«Heute sind wir bei einem anderen Zahnarzt»

Isabel Heusser | 
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Gleicher Taxpunktwert, ähnliche Preisgestaltung: Mit diesen Argumenten lockt ein Kieferorthopäde der Schulzahnklinik angeblich Patienten in seine Praxis. Bild: Eric Bührer

Ein Kieferorthopäde soll seit Jahren versuchen, Patienten von der Schulzahnklinik in seine Privatpraxis zu holen. Das kantonale Erziehungsdepartement schweigt dazu.

Die Regeln sind klar: Schaffhauser Staatsangestellte dürfen nur nebenberuflich arbeiten, wenn kein Interessenkonflikt besteht. Das gilt auch für die Zahnärzte der Schulzahnklinik (SZK). Private Berufskollegen hatten moniert, dass ein Kieferorthopäde der SZK Patienten in seiner Praxis in Schaffhausen weiterbehandeln könne (SN vom 27. Februar). Solche Fälle seien ihm nicht bekannt und ein Interessenkonflikt nicht vorhanden, hatte Thomas Schwarb Méroz, Dienststellenleiter der Primar- und der Sekundarschule 1 im Schaffhauser Erziehungsdepartement, gesagt. Doch nun zeigt sich: Der besagte Kieferorthopäde versucht offenbar seit Jahren, Patienten aus der SZK abzuwerben. Das bestätigen sechs Personen, deren Kinder in der SZK behandelt wurden oder die selbst Patient waren, gegenüber den SN. Alle wollen anonym bleiben.

Fall 1: «Der Kieferorthopäde bot mir an, meinen Sohn zum gleichen Taxpunktwert in seiner Praxis zu behandeln, weil die Klinik ausgelastet sei. Ich bin aber nicht darauf eingegangen, weil ich diesen Vorschlag seltsam fand.» (Eine Mutter)

Fall 2: «Mein Sohn war seit drei Jahren bei diesem Kieferorthopäden in Behandlung. Irgendwann hiess es, mein Sohn brauche eine feste Spange, aber dafür müsse er in die Privatpraxis kommen. Ich habe das nicht verstanden. Für solche Behandlungen ist doch die Schulzahnklinik da. (Ein Vater)

Fall 3: «Trotz Spange wurde meine Zahnstellung jahrelang nicht besser. Der Kieferorthopäde bot meiner Mutter an, die Behandlung in seiner Praxis zum gleichen Preis fortzuführen. Das kam für mich aber nicht infrage, denn ich hatte starke Schmerzen wegen der Spange. Schliesslich suchte meine Mutter einen neuen Zahnarzt. Als dieser meine Spange sah, sagte er, das sei ein Pfusch. Meine Mutter hat später mithilfe eines Rechtsbeistandes Geld vom Kanton zurückgefordert und auch erhalten.» (Eine Patientin)

Fall 4: «Mein Sohn war bei diesem Arzt in Behandlung und brauchte eine Spange. Kaum erhielt ich vom Sozialversicherungsamt eine Kostengutsprache für die Behandlung, bekam ich einen Anruf aus seiner Praxis. Es hiess, ich solle einen Termin bei ihnen für die weitere Behandlung abmachen. Ich lehnte ab. Als ich das nächste Mal in der Klinik war, stürmte der Arzt auf mich zu und sagte mir, er habe hier keine Termine mehr frei und müsse meinen Sohn in seiner Praxis behandeln. Ich fühlte mich bedrängt und kontaktierte die IV-Stelle Schaffhausen. Dort sagte man mir, ich könne den Kieferorthopäden frei wählen. Ich habe mich dann für einen anderen Arzt entschieden.» (Eine Mutter)

Fall 5: «Der Kieferorthopäde wollte meinen Sohn in seiner Praxis behandeln und begründete dies damit, dass man dort flexiblere Termine als in der Schulzahnklinik anbieten könne. Ich wollte aber bei der Schulzahnklinik bleiben, da ich als alleinerziehende Mutter auf die Subventionen des Kantons angewiesen bin. Der Kieferorthopäde bot mir deshalb an, die Rechnungen so zu gestalten, dass die Krankenkasse zumindest einen Teil übernehmen würde. Bei jedem Termin in der SZK sagte er mir, ich solle in seine Praxis wechseln, was ich tat. Aber die Zähne meines Sohnes wurden nicht besser. Heute sind wir bei einem anderen Zahnarzt.» (Eine Mutter)

Fall 6: «Meine Kinder wurden erst in der Schulzahnklinik behandelt, dann wechselten wir in die Privatpraxis des Kieferorthopäden. Was wir dort erlebten, gab mir ein ungutes Gefühl. Weil der Zahnschmelz meiner Tochter schlecht ist, empfahl mir der Kieferorthopäde, die Zähne komplett abschleifen und überkronen zu lassen. Das hätte etwa 20 000 Franken gekostet und wäre von der IV übernommen worden. Mir schien, als ginge es dem Arzt nur ums Geld, und einen so schweren Eingriff wollte ich meiner Tochter nicht zumuten. Also suchte ich mir einen neuen Zahnarzt. Der bestätigte, dass der Zahnschmelz meiner Tochter schlecht sei, aber deswegen müsse man die Zähne nicht abschleifen.» (Eine Mutter)

Abwerbung nicht erlaubt

Der Kieferorthopäde will dazu keine Stellung nehmen. Dienststellenleiter Schwarb Méroz sagt, als Reaktion auf den Artikel der SN vom 27. Februar habe sich eine Person bei ihm gemeldet und von einem «Abwerbeversuch» berichtet; dieser liege rund zehn Jahre zurück, man werde ihm nachgehen. Das Abwerben von Patienten sei gemäss Personalverordnung des Kantons nicht erlaubt. Die geschilderten Fälle will er aufgrund «fehlender Daten» nicht kommentieren. «Eine Stellungnahme zu anonymen Vorwürfen ohne Personenangaben, die Angabe, wann das geschehen ist, und ohne ausführliche Kenntnis der Umstände ist nicht seriös.» Das Erziehungsdepartement sei jederzeit bereit, Beanstandungen entgegenzunehmen und – soweit angezeigt – die nötigen Abklärungen in Angriff zu nehmen sowie allfällige Massnahmen einzuleiten.

Auf die Frage, ob in der SZK tatsächlich ab und zu keine Termine mehr frei sind, sagt er: «Die Schulzahnklinik wird bezüglich Qualität und Wirtschaftlichkeit straff geführt, weshalb es temporär zu terminlichen Engpässen und Wartelisten kommen kann. Das ist normal und kommt in anderen, guten Praxen ebenfalls vor.»

Wann ist es denn nun legitim, SZK-Patienten in einer Privatklinik weiterzubehandeln? «Wenn das Patientenwohl in der Klinik nicht gewährleistet ist oder der Patient auf ausdrücklichen Wunsch privat behandelt werden will», sagt Schwarb Méroz. «Das alles in Absprache mit der Klinikleitung.»

An der Universität Zürich hält man wenig von einer Therapie mit Myobrace

Die Schulzahnklinik geriet in die Schlagzeilen, weil sie ein umstrittenes System für präventive kieferorthopädische Behandlungen namens Myobrace verwendet. Schaffhauser Zahnärzte kritisierten, der Nutzen von Myobrace sei nicht erwiesen und führe zu unnötigen Röntgenaufnahmen bei Kindern ab fünf Jahren.

«Die wissenschaftliche ­Datenlage ist sehr dünn.»

Dr. Stefan Baumgartner, Fachzahnarzt ­Kieferorthopädie,

Die SN erkundigte sich, was Experten von Myobrace halten. Am Zentrum für Zahnmedizin (ZZM) der Universität Zürich wird Myobrace nicht für Therapien verwendet. «Die wissenschaftliche Datenlage ist sehr dünn, und für den Nutzen der Therapie fehlt zurzeit die Evidenz», sagt Dr. Stefan Baumgartner, Fachzahnarzt für Kieferorthopädie (CH) und Oberassistent am ZZM. Eine myofunktionelle Therapie samt Panoramaröntgenbild bereits bei fünfjährigen Kindern zu verordnen, sei unüblich. Eine kieferorthopädische Abklärung macht meist erst im Alter von sieben bis acht Jahren Sinn. Ein früherer Behandlungsstart ist gemäss Baumgartner nur in ganz seltenen Fällen indiziert.

An den sechs Schulzahnkliniken in Zürich werden nur kleinere kieferorthopädische Behandlungen vorgenommen; für aufwendigere Behandlungen werden die Kinder in Absprache mit den Eltern an Fachzahnärzte für Kieferorthopädie in Privatpraxen oder an das Zentrum für Zahnmedizin überwiesen, so Baumgartner. Dass ein Zahnarzt neben seiner Tätigkeit an einer Schulzahnklinik noch eine Privatpraxis im gleichen Fachgebiet führt, beurteilt er als «fragwürdig». Laut Baumgartner sollten aufwendige kieferorthopädische Behandlungen von ausgewiesenen Fachzahnärzten behandelt werden, denn «Kieferorthopäde» ist kein geschützter Titel. Jeder Zahnarzt kann sich auch ohne entsprechende Weiterbildung als Kieferorthopäde bezeichnen.

Ausbildung nicht nachvollziehbar

Nur: In der Schaffhauser Schulzahnklinik sind drei von fünf Kieferorthopäden sowie eine Zahnärztin nicht im Medizinalberuferegister aufgeführt. Das heisst, es ist nicht nachvollziehbar, was für eine Ausbildung sie durchlaufen haben. Die anderen zwei Kieferorthopäden in der SZK haben einen Fachzahnarzt-Titel aus Deutschland.

Die SZK mache eine seriöse Personalauswahl mit Prüfung sämtlicher Unterlagen, sagt Schwarb Méroz. Die Mitarbeitenden verfügten über die gesetzlich vorgeschriebenen Anforderungen und fachlichen, universitären Qualifikationen in ihrem Einsatzbereich und befänden sich in ständiger Weiterbildung. «Für Mitarbeitende der SZK wird der Eintrag im Medizinalberuferegister erst ab Ende 2019 obligatorisch sein», so Schwarb Méroz. «Es ist auch in anderen Kliniken und Praxen so, dass nicht alle Titel eingetragen werden.» Die Schulzahnklinik habe schon vor einiger Zeit für alle nicht eingetragenen Mitarbeitenden die Unterlagen beim Bundesamt für Gesundheit zum Eintragen eingereicht. Die Gesuche seien in Bearbeitung. (heu)

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