«Leiden ist etwas Subjektives»

Neue Richtlinien für den assistierten Suizid spalten die Ärzteschaft. Während die einen das Selbstbestimmungsrecht hochhalten, sehen andere eine Unvereinbarkeit mit der ärztlichen Ethik.
Diese Woche Abstimmung
In der Schweiz sind die Regeln zur ärztlichen Sterbehilfe nicht im Gesetz geregelt, sondern in der Standesordnung der Schweizer Ärzteschaft. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat dieses Jahr die revidierten Richtlinien zum Umgang mit Sterben und Tod vorgestellt. Neu dabei ist, dass sich der Geltungsbereich des assistierten Suizids nicht mehr nur auf sterbende Menschen beschränkt, sondern auch solche erfasst, die an einer wahrscheinlich tödlich verlaufenden Krankheit leiden. Konkret gemeint sind urteilsfähige Patienten, die ein «unerträgliches Leiden» geltend machen – nachdem Heilungsversuche entweder nicht erfolgreich waren oder aber nicht zumutbar sind. So zum Beispiel im Fall von Patienten, die unter einer schweren Depression leiden, Hilfe ablehnen und ihren Zustand als unerträglich bezeichnen. Ärzte – und nur Ärzte – können Rezepte für Sterbemittel ausstellen. Die Erweiterung der SAMW-Richtlinien wird in ärztlichen Kreisen kontrovers diskutiert. Der Zentralvorstand der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) kritisiert, «unerträgliches Leiden» sei kein definierter Rechtsbegriff und damit werde ein potenzieller Graubereich geschaffen.
Diese Woche fällt die Ärztekammer, das Parlament des FMH, den Entscheid, ob die neuen Richtlinien zur Standesordnung erhoben werden. (lbb)
Im SN-Streitgespräch legen die in Schaffhausen und Bülach praktizierende Neurologin Angelika Spur und der in Uster tätige Hausarzt Res Kielholz ihre Argumente dar.
Frau Spur, Sie sind Neurologin und wenden sich gegen die von der Akademie ausgearbeiteten, geplanten Neuregelungen der Sterbehilfe. Wieso?
Angelika Spur: Diese Änderungen sind mit meinem Selbstverständnis als Ärztin nicht vereinbar. Neu soll die Beihilfe zum Suizid als ärztliche Aufgabe in der Standesordnung legitimiert werden. Das Kriterium der Todesnähe soll wegfallen und der Geltungsbereich ausgeweitet werden auf Jugendliche und Kinder und auf Menschen mit geistiger, psychischer und Mehrfachbehinderung. Das ist mit meiner Ethik nicht vereinbar.
«Ich habe noch nie ein solches Rezept ausgestellt und würde es auch niemals tun. Als Ärztin bin ich Gewährsperson für das Leben.»
Angelika Spur, Neurologin
Können Sie mit den heute geltenden Regelungen leben, oder sind Sie ganz dagegen?
Spur: Für mich ganz persönlich ist die Beihilfe zu Suizid keine ärztliche Tätigkeit. Selber habe ich noch nie ein solches Rezept ausgestellt, und ich würde es auch nie tun. Als Ärztin bin ich Gewährsperson für das Leben. Bislang besteht eine Ausnahmeregelung, die vorschreibt, dass der Patient dem Tod nahe sein muss. Die Ausweitung jetzt halte ich für den falschen Weg.
Sie sagen Ausweitung, Sie befürchten, dass auch mehr Menschen assistierten Suizid in Anspruch nehmen werden?
Spur: In Belgien und Holland, wo die Regelungen noch weiter gehend sind als jetzt bei uns geplant, sieht man, dass die Zahlen stetig steigen, ja.
«Für viele meiner Patienten ist es wie eine Versicherung: Man ist froh, hat man sie, und froher, wenn man sie nie braucht.»
Res Kielholz, Hausarzt
Herr Kielholz, Sie stehen hinter der Neufassung der entsprechenden Richtlinien. Warum braucht es diese?
Res Kielholz: Die Bevölkerung hat jeweils mit grossen Mehrheiten gutgeheissen, dass die Möglichkeit der Selbstbestimmung am Lebensende erhalten bleibt. Viele meiner Patienten sind sehr erleichtert, wenn sie erfahren, dass ich es nicht prinzipiell ablehne, bei unheilbaren Erkrankungen ein Sterbemittel auszustellen. Es ist wie eine Versicherung: Man ist froh, wenn man eine hat, und froher, wenn man sie nie braucht.
Wie vielen Patienten haben Sie auf diese Weise assistiert?
Kielholz: In 17 Jahren habe ich sieben Rezepte für das Mittel Natriumpentobarbital ausgestellt. Fünf Patienten haben davon Gebrauch gemacht.
Rund 1000 Patienten scheiden mithilfe eines assistierten Suizids in der Schweiz pro Jahr aus dem Leben. Was bringt die Ausweitung der Richtlinien Ihnen als Hausarzt?
Kielholz: In erster Linie Rechtssicherheit. Und sie setzen einen neuen Fokus. Bislang war es eher ein paternalistisches Erlauben durch den Arzt. Neu wird es ein partnerschaftliches Begleiten des Patienten auf Augenhöhe. Das entspricht meinem Ethos als Arzt.
Neu soll es genügen, dass der Arzt nachvollziehen kann, es liege ein «unerträgliches Leiden» vor. Was bedeutet das konkret?
Kielholz: Das ist nicht nur eine Ausweitung, sondern auch eine Einschränkung. Es schliesst nämlich Suizidhilfe für gesunde Personen ohne Leiden aus. Die bisherige Regelung sprach lediglich davon, dass der Patient nahe dem Tod sein soll. Wie viel aber ist nahe: fünf Wochen, fünf Monate, fünf Jahre?
Spur: Der Begriff des «unerträglichen Leidens» ist völlig unscharf und nicht objektivierbar. Er bietet viel Interpretationsspielraum, und er suggeriert, dass man das Leiden nicht verändern kann. Als Ärztin ist es aber ja gerade meine Aufgabe, mit medizinischen Mitteln aber auch persönlich und gemeinsam mit den Angehörigen, dem Patienten beizustehen und das Leid erträglich zu machen. Und ein ruhiges und würdiges Sterben zu ermöglichen.
Kielholz: Das Leiden ist tatsächlich etwas rein Subjektives. Die Richtlinien sagen ganz klar, dass nur die leidende Person und nicht der Arzt bestimmen kann, wann das Leiden unerträglich ist, und das ist gut so. Am Schluss ist es das Leiden, welches zum Sterbewunsch führt, und nicht der nahende Tod.
Spur: Damit bestätigen Sie uns gerade, dass der Geltungsbereich mit dieser Formulierung ausgeweitet werden kann auf jegliche leidende Personen.
Kielholz: Das ist polemisch. Niemand denkt daran, Kinder oder geistig Behinderte in den Freitod zu begleiten, wie Sie behaupten. Das Kriterium der Urteilsfähigkeit wäre nicht erfüllt.
Spur: In Ländern, wo die Regelungen noch liberaler sind als bei uns, ist es schon zu begleitetem Suizid von Kindern gekommen…
Was wäre zum Beispiel, wenn ein jüngerer Mensch zu Ihnen kommt und sagt, er leide zu sehr am Leben und möchte nicht mehr. Ist für Sie dann das Kriterium «unheilbares Leiden» erfüllt?
Kielholz: Nein, in einer akuten psychischen Krise oder in einer Notfallsituation hat Suizidhilfe keinen Platz, da herrscht Konsens. In den neuen Richtlinien geht es um chronische, unheilbare Krankheiten, bei denen auch nach Jahren erfolgloser Behandlung das Leiden nicht ausreichend gelindert … … werden kann, wenn zum Beispiel Schmerzmittel nicht mehr wirken oder Nebenwirkungen haben.
Spur: Aber ganz ausschliessen lässt sich nicht, dass sich ein Arzt finden lässt, der ein Rezept schreibt, weil er nachvollziehen kann, dass ein Mensch unerträglich leide und es aufgibt, nach einem Ausweg zu suchen. Da gibt es zu viele Grauzonen, es wird einfach alles aufgeweicht, und ich halte das für einen Rückschritt.
Kielholz: Es ist richtig, dass der Gesetzgeber dem Arzt das fachliche Ermessen lässt. Er kann in der Regel am besten beurteilen, was der Patient möchte.
Der Streit hat viel mit dem Berufsbild des Arztes zu tun. Landläufig bekannt ist der hippokratische Eid. Sollen Ärzte überhaupt den Tod im Köfferchen mitführen?
Spur: Ich möchte aus unserer Standesordnung zitieren: «Aufgabe des Arztes ist es, das Leben zu schützen, die Gesundheit zu fördern und wieder herzustellen, Krankheiten zu behandeln, Leiden zu lindern und Sterbenden beizustehen.» Hier steht nichts davon, dass ich Beihilfe zum Suizid im Repertoire haben muss.
Kielholz: Kein Arzt muss. Es ist freiwillig.
Spur: Ich bin als Neurologin mit verschiedensten Krankheiten konfrontiert, betreue viele Patienten mit chronischen Krankheiten und versuche, ihnen die beste fachliche, medizinische und menschliche Hilfe zu geben, das ist mein Auftrag. Und nicht, ihnen zu tödlichem Gift zu verhelfen!
Kielholz: Ich finde es problematisch, wenn Sie Ihre Sichtweise über die Sichtweise des Patienten stellen. Es gibt Krankheitssituationen, wo man nicht mehr helfen kann. Sie tangieren mit Ihrer Haltung die Entscheidungsautonomie und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, wenn er sagt, er mag nicht mehr.
Spur: Ich weiss aus Erfahrung, unter welch grossen Schmerzen ein Patient leiden kann und dabei auf den Gedanken kommen kann, sein Leben sei nichts mehr wert. Patientenautonomie findet aber immer in einem sozialen Bezug statt, nicht im luftleeren Raum. Es ist ein grosser Unterschied, ob ich als Ärztin die Sichtweise des Patienten übernehme und ihn darin noch bestärke – oder aber mich an seine Seite stelle, um die Leiden durchzustehen. Das ist in meinen Augen eine Verantwortung, aus der wir uns als Ärzte nicht davonstehlen dürfen.
Was tun Sie aber, wenn der Patient den Weg nicht mit Ihnen gehen will, sondern bei seinem Entscheid bleibt?
Spur: Noch einmal, ich sehe Beihilfe zum Selbstmord nicht als Teil einer Hilfeleistung und auch nicht als Bestandteil meiner ärztlichen Tätigkeit an.
Kielholz: Das grenzt für mich an Zynismus. Aber genau das passiert, wenn man prohibitive Regelungen hat: Es führt zu mehr Gewaltsuiziden.
Spur: Im US-Bundesstaat Oregon, wo die diesbezüglichen Gesetze sehr liberal sind, hat man dies untersucht. Die Freigabe des assistierten Suizides hat die Zahl der gewalttätigen Suizide nicht verringert. Aber die Zahl assistierter Suizide und somit die Gesamtzahl der Suizide ist gestiegen.
Kielholz: Wir sollten nicht Patienten sinnlos leiden lassen, nur damit die Suizidstatistik etwas besser aussieht.
Führen die neuen Regeln zu einem Dammbruch und wächst auch der Druck auf alte, kranke, einsame Menschen, wenn die Option Freitod eine noch breitere gesellschaftliche Akzeptanz bekommt?
Kielholz: Wenn eine krebskranke Person auf weitere Chemotherapien verzichtet und nur noch Palliativmedizin durchführen will, käme auch niemand auf die Idee, diesen Entscheid zu kritisieren, da damit moralischer Druck auf jene entstehe, welche die Chemotherapie weiter durchführen wollen. Die ärztliche Fürsorge soll das Selbstbestimmungsrecht respektieren und nicht bevormundend sein.
Spur: Ganz klar entsteht zusätzlicher Druck. Die Forschung nennt dies den «Werther»-Effekt, der besagt, dass es eine soziale Ansteckung für Selbstmord bei Menschen in Notlagen gibt. Aber auch in den Medien wird das Bild gezeichnet, dass alte Menschen nur Kosten verursachen, und da ist es nicht verwunderlich, wenn vielen das eigene Leben wertlos erscheint. Wir müssen uns überlegen, wie wir in unserer Gesellschaft mit alten, kranken und schwachen Menschen umgehen wollen, und eine neue Kultur der Fürsorge entwickeln. Damit Menschen in Ruhe und in Würde zu Ende leben können.
Kielholz: Seit dreissig Jahren liegt die Todesrate durch assistierten Suizid bei rund einem Prozent. Aufgrund der Bevölkerungszunahme, der Altersstruktur und des Wunschs der Bevölkerung nach Selbstbestimmung am Lebensende ist eine leichte Zunahme in den nächsten Jahren möglich. Von einem Dammbruch kann man jedoch nicht sprechen.
Einerseits bauen wir zurzeit die Palliativmedizin aus – im Kanton Schaffhausen etwa soll ein Sterbehospiz entstehen –, und gleichzeitig werben Promis für den Altersfreitod bei Exit. Das sind doch widersprüchliche Signale oder nicht?
Spur: Doch. Es ist ja in der Literatur umstritten, ob es den sogenannten Bilanzsuizid wirklich gibt. Wir sollten besser davon ausgehen, dass jeder Mensch zu Ende leben und in Würde sterben will.
«Eine Ächtung der Suizidhilfe, wie es die Gegner wollen, widerspräche dem Willen der Bevölkerung.»
Res Kielholz, Hausarzt in Uster
Kielholz: Und wer soll Würde definieren: der Arzt oder der Patient? Man sollte Palliativmedizin nicht gegen Sterbehilfe ausspielen. Beide Angebote ergänzen sich. In einer Volksabstimmung im Kanton Zürich wurde ein Verbot der Sterbehilfe mit 84 Prozent abgelehnt. Ein Ächtung der Suizidhilfe, wie es die Gegner wollen, widerspräche ganz klar dem Willen der Bevölkerung.
«Die Ausweitung führt zu mehr Sterbetourismus, das ist ja klar.»
Angelika Spur, Neurologin, Schaffhausen
Wird der Sterbetourismus mit den neuen Regeln zunehmen?
Kielholz: Ich arbeite gerne mit Exit zusammen. Exit nimmt keine Patienten aus dem Ausland. Das finde ich eine gute Haltung.
Spur: Andere Sterbehilfeorganisationen tun das aber. Die Ausweitung führt zu mehr Sterbetourismus, das ist ja klar. Meiner Ansicht nach muss man schon nur deswegen diese neuen Regelungen ablehnen.