«Es hiess: Wir fahren in die Ferien»

Isabel Heusser | 
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Ota Danek ist einer von 12 000 Menschen, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 von der Tschechoslowakei in die Schweiz flüchteten.

Als die Panzer anrollen, befindet sich Ota Danek in einem Ferienlager nahe der polnischen Grenze. Es ist der 12. August 1968, Danek ist elf Jahre alt, als eine halbe Million Soldaten des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschieren und den Prager Frühling blutig beenden. An diesem Tag sterben Dutzende Menschen, besonders in den Städten herrscht Chaos, die Stimmung im Ferienlager ist angespannt. Ota Danek ist zu jung, um zu verstehen, was vor sich geht. Die Leiter beruhigen die Kinder: «Sie sagten, wir sollten keine Angst haben, die Amerikaner würden kommen und uns befreien», sagt Danek.

Doch die Amerikaner kommen nicht. Knapp ein Jahr später flieht die Familie in die Schweiz, nach Thayngen. Dort lebt Ota Danek, inzwischen 59 Jahre alt, heute noch. Er ist Inhaber des SRS-Verlags, produziert die Zeitschrift «Regionalsport» und das Magazin «Best of Schaffhausen» und hat in seiner Giesserei an der Industriestras­­se ein Eventlokal eingerichtet. Dort sitzt er jetzt an einem Tisch und rührt in seinem Kaffee. Es ist Morgen, die Halle ist in violettes Licht getaucht, im Hintergrund läuft Popmusik. Auf einem Regal sind Figuren aus Bronze und Aluminium ausgestellt, die Danek gegossen hat und im Auftrag von Firmen herstellt. Der Falkenkopf etwa für den Falkenpreis, der jährlich an der von Danek organisierten Schaffhauser Sportler- und Künstlergala verliehen und seit Jahren von Rainer Maria Salzgeber moderiert wird.

Die Besetzung ändert alles

Danek erzählt schnell und schnörkellos von der Zeit, die sein Leben und jenes der Familie auf den Kopf stellt. «Wir hatten viel Glück, dass sich das Leben unserer Familien so entwickelt hat, wie es heute ist.» Glück, dieses Wort wird er im Gespräch noch oft verwenden.

«Das war eine brutale Invasion, doch man hat versucht, uns Kinder abzuschirmen.»

Ota Danek

Aufgewachsen ist er in Hradec Králové, einer Stadt hundert Kilometer östlich von Prag. Vater und Grossvater besitzen dort eine Stahlgiesserei mit 50 Angestellten, die Mutter ist Laborantin. Danek, nach seinem Vater benannt, wächst in einem unbekümmerten Umfeld auf. Das ändert sich mit der Besetzung der Tschechoslowakei. Panzer säumen die Strassen, an jeder Haus­ecke stehen Soldaten. «Das war eine brutale Invasion, doch man hat versucht, uns Kinder abzuschirmen. Die Dimensionen dieser Besetzung konnten wir nicht einschätzen.» Erst später sei ihm das Ausmass bewusst geworden.

Die Besetzung wird Alltag. Im Land, das zuvor eine vorsichtige Liberalisierung erlebte, dreht sich der Wind. Die Giesserei der Familie wird verstaatlicht. Der Vater muss umdenken. Er bekommt einen Job als Vorarbeiter bei GF in der Schweiz, ein halbes Jahr lebt er allein dort. Zurück in der Tschechoslowakei sieht er keine Zukunft mehr für die Familie. «Er war mit dem neuen Regime nicht einverstanden.» 1969 flieht die Familie in die Schweiz. «Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen», sagt Danek. Öffentlich redet keiner von Migration oder Flucht. Der Bub darf … … niemandem sagen, wohin die ­Familie reist. «Es hiess einfach, wir würden in die Ferien fahren.» Ein wenig glaubt er das auch selbst.

Mit dem voll beladenen Familienauto, einem Kleinwagen, geht es mitten in der Nacht durch Österreich über die «Grenzsammelstelle» in St. Margrethen nach Schaffhausen. Wenige Tage später werden in der Tschechoslowakei die Grenzen dicht gemacht. Insgesamt flüchten damals rund 12 000 Personen in die Schweiz.

Keine Zeit für Heimweh

Als er und seine Familie ankommen, kann er kein Wort Deutsch. Doch die Flüchtlinge werden mit offenen Armen empfangen. «Die Solidarität war riesig», sagt Danek. Der Vater arbeitet wieder bei GF, die Mutter bekommt Arbeit beim Verpackungshersteller Augustin in Thayngen. Der kleine Ota und sein Bruder Ivo gehen in die Schule der Gemeinde. An seinen damaligen Lehrer erinnert er sich noch genau. «Er hiess Heinz Hunger und hat sich unser und der anderen geflüchteten Familien angenommen.» Viel Zeit für Heimweh bleibt nicht. Nach der Schule geht er jeweils zum Deutschunterricht, er spielt Fussball und Eishockey, findet rasch Freunde. «Wir haben uns gut eingelebt.» Nach nur einem Jahr bei GF macht sich der Vater selbständig und übernimmt eine Giesserei in Jestetten. Später eröffnet er eine eigene Kunstgiesserei in Thayngen.

Bald ist klar: Die Familie wird in der Schweiz bleiben. «Für meinen Vater war das von Anfang an klar. Für meine Mutter weniger, sie hatte in der Tschechoslowakei eine gute Stelle und musste hier in einer Fa­brik arbeiten.» Ota Danek geht bei seinem Vater in die Lehre, 1994 übernimmt er den Betrieb. Doch seine grosse Leidenschaft gilt dem Sport. «Ich habe meine ganze Freizeit auf Sportplätzen verbracht und wie ein Besessener trainiert», sagt er und lacht. Danek wird NLA-Fussballgoalie, trainiert verschiedene Mannschaften, zuletzt den VFC Neuhausen. «Sport», sagt er, «ist ein gutes Mittel zur Integration.» Auf dem Fussballplatz hat er auch seine Frau Renate kennengelernt; mittlerweile sind die beiden seit 34 Jahren verheiratet und haben mit Melanie (32) und Mirko (29) zwei erwachsene Kinder. Sohn Mirko führt nebenan den Bowling Five Eventpark. Vor zwei Jahren ist Ota Danek Grossvater geworden.

«Wir hatten grosses Glück»

Blickt Ota Danek auf sein Leben zurück, verspürt er vor allem eines: Dankbarkeit. «Meine Eltern wollten mir und meinem Bruder eine bessere Zukunft bieten, als wir sie wohl in der Tschechoslowakei gehabt hätten.» Die Schweiz, sagt er, sei wie ein Paradies. «Wenn ich an die Flüchtlinge denke, die heute in die Schweiz kommen, wird mir bewusst, dass ich als Kind in einer ähnlichen Lage war. Es ist tragisch zu sehen, wie viele Leute bei Fluchtversuchen ums Leben kommen», sagt er. «Meine Familie und ich ­kamen zu einer Zeit in die Schweiz, als man Flüchtlingen viel Wohlwollen entgegenbrachte. Heute schaut man ihnen viel kritischer entgegen.» Er wird nachdenklich, blickt auf den Tisch. «Wir hatten grosses Glück.»

«Ich werde oft gefragt, ob ich Rheintaler bin.»

Er wolle seine Wurzeln weder vergessen noch verdrängen, «aber ich fühle mich ganz klar als Schweizer». Amüsiert erzählt Danek, wie er ab und zu auf seinen Akzent angesprochen wird: «Ich werde oft gefragt, ob ich Rheintaler bin.» Das macht ihn auch stolz, die Identifikation mit der Schweiz ist ihm ­wichtig. Für die Fussballnati-Spieler ­Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri, die an der Weltmeisterschaft die Hände zum Doppeladler formten und damit einen Skandal provozierten, hat er kein Verständnis. «Sie sollten dankbar sein, dass sie in der Schweiz ­leben dürfen.»

Ein- bis zweimal jährlich reist er jeweils nach Tschechien, besucht Familie und Freunde. «Ich verspüre jedes Mal ein Kribbeln, wenn ich über die Grenze fahre», sagt er. «Es ist mehr, als in die Ferien zu fahren.» Manchmal frage er sich, wie sich sein Leben entwickelt hätte, wenn er in Tschechien geblieben wäre. «Aber das kann ich mir nicht vorstellen.» Den Wunsch nach Rückkehr habe er nie verspürt. «Vielen Menschen dort geht es wirtschaftlich nicht gut.»

Eigentlich, sagt er, vermisse er nichts in der Schweiz. «Wir durften hier ein neues Leben anfangen. Und das macht mich sehr glücklich.»

Für die Freiheit eines Staates auf die Strasse gegangen

Am 22. August 1968 schritt ein Demonstrationszug über den «Platz» in der Schaffhauser Altstadt. Bild: Max Baumann

von Dario Muffler

Die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen der Sowjetunion löste auch in Schaffhausen eine Welle der Solidarität für die Tschechoslowakei aus. An diversen Kundgebungen liefen sämtliche Parteien Schulter an Schulter durch die Strassen.

Als Vergewaltigung des Tschechoslowakischen Staates habe man den Einmarsch der Sowjetunion empfunden. Das sagt Walter Stamm, ehemaliger Thaynger Gemeinderat und SP-Nationalrat (1983–1987), heute. Damals, Ende August 1968, nahm er in Thayngen an einer Kundgebung für die CSSR teil, wie die damalige Tschechoslowakische Sozialistische Republik in allen Zeitungsberichten genannt wurde. «Unsere Sympathie gehört dem tschechischen Volk, unser Glaube der Demokratie in der ganzen Welt», sagte er damals in seiner Rede als amtierender Gemeinderat. Dieser hatte neben den beiden Kirchgemeinden sowie den politischen Parteien zur friedlichen Demonstration aufgerufen. «Wir haben uns gesagt, dass man sich das nicht gefallen lassen darf», erinnert sich Stamm. «Es ging um die Freiheit eines Staates und um diejenige jedes Einzelnen.»

Diesem Appell folgten nicht nur in Thayngen, sondern auch in der Stadt Schaffhausen und vielen anderen Schweizer Städten an verschiedenen Kundgebungen zahlreiche Menschen. «Es hat gutgetan, dass sich so viele Leute an den Kundgebungen beteiligt haben», sagt Stamm.

Einigkeit von links bis rechts

Die Teilnehmer an den Demonstra­tionen kamen aus allen politischen Lagern. «Niemand fand den Einmarsch der Sowjetunion gut», sagt Stamm. «Da gab es auch in der Sozialdemokratischen Partei keine Stimmen, die das Vorgehen gerechtfertigt haben.»

Vielmehr sei Alexander Dubček, der Parteichef der Kommunistischen Partei, ein Vorbild für manche Schweizer Sozialdemokraten gewesen, sagt Max Baumann, ein anderer Zeitzeuge. «Damals waren die Sympathien der Linken für den Kommunismus noch verbreitet», sagt Baumann. «Und Dubček hatte versucht, eine andere Form als den sowjetischen Kommunismus zu etablieren, der vielleicht als Vorbild für andere Staaten hätte dienen können.» Baumann begleitete die Kund­gebung, die in Schaffhausen statt­gefunden hatte, als Fotograf. «Aber ich hatte wie alle ein Jahr lang die Daumen gedrückt, dass die Liberalisierungsbestrebungen in der CSSR erfolgreich sein würden», so Baumann.

«Erzürnt, aber ohne Gewalt»

Zu dieser Kundgebung in Schaffhausen aufgerufen hatten das Gewerkschaftskartell des Kantons Schaffhausen und die Sozialdemokratische Partei. Auch Kantonsschüler hatten eine eigene Demonstration organisiert. Sie versammelten sich bei der Kantonsschule und liefen auf den «Platz» in der Altstadt. «Keine Kundgebung ist nutzlos, wenn wir durch sie einsehen, dass das Ringen der Tschechoslowaken um die Freiheit auch unsere Sache ist; wenn auch wir für sie kämpfen», sagte etwa eine Kantonsschülerin in ihrer Rede, wie in den «Schaffhauser Nachrichten» vom 26. August 1968 zu lesen ist.

Trotz des Ärgers, der die Schaffhauser auf die Strasse trieb, kam es zu keinen Gewaltakten. «Die Kundgebungen liefen friedlich ab», sagt Baumann. «Aufgebracht war man aber sehr: Die Sowjetunion wurde auf vielen Plakaten mit dem Nazireich gleichgesetzt.» 

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