizer Stadt zieht sich ein weiter Boden gemeinsamen Bemühens.» – Gemeinsames Bemühen? Unter dem Terrorregime der Roten Khmer sollten in Kambodscha über zwei Millionen Menschen ums Leben kommen.

Als 1989 die Berliner Mauer fiel, war vom Geist des Sozialismus auch in der AZ nicht mehr viel zu spüren. Seltsam distanziert berichtete die Arbeiterzeitung von diesem monumentalen Ereignis: «Die DDR öffnet ihre Grenzen», berichtete die Zeitung auf knappen drei Spalten auf der Front. Auf derselben Seite war praktisch gleich gross ein Artikel über die völlig bedeutungs­­-losen Parlamentswahlen in Jordanien ­abgedruckt.Die Kritik am Terror- und Spitzelregime war auch verflogen: Kurz nach der Maueröffnung durfte SP-Nationalrätin Gret Haller unwidersprochen die fortschrittliche Familienpolitik der DDR loben, wo «allein­erziehende Mütter in garantierter Existenz, einem Vorrecht auf eine bescheidene Wohnung, ausreichendem Elternurlaub und Betreuungsstätten für ihre Kinder leben». Und weiter: Es gebe in der DDR Leute, die «die menschenwürdige Seite des Sozia­lismus bewahren wollten». Haller folgerte: «Da könnten neue Formen entstehen, die uns neidisch machen würden.»

 

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