«Man muss kämpfen und an sich glauben»

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Von klein auf ist Miguel Camero sehr chaotisch und unaufmerksam. Woran das liegt, wusste der Schaffhauser Beatboxer lange nicht. Erst spät erkannte er, dass er unter ausgeprägtem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) leidet.

von Ronja Bollinger

Heute Abend wird im Schweizer Fernsehen ein Dokumentarfilm über das Leben mit ADHS ausgestrahlt. In der Sendung sprechen auch Sie über Ihre Erlebnisse. Wie kam es zu dieser ­Zusammenarbeit?

Miguel Camero: Im Frühling war ich als Künstler und Botschafter für Menschen mit ADHS an der Schaffhauser Fachtagung der Berufsbildung. Vor dem Anlass wurde ich von der Autorin des Filmes angefragt, ob ich bereit wäre mitzumachen. Da ich es eine gute Sache fand, sagte ich ihr zu.

Wann wurde ADHS bei Ihnen festgestellt?

Ich war Mitte zwanzig und in einer Beziehung mit einer Frau mit starkem ADHS. Ich wusste nicht immer, wie ich damit umgehen sollte, und kaufte mir einen Ratgeber über ADHS in der Beziehung. Beim Lesen des Buches stellte ich fest, dass alles, was beschrieben wurde, auf mich zutrifft. Ich wusste schon immer, dass etwas mit mir nicht ganz stimmt, dass ich anders bin. Als ich dann das Buch las, realisierte ich: Ich habe ADHS.

Haben Sie Ihr ADHS dann gleich abklären lassen?

Ich habe lange nichts abklären lassen, da für mich der Fall klar war. Einige Jahre später wurde ich Botschafter für ADHS, aber ohne eine ärztliche Bescheinigung. Dieses Jahr habe ich mir gesagt: Wenn ich schon Botschafter bin, will ich es auch abklären. Denn oft kamen Zweifel auf bei meinem Gegenüber, wenn ich als Botschafter sprach, aber keine Bestätigung hatte. Also bin ich diesen Frühling zu einer Psychiaterin gegangen, welche mir bestätigen konnte: Ich habe zweifellos ADHS.

Sie sagen, Sie hätten schon immer gewusst, dass Sie «anders» seien. Wie hat sich dies in Ihrer Jugend gezeigt?

Ich war ein sehr schwieriges Kind. Ich war extrem chaotisch und unaufmerksam. Ich hatte starke Lernschwierigkeiten und wurde in der Schule oft vor die Tür geschickt. Es hiess immer: «Miguel, use!» Ich habe es den Lehrern wirklich nicht leicht gemacht, mich zu mögen. Meine einzigen guten Fächer waren Sport und Zeichnen. Das interessierte mich, und ich hatte den Ansporn, mich zu konzen­trieren. Ich flog für mein auffälliges Verhalten schliesslich aus der ersten Klasse.

Weshalb wurde das ADHS damals noch nicht diagnostiziert?

Ich wurde wegen meines Verhaltens zum Kinderpsychologen geschickt. Allerdings war das in den Achtzigerjahren, damals war ADHS noch nicht wirklich ein Thema. Das Resultat des Besuches war schliesslich, dass ich eben einfach «anders» sei. ­Genauer wurde nichts definiert.

Wie äussert sich Ihr ADHS heute noch?

Ich kann nicht lange im Büro sitzen. Das führt bei mir zu einer Reizüberflutung. Ich muss nach einer Weile aufstehen, meinen Kopf durchlüften. Sonst ist die Konzentration endgültig weg. Ich muss mich immer irgendwie bewegen, sei das auf der Bühne, beim Beatboxen oder beim Sport.

Heute haben Sie Ihr chaotisches und unaufmerksames Wesen akzeptiert und sprechen sehr offen über Ihr ADHS. War das immer so?

Als Kind habe ich deswegen sehr gelitten. Ich wuchs im Kinderheim auf und bekam nicht besonders viel Liebe. Ich fand auch schwer Anschluss. In jungen Jahren war ich deswegen wirklich depressiv. Mir wurde gesagt, ich sei dumm und ich würde es zu nichts bringen. Das hat mich zuweilen sehr entmutigt. Ich musste lernen, dass ich auf mich selbst gestellt war und mich allein durchschlagen musste. Ich glaubte nicht, dass ich dumm wäre und sagte mir: Ich werde irgendwann etwas Grosses schaffen. Heute weiss ich, was ich kann und was für Talente in mir schlummern. Ich habe einen starken Glauben an mich selbst, und ich weiss, dass ich genüge. Das ist für jeden Menschen wichtig, egal, ob man ADHS hat oder nicht. Man muss kämpfen und an sich glauben. Sonst geht man unter.

Sie haben eine Lehre als Briefträger gemacht. Wie kam es dazu?

Ich habe schon als kleiner Junge Briefmarken gesammelt. Als wir dann mit der Schule die Postfiliale in Schaffhausen besichtigten, wusste ich: Hier will ich hin. Ich habe mich wirklich um den Job bemüht. Als ich dann bei der Post war, musste ich leider bald feststellen, dass der Job nicht so war, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Die Arbeit war hart und zu eintönig für mich. Trotzdem schloss ich die Lehre ab und blieb insgesamt 13 Jahre in dem Beruf. Ich sagte mir selbst: Sei zufrieden mit dem, was du hast. Immerhin hast du einen Job und ein festes Einkommen. Ich war auch zu bequem, um etwas Neues zu suchen. Irgendwann musste ich mir aber eingestehen, dass ich wegmusste und etwas anderes machen musste. Also habe ich Ende 2009 gekündigt.

Und dann?

Die ersten zwei Monate machte ich gar nichts. Dann ging mir langsam das Geld aus, und ich fand einen Job in der Firma meines Onkels. Nach eineinhalb Jahren hatte ich dann immer weniger zu tun bei meinem Onkel und konzentrierte mich immer mehr auf meine Musik. Also machte ich mich selbständig und konnte mir mit dem Beatboxen meinen Lebensunterhalt verdienen.

Wie sind Sie überhaupt zum Beatboxen gekommen?

Ich habe 1991, mit elf Jahren, begonnen zu beatboxen. Ich hatte einen Beatboxer gehört und war sofort fasziniert. Auch zu Michael Winslow aus «Police Academy» schaute ich auf. Ich übte immer mehr für mich. Das erste Mal auf einer Bühne stand ich im Militär und merkte: Ich komme gut an. 2004 fand dann die erste Schweizer Meisterschaft statt. Ich meldete mich dank meiner Schwester an und war völlig überrascht, als ich unter die besten drei kam. Da ich auch schon immer der Klassenclown war, begann ich das Beatboxen mit Comedy zu verbinden.

Neben Ihren Auftritten sind Sie nun auch als Musiklehrer für Beatboxen an der Musikschule Schaffhausen tätig. Wie kam es dazu?

Auch das hat sich einfach so ergeben. Ich wurde angefragt, ob ich mir das vorstellen könnte, und nun unterrichte ich seit einigen Jahren, ohne jemals eine Ausbildung dafür gemacht zu haben. Ich hätte mir das nie träumen lassen. In dem Gebäude, in dem heute die Musikschule ist, war früher das Kinderheim, in welchem ich aufgewachsen bin. Der Raum, in welchem ich jetzt unterrichte, war früher mein Kinderzimmer. Ich glaube nicht, dass dies ein Zufall ist.

Würden Sie sagen, dass ADHS Sie auch positiv beeinflusst hat?

ADHS ist eine Herausforderung. Ich musste lernen, damit umzugehen und zu kämpfen. An dieser Herausforderung wuchs ich und konnte mich so weiterentwickeln. Wenn ich etwas nicht kann, schiebe ich das nicht auf ADHS, sondern sage mir: Okay, es hat jetzt nicht geklappt, aber das ist schliesslich menschlich. Ich würde sagen, mit ADHS lernt man sich sehr gut kennen und muss sich stark mit sich selbst auseinandersetzen.

Was geben Sie als Botschafter für ADHS einem jungen Menschen mit auf den Weg?

Ich gebe dem Kind das Gefühl, dass es genügt, dass es gut ist, so wie es ist. Wenn ich mit Kindern spreche und sie ernst nehme, gibt ihnen das ein gutes Gefühl. Ich versuche, ihnen Selbstvertrauen zu geben, und möchte ihnen ein Vorbild sein. Ich möchte ihnen Mut machen, an sich selbst zu glauben, und ihnen zeigen, dass es nichts als menschlich ist, Fehler zu machen.

Praktikantin Ronja lernt Beatboxen

Unsere Praktikantin Ronja lernt beim Schaffhauser Beatbox-Lehrer Miguel Camero die ersten Steps für ihre Beatbox-Karriere.

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