«Kann neutral sein, wer nicht mehr unabhängig ist?»

In der Diskussion um das Kriegsmaterialgesetz würden Grundsatzfragen ausgeklammert, sagt Staatswissenschaftler Christoph Frei.
Keine Schweizer Waffen für die Ukraine, auch nicht auf indirektem Weg: So entschied es der Bundesrat bisher und berief sich dabei auf das Neutralitätsrecht. Zugleich versucht das Parlament, das Kriegsmaterialgesetz so zu ändern, dass andere Staaten – zum Beispiel Deutschland – Waffen schweizerischen Ursprungs weitergeben dürften. Eine rege Diskussion um die Neutralität unseres Landes und das Kriegsmaterialrecht läuft. Für Christoph Frei, Staatswissenschaftler an der Universität St. Gallen, fehlen in dieser Debatte Antworten auf zentrale Fragen. Die Welt habe sich seit dem 19. Jahrhundert weitergedreht, die Schweiz sich entwickelt und international vernetzt. Kann sie also noch neutral sein? Gute Gründe für die Neutralität gebe es indes nach wie vor, sagt Frei.
Herr Frei, die Schweiz will bewaffnet neutral sein. Inwiefern ist sie das heute tatsächlich noch?
Christoph Frei: Europa und die Schweiz sind heute wohlhabend, aber politisch nur in Grenzen mündig. Während Jahrzehnten haben wir Sicherheit aus den USA importiert und unsere eigene Verteidigungsfähigkeit dabei krass vernachlässigt. Im Fall der Schweiz ist das nicht nur billig, sondern es widerspricht auch dem Rüstungsgebot, dem der immerwährend Neutrale unterliegt. Zu seinen Verpflichtungen gehört, sich selbst verteidigungsfähig zu halten. Für uns fällt die diesbezügliche Bilanz verheerend aus: Die Schweiz will bewaffnet neutral sein, ihr Verteidigungsbudget aber ist über Jahre hinweg deutlich unter einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts geblieben.
Der Armeechef, Thomas Süssli, sagt, es brauche zehn Jahre, bis die Armee wieder aufgerüstet sei. Für wie realistisch halten Sie dies?
Dieses Unterfangen dürfte mehr als zehn Jahre dauern, wohl eher eine Generation – bis wir nur schon mental wieder auf die Sprünge kommen.
Wie meinen Sie das?
Wir sind aus vielen Gründen pazifistisch geworden. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat den Krieg nach Europa zurückgebracht. Dort gehört er in unserer Wahrnehmung aber nicht mehr hin. Er stört, erzeugt kognitive Dissonanz. Er beisst sich mit dem Gewohnten. Darum verdrängen wir ihn lieber.
Woran genau machen Sie das fest? Das Parlament hat neue Kampfjets bewilligt, die Armeeausgaben erhöht und mehrere Vorstösse zum Kriegsmaterialrecht formuliert.
Natürlich – jetzt kommt alles aufs Mal, es ist Krieg, die Nachbarn machen Druck. Und wir verhalten uns wie aufgeschreckte Hühner, kleine Paragrafenreiter, suchen Winkelzüge, verheddern uns im juristischen Dickicht des Kriegsmaterialgesetzes. Die Grundsatzfragen bleiben aussen vor. In den vergangenen 30 Jahren waren wir nicht willens, sie zu stellen, sie aufzunehmen und sauber zu klären. Und das in einem Land, das stolz ist auf seine politische Kultur.
Welche Grundsatzfragen?
Ist Neutralität auch im 21. Jahrhundert das probate Mittel zur Wahrung von Wohlfahrt, Unabhängigkeit und Sicherheit der Schweiz? Im 19. Jahrhundert und bis zum Zweiten Weltkrieg war sie das, damals waren wir aber in vieler Hinsicht deutlich unabhängiger als heute. Seither haben sich die Umstände massiv verändert.
Welche Umstände sind das?
Früher war die Schweiz eine republikanische Insel, umzingelt von sich rivalisierenden Monarchien. Damals stimmten der politische und der wirtschaftliche Raum weitgehend überein. Diese Symmetrie ist unterdessen aufgebrochen. Staaten gibt es noch, Volkswirtschaften nicht mehr – die Wirtschaft funktioniert heute in internationalen Wertschöpfungsketten. Die Schweiz hat 4200 Verträge mit anderen Ländern abgeschlossen. Der Preis unseres Wohlstands heisst also freiwillig akzeptierte Verflechtung, damit aber: Abhängigkeit. Die Zeit autonomer Staatlichkeit ist vorbei. Kann neutral sein, wer nicht mehr unabhängig ist?
Warum ergibt es Sinn, trotzdem an der Neutralität im Grundsatz festzuhalten?
Dafür gibt es viele Gründe. Der Leistungsausweis der Neutralität ist hierzulande phänomenal. Nach aussen hat sie uns von Kriegen verschont, nach innen hat sie das Land zusammengehalten. Mehr als einmal – zum Beispiel während des Ersten Weltkriegs – wäre die Schweiz vielleicht auseinandergebrochen, wäre sie nicht neutral gewesen. Deutschschweiz und Romandie hätten sich in unterschiedliche Richtungen voneinander verabschiedet.
Das ist Vergangenheit. Wozu ist Neutralität heute gut?
Heute stiftet sie vor allem Identität. So sind wir, so wollen wir sein. Wir haben die Neutralität verinnerlicht. Es gibt aber auch andere Gründe. So stützt die Neutralität der Schweiz die humanitäre Arbeit etwa des IKRK. Dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz hat es immer geholfen, mit der Schweizer Neutralität in Verbindung gebracht zu werden.
Inwiefern?
Das IKRK ist vielleicht der grösste, schönste Dienst, den die Schweiz der Welt je getan hat. Es arbeitet unter dem Prinzip der Unparteilichkeit in allen möglichen Krisengebieten rund um den Erdball. Seine Glaubwürdigkeit nährt sich unter anderem aus der anerkannten Neutralität des Mutterlandes Schweiz. Kritische Beobachter sehen das IKRK allerdings schon länger auf einem Weg, der seine «Swissness» schwächt. Es läuft Gefahr, verpolitisiert und zum Spielball von Interessen zu werden.
Sie haben einen Grund zum Neutralsein noch nicht erwähnt: Krieg, den es nun wieder in Europa gibt. Kleinstaaten wie die Schweiz halten sich da mit Vorteil heraus.
Wer sagt Ihnen, dass die Schweiz ein Kleinstaat ist? Wir gehören zu den 20 grössten Volkswirtschaften der Welt. Wir sind der grösste Rohstoffhändler der Welt. Bevölkerungsmässig liegt die Schweiz ziemlich genau am Median aller Staaten, will heissen: Die Hälfte aller Länder ist kleiner als die Schweiz – Ausrufezeichen. Im Unterschied zu früher sind wir heute auch nicht mehr von rivalisierenden Grossmonarchien umgeben, sondern von Mittelmächten, die überdies demokratische Rechtsstaaten sind.
Was schliessen Sie daraus, dass die Schweiz sich entwickelt und die Umstände sich gewandelt haben?
Dass wir uns nicht länger auf die Position zurückziehen können, als «Kleinstaat» hätten wir keine andere Wahl als Neutralität. Ich nutze das Wort der Solidarität nicht häufig, aber hier ist es angemessen: Auch wir müssten heute solidarisch sein, einen Beitrag leisten, der unserer Grösse und unserem Wohlstand angemessen ist.
Immerhin – die Schweiz hat die Sanktionen der EU gegen Russland übernommen.
Richtig. Das Neutralitätsrecht lässt uns die Möglichkeit, wirtschaftliche Sanktionen mitzutragen. Tatsache ist aber, dass wir damit unsere Glaubwürdigkeit als neutraler Staat nicht nur in den Augen Russlands verloren haben. Die bemerkenswerte Annahme, dass sich Politik und Wirtschaft trennen lassen, gehört zu den überkommenen Fiktionen des Neutralitätsrechts.
Aber es ist nach wie vor geltendes Recht. Wie überkommen kann es also sein?
Es ist überkommen insofern, als dass es in einer Zeit entstand, in der es tatsächlich noch «Volkswirtschaften» gab – und in einer Zeit, in der souveräne Staaten das Recht hatten, Krieg zu führen. Heute ist die Wirtschaft entgrenzt, und das moderne Völkerrecht ächtet den Krieg. Wir können uns zwischenstaatliche Kriege schlicht nicht mehr leisten, zu gross ist das Risiko der nuklearen Eskalation. Das moderne Völkerrecht hat den älteren Komplex des Neutralitätsrechts nie ausgeschieden, aber deutlich überholt. Hinzu kommt der konstitutive Charakter der Neutralität. Sie funktioniert nur, wenn andere Staaten sie anerkennen. Diese Anerkennung erodiert zusehends.
Wären Sie bereit, ganz konsequent zu sein und die Haager Abkommen von 1907, die das Neutralitätsrecht enthalten, zu kündigen?
Dazu sind wir innerlich kaum in der Lage. Ein solcher Schritt würde unserem Selbstverständnis als Schweizerinnen und Schweizer widersprechen. Auch und gerade in Bereichen wie der kollektiven Identität gibt es ja Pfadabhängigkeiten. Zumindest die älteren Generationen können sich eine nicht neutrale Schweiz kaum vorstellen.
Was spricht dagegen, militärisch neutral zu bleiben – und gleichzeitig wirtschaftlich vernetzt mit der Welt?
Wir sind militärisch schein-neutral, weil wir ja vollständig von den USA abhängig sind. Seit 1989 sind wir zusehends zu Trittbrettfahrern geworden. Es ist doch nicht redlich zu sagen, wir seien militärisch neutral, und gleichzeitig profitieren wir vom Verteidigungsschirm der USA. Ausgerechnet die Schweizer Parteien, die heute um jeden Paragrafen im Kriegsmaterialgesetz streiten, haben über viele Jahre mitgemacht und zugeschaut, wie unsere Armee bis auf die Knochen zusammengespart wurde.
Die Schweiz befindet sich in einem Dilemma: Erlaubt sie Deutschland die Weitergabe von Waffen, verletzt sie Neutralitätsrecht. Doch eigentlich sollte sie die Ukraine unterstützen. Welche Lösung sehen Sie?
Aus diesem Dilemma kommen wir nicht mehr heraus. In dem Moment, in dem Schweizer Munition in der Ukraine verschossen wird, verletzten wir Neutralitätsrecht, und zwar fadengerade. Gleichzeitig hätte die Ukraine mehr verdient als unsere Neutralität.
Wie kann die Schweiz helfen?
Ich antworte nicht besonnen, sondern beherzt: Munition, Panzer – alles, was dieses Land braucht, um Russland abzuwehren. Waffen sind die einzige Sprache, die der russische Präsident versteht.
Sie sagten vorhin selbst, dass das für die Schweiz nicht geht.
Absolut. Stand heute können wir nur Schlafsäcke, Entminungsgeräte und Geld liefern. Aber diesen Beitrag können wir – die wirtschaftlich starke Schweiz – in die Milliarden steigern.