«Wir haben keinen Zwang zu leben»

Robin Blanck | 
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Anästhesistin Marion Schafroth wurde per 2010 in den Exit-Vorstand gewählt. Bild: Selwyn Hoffmann

Die Freitodbegleitung sei kein Geschäft, sagt Vize-Präsidentin Marion Schafroth von Exit – und erklärt, weshalb der Verein dennoch Werbung macht und der Vorstand 300'000 Franken verdient.

Die Debatte um die Freitodbegleitung in der Schweiz ebbt nicht ab: Im letzten Dezember mussten sich Sterbewillige ohne Exit-Mitgliedschaft auf eine Warteliste setzen lassen, weil der Verein an seine Kapazitätsgrenze stiess, fast gleichzeitig brachte Verleger Matthias Ackeret die Biografie einer sterbewilligen Zürcherin («Die Glückssucherin»; Margrit Schäppi/Matthias Ackeret, Münster Verlag) heraus und kritisierte dabei, dass dieser heikle Bereich weitgehend der staatlichen Kontrolle entzogen sei. Ist der Freitod ein Geschäft? Muss man dafür werben? Und woher rührt das wachsende Interesse am Freitod? Wir sprachen mit Marion Schafroth, Vizepräsidentin von Exit Schweiz.

Der Medizinethiker Jürg Knessl hat ­kürzlich im Interview mit den SN gesagt: Wenn wir unter widrigen Umständen ein trostloses Dasein fristen, sind wir viel eher bereit, aus dem Leben zu scheiden, als wenn wir unter besten Bedingungen ­gepflegt werden. Sollten wir als Gesellschaft nicht primär darauf hinwirken, dass Menschen möglichst lange leben ­wollen?

Marion Schafroth: Sehr einverstanden. Aber: Ein betagter Mensch, der ohne Partner und krank ist, das Haus nicht verlassen kann und keine Verwandten mehr hat, kann trotz bester Pflege zum Schluss kommen, dass er so nicht weiterleben will.

Müsste sich Exit nicht eher dafür einsetzen, dass die Palliativ-Pflege ausgebaut wird?

Wir sind weder Missionare für den begleiteten Suizid, noch für das Weiterleben um jeden Preis, noch für die palliative Medizin. Wir wollen dem Betroffenen helfen, herauszufinden, was für ihn stimmt. Erwähnenswert ist, dass wir die Palliativmedizin mit einer eigenen Stiftung fördern – dies zugunsten jener, die diesen Weg gehen wollen.

Propagiert Exit den Freitod damit nicht auch?

Nein, das ist das Mantra unserer Gegner.

Dann lehnen Sie den Freitod ab?

Nein. Wir helfen unseren Mitgliedern, den für sie richtigen Entscheid zu treffen, egal, welcher es ist. Eine Möglichkeit ist eben auch, dass der Betroffene den begleiteten Suizid wählt. Aber zuerst muss ein Mitglied sich bei uns melden, wir werden ja nicht von uns aus aktiv. Beim ersten Kontakt wird abgeklärt, ob eine Freitodbegleitung in Frage kommt oder ob es sich nur um eine existenzielle Krise handelt. Wir schaffen also kein Angebot.

Dass Ihre Organisation aber die Akzeptanz des Freitodes in der Gesellschaft fördert, ist schon zutreffend?

Ja, wir wollen genau diese Akzeptanz fördern. Einer Person, die schwer krank ist oder leidet, diese Option zu zeigen, ist nichts moralisch Verwerfliches. Wir sind historisch in der neuen Situation, dass die Menschen älter werden als je zuvor. Eine zunehmende Zahl von Menschen erreicht ein hochbetagtes Alter, ist von Schmerzen geplagt, krank oder behindert, kann aber nicht sterben. Ich betrachte es als eine Errungenschaft unserer säkularen, selbstbestimmten Gesellschaft, dass wir heute über den Zeitpunkt unseres Todes selber entscheiden können.

«Unerträgliches Leid» als Kriterium für Sterbehilfe wurde vom Verband der Hausärzte (FMH) 2018 nicht in die Standes­ordnung aufgenommen, weil sich dieses «Leid» nicht messen lasse. Sind Sie mit dem Entscheid einverstanden?

Natürlich nicht. Das subjektive Empfinden ist das einzige Kriterium, das zählt. Dass der Arzt das Leid nicht messen könne, ist eine schrecklich paternalistische Sichtweise.

Wieso?

Zwei Personen mit dem gleichen Leiden können ganz unterschiedlich damit umgehen – für den einen ist ein Gebrechen ertragbar, das den anderen überfordert. Sprich: Das hängt sehr stark von der Persönlichkeit ab. Der Arzt muss das Leid des Patienten nicht messen können, es reicht, wenn er es nachvollziehen kann.

Ist es bei einer solch wichtigen Entscheidung ausreichend, sich nur auf das Gefühl zu verlassen?

Man darf sich nicht nur auf den Bauch verlassen, sondern muss auch den Kopf benützen. Wer als Arzt aber ein hartes, messbares Kriterium verlangt, kann ein Rezept verweigern.

Anders herum gefragt: Wie wollen Sie ­herausfinden, ob Sie einen Fehler ­begangen haben?

Ich muss als Ärztin überzeugt sein, dass der Entscheid des Sterbewilligen für ihn stimmt – und das im Licht seiner Lebensgeschichte und seines Umfeldes, das ich zuvor kennengelernt habe. Unabhängig von der rezeptausstellenden Ärztin überprüft auch Exit immer, ob die rechtlich notwendigen Voraussetzungen gegeben sind. Ich habe als Konsiliarärztin auch schon Rezepte für Menschen ausgestellt, mit deren Schicksal ich persönlich weitergelebt hätte. Aber wir haben keinen Zwang zu leben, unser Grundrecht, das Leben zu beenden, hingegen schon.

2018 haben sich 905 kranke Menschen beim selbstbestimmten Sterben begleiten lassen. Inzwischen hat Exit über 120'000 Mitglieder – was bedeuten Ihnen diese Zahlen?

Die Zunahme der Begleitungen freut mich nicht, sie überrascht mich aber nicht. Erfreulich finde ich die Mitgliederzahlen: Menschen treten Exit bei, weil sie unser Anliegen unterstützen wollen und die Möglichkeit befürworten, dass man begleiteten Suizid begehen kann.

Wie wichtig sind zusätzliche Mitgliederbeiträge für den Verein?

Wir haben eine Geschäftsstelle und Angestellte, das alles muss bezahlt werden – deshalb sind wir auf die Beiträge angewiesen. Aber der Verein hat keinen Selbstzweck, wenn Sie darauf anspielen: Gegründet wurde die Vereinigung zur Befriedigung eines existierenden Basisbedürfnisses. Wenn es den Verein nicht mehr braucht, werden wir ihn auflösen. Es geht nicht darum, ein gutes Geschäft mit hohen Umsatzzahlen zu machen.

Aber jede Struktur, die einmal geschaffen wurde, hat die Tendenz, sich zu erhalten. Ihnen wurde ja auch kürzlich von Autor Matthias Ackeret vorgeworfen, aus dem Tod ein Geschäft zu machen. Ist der ­Vorwurf berechtigt?

Zunächst sind wir keine Firma, sondern ein nicht gewinnorientierter Verein, aber natürlich dürfen wir keine Verluste einfahren, weil wir unsere Tätigkeit finanzieren müssen. Unsere Struktur ist an den Bedürfnissen ausgerichtet: Wenn mehr Freitodbegleitungen gewünscht sind, werden wir mehr Leute dafür ausbilden – aber es gibt keinen Businessplan.

Sie machen auch Werbung, verbreiten Broschüren und setzen sich für die ­Freitodbegleitung ein …

Natürlich machen wir auch Werbung, weil unsere Gegner auch gegen uns Stimmung machen, denn leider ist es auch 37 Jahre nach der Gründung von Exit immer noch so, dass es Politiker, Gesellschaftsgruppen, Heime und Spitäler gibt, welche den Gedanken der Selbstbestimmung am Lebensende ablehnen. Wir vertreten das Recht auf Freitodbegleitung, dagegen werden auch immer wieder politische Vorstösse eingereicht – dem wollen wir entgegentreten. Aber wir machen nie Werbung für die Freitodbegleitung selbst.

Aber wer ein Exit-Inserat sieht, weiss, ­worum es geht.

Natürlich. Wir wollen in der Schweiz das Recht erhalten, freiwillig aus dem Leben scheiden zu können. Unsere Gegner reiten immer auf diesem angeblichen Geschäftsmodell herum: Wir wollen nicht möglichst viel Umsatz, die Zahlen sind eine Folge unseres Einsatzes für dieses Grundrecht. Dieses Privileg müssen wir immer wieder verteidigen, deshalb können wir nicht auf Werbeaktionen verzichten. Wir wollen schliesslich unsere Mitgliederzahl halten.

Ein Vorwurf, der regelmässig erhoben wird, bezieht sich auf die mangelnde Kontrolle der Vereinstätigkeit: Wer überprüft, ob alles in geordneten Bahnen verläuft und Bereicherung ausgeschlossen ist?

Wenige Bereiche sind so gut kontrolliert, wie der unsrige: Bei jedem assistierten Suizid kommen die Behörden vorbei, das heisst, die Polizei und ein Arzt sind vor Ort und die Staatsanwaltschaft wird zumindest informiert. Im Nachgang werden zudem die Akten gesichtet.

Aber was im Vorfeld passiert, wird nicht kontrolliert?

Auch das könnten die Behörden kontrollieren, wir haben unsere eigenen ethischen Standards, die Verstösse verhindern – da lege ich für unseren Verein die Hand ins Feuer. Und dank Mitgliederbeiträgen und Spenden müssen wir nicht jedem Franken nachlaufen.

Gemäss Geschäftsbericht verdiente der fünfköpfige Exit-Vorstand im Jahr 2016 rund 254 600 Franken, im Jahr 2017 dann 318'195 Franken. Ihre Tätigkeit im Gremium wurde 2017 mit über 86'000 Franken entschädigt. Welchem Arbeitspensum entspricht das?

Die Vorstandstätigkeit ist gemäss Statuten ehrenamtlich, aber jedes Mitglied ist für ein Ressort zuständig und hat dort Verantwortung mitzutragen: Dafür gibt es einen Arbeitsvertrag und eine Entschädigung von 65 Franken pro Stunde. Die meisten Vorstandsmitglieder sind im 40-Prozent-Pensum angestellt. Ich bin für die Freitodbegleitungen zuständig und habe für drei Jahre zusätzlich das Projekt «Information Ärzteschaft» übernommen, daher rührt der höhere Betrag 2017. Wir verdienen nicht an der Freitodbegleitung, sondern werden für die jeweilige Tätigkeit in der Organisation entschädigt. Jedes Vorstandsmitglied käme auf eine höhere Entlöhnung, wenn es in seinem angestammten Beruf arbeiten würde.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich für Exit zu engagieren?

Ich bin dem Verein in den 80er-Jahren beigetreten, als man sich noch kaum gegen medizinische Überversorgung wehren konnte. 2007 habe ich mich dann für die Stelle als Freitodbegleiterin inte­ressiert; weil aber vor allem Konsiliarärzte gesucht wurden, die ein Rezept für Sterbewillige ausstellen, wenn der Hausarzt das ablehnt, habe ich diese Aufgabe übernommen. Als Anästhesistin verfügte ich über das nötige Fachwissen und betreute zwei bis drei Patienten im Monat. Als 2010 neue Vorstandsmitglieder gesucht wurden, habe ich mich zur Wahl gestellt und arbeite seither dort mit. Zugleich bin ich weiterhin als Konsiliarärztin für Exit tätig.

Als Konsiliarärztin stellen Sie also Rezepte für tödliche Präparate aus, als Exit-Vorstandsmitglied müssen Sie die Einhaltung der Regeln kontrollieren – Sie überwachen sich quasi selber?

Nein, ich bin zwar im Vorstand für die Freitodbegleitungen zuständig, aber ich überprüfe keine Rezepte. Dafür gibt es eine eigene Leitungsperson. Bei besonderen Fällen werde ich beigezogen. Um auf die Frage zurückzukommen: Wenn man weiss, welche Rolle man gerade hat, lässt sich das gut trennen.

Aber falls Sie als Konsiliarärztin einmal einen Fehler machen, müsste Ihre eigene Untergebene Sie rügen?

In diesem Bereich mache ich keine Fehler.

Macht nicht jeder Fehler?

Auch wenn das überheblich klingen mag: Wenn es um Leben und Tod geht, mache ich keine Fehler. Beim Ausstellen von Rezepten ist Sorgfalt oberste Pflicht. Bei einem sterbenskranken Menschen liegt ein solches Rezept nahe. Doch bei einem leidenden, noch nicht todesnahen Menschen, überlegt man sich das dreimal.

Und wie viele Begleitungen betreuen Sie als Konsiliarärztin?

20 bis 30 pro Jahr. Wenn ich einen Fall übernehme, studiere ich zuerst die Unterlagen und besuche den Sterbewilligen zumindest einmal. Dann wird über das Rezept entschieden.

Wie hoch fällt die Rechnung für eine solche Tätigkeit aus?

Das in Rechnung gestellte Honorar ist abhängig von der Anreise und liegt bei 400 bis 600 Franken pro Begleitung.

In den armen Ländern kämpfen die ­Menschen ums nackte Überleben, in den reichen Staaten sprechen wir über den ­assistierten Freitod. Wie erklären Sie sich das? Ist das Wohlstandsverwahrlosung, wie manche sagen?

Ich vermute einerseits stark, dass die Suizid-Statistik in Ländern mit hoher Armut nicht besonders genau geführt wird, andererseits hat das Interesse am Freitod nicht mit einer Wohlstandsverwahr­losung zu tun, sondern ist eine uner­wünschte Nebenwirkung von Wohlstand: Der medizinische Fortschritt ermöglicht uns ein Weiterleben trotz gesundheitlicher Gebrechen, und dies auch dann, wenn die Umstände nicht mehr lebenswert sind.

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