Armenien: Mit Schaffhauser Hilfe zu einer neuen Tagesklinik
Rund 270 000 Franken hat die Stiftung «Hilfe für Armenien» in eine Tagesklinik in einem abgelegenen Dorf investiert. Das Geld stammt auch aus dem Kanton Schaffhausen.
Abtreibungen Mädchen sind in vielen Familien unerwünscht
Zu den Einrichtungen, welche mit Schaffhauser Spendengeldern in Armenien finanziert werden, gehört ein Ultraschallgerät. Damit sollen in der Tagesklinik von Aygehovit Schwangere untersucht werden – sie mussten bis jetzt für eine solche Untersuchung unter Umständen bis in die Hauptstadt Jerewan fahren, was mit dem Auto über drei Stunden dauert.
Ultraschalluntersuchungen von werdenden Müttern werden in Armenien aber nicht nur zur Entdeckung von Krankheiten eingesetzt, sondern auch zur Bestimmung des Geschlechts des Babys. Ist es ein Mädchen, entscheiden sich manche Eltern für eine Abtreibung. Mädchen gelten als minderwertig, gerade auch auf dem Land.
Wie die «New York Times» im April berichtete, zählte die UNO für das Jahr 2013 pro 100 Geburten von Mädchen 114 Geburten von Jungen. Normal wären etwa 104 bis 106 Jungen pro 100 Mädchen. Seit 2016 sind Abtreibungen aufgrund des Geschlechts in Armenien zwar verboten, nach wie vor werden sie aber praktiziert. Die «Zeit» schrieb Anfang Oktober, kriminelle Ärzte würden auch späte Abtreibungen vornehmen. Dafür würden sie 400 Euro verlangen. Wer sich einen Arzt nicht leisten könne, kaufe sich rezeptfrei ein Medikament gegen Magengeschwüre. Dieses löse einen Abort aus. Vier Euro koste die Schachtel.
Auch die «Financial Times» hat das Thema aufgegriffen. Die Londoner Zeitung schrieb Anfang Oktober, der jüngste Bub erbe die Immobilien seiner Familie, und er sei es auch, der im Alter für die Eltern sorge. Mädchen hingegen würden ihre Familie mit der Heirat verlassen. Eine Schwangere, die ein Mädchen nicht abtreibe, müsse mit der Scheidung rechnen.
Langsam beginne aber ein Umdenken. Dies nicht etwa, weil Mädchen und Frauen in der Gesellschaft plötzlich als gleichberechtigt angesehen würden, sondern wegen der nationalen Sicherheit: Weniger Mädchen bedeuteten weniger künftige Mütter, und weniger künftige Mütter bedeuteten weniger künftige Soldaten, schreibt die «Financal Times».
Die Schaffhauser Armenienhilfe wurde von den SN auf die Problematik aufmerksam gemacht. «Wir werden es nicht zulassen, dass in der Tagesklinik von Aygehovit Babys getötet werden», sagt Mike Baronian. Verhindern, dass Eltern ein Mädchen einfach andernorts loswerden, kann die Stiftung es allerdings auch nicht.
Schaffhauser Stiftung «Hilfe für Armenien»
Geschichte Die Stiftung Hilfe für Armenien wurde 1989 von den damaligen Radio-Munot-Mitarbeitern Pino Ciaccio und Norbert Neininger gegründet. Am Anfang ging es um Soforthilfe nach einem verheerenden Erdbeben, in späteren Jahren stand die Verbesserung der Infrastruktur im Vordergrund. Eine tragende Rolle spielt auch der Pharmaunternehmer Mike Baronian. Der frühere Cilag-Chef hat armenische Wurzeln und stiess 1989 in Schaffhausen auf die Stiftung, die er bis heute massgeblich unterstützt. Präsident der Stiftung ist der frühere Chef der Schaffhauser Kantonalbank, Kaspar Ottiger. Auch Starkoch André Jaeger ist Mitglied des Stiftungsrats.
Spenden Die Stiftung hat bislang rund fünf Millionen Franken in Armenien investiert. Das Geld stammt von grossen Gönnern, aber auch aus Weihnachtsaktionen von Radio Munot und den SN. Der Kanton Schaffhausen hat die Stiftung zweimal mit dem Schaffhauser Preis für Entwicklungszusammenarbeit ausgezeichnet.
Wo das kleine armenische Dorf Aygehovit liegt, dürften die wenigsten Schaffhauser wissen. Wo hingegen Schaffhausen liegt, das wissen in Aygehovit alle. Denn seit rund drei Jahren ist die Schaffhauser Stiftung Hilfe für Armenien in Aygehovit tätig. Letztes Jahr konnte der Norbert-Neininger-Kindergarten eingeweiht werden, diesen Sommer wurde die Wasserversorgung erneuert, und Anfang Oktober konnten die Erneuerung und Erweiterung einer Tagesklinik gefeiert werden. Sie ist nach dem Dörflinger Ehepaar Jessica und Martin Blumer benannt, welches die Armenienhilfe seit Jahren sehr grosszügig unterstützt. «Wir wissen», sagt Martin Blumer, «dass bei der Armenienhilfe das Geld eins zu eins dort ankommt, wo es gebraucht wird.»
Ein Teil der rund 270 000 Franken, welche die Erneuerung der Tagesklinik kostete, stammt auch aus Mitteln des Kantons Schaffhausen: Der Kantonsrat hatte die Stiftung Ende 2016 mit dem Schaffhauser Preis für Entwicklungszusammenarbeit bedacht. Die Auszeichnung ist mit 25 000 Franken dotiert.
Schüsse an der Grenze
Gut ein Dutzend Gäste aus der Schweiz nahm an der Eröffnung teil, darunter der Schweizer Botschafter in Armenien, Lukas Gasser. «Es ist sehr erfreulich, dass sich Private aus der Schweiz in einem Land wie Armenien engagieren», sagte er. Denn gerade in Dörfern an der Grenze zu Aserbaidschan sei die Situation nicht einfach.
Armenien und Aserbaidschan seien zutiefst verfeindet, immer wieder komme es zu Zusammenstössen, bei denen Menschen sterben würden – zuletzt im April 2016, als es schwere Gefechte in der umstrittenen Region Bergkarabach mit Artillerie, Panzern und Kampfhubschraubern gegeben habe. Der Waffenstillstand sei auch jetzt brüchig. «Es gibt regelmässig Schusswechsel», sagt Gasser, «und die Konfliktparteien versuchen sich gegenseitig bei der Ernte zu stören.» Ein Priester der armenischen Kirche, der die Einweihung des Schaffhauser Projekts in Aygehovit begleitete, dankte in seiner Ansprache denn auch «den Soldaten, die uns nur wenige Hundert Meter von hier beschützen».
Doch so schwierig die Lage in Aygehovit auch sein mag: Blickt man auf den Kindergarten, auf die neue Wasserleitung und auf die Tagesklinik, kommt die Frage auf, wie fair es ist, wenn das eine Dorf mit viel Schweizer Geld unterstützt wird, ein anderes ein paar Kilometer weiter aber nicht. Ist das nicht einfach eine Lotterie? Mike Baronian und Pino Ciaccio, die beiden treibenden Köpfe hinter der Armenienhilfe, winken ab.
«Es ist sehr erfreulich, dass sich Private aus der Schweiz in einem Land wie Armenien engagieren.»
Lukas Gasser Schweizer Botschafter
«Wir unterstützen mit diesen Projekten die ganze Region. Aygehovit ist das grösste Dorf mit rund 5000 Einwohnern, die anderen Dörfer sind kleiner», sagt Baronian. Schon bei der Einweihung des Kindergartens habe er klargemacht, dass dieser nicht nur für die Kinder aus Aygehovit sei, sondern auch für die Familien aus der Umgebung. «Das gilt auch für die Klinik.»
Der Bürgermeister von Aygehovit, Levon Grigorian, bestätigt dies: «Die Armenienhilfe und vor allem Jessica und Martin Blumer unterstützen nicht nur unsere Gemeinde, sondern die ganze Region.»
Als Vertreter des Kuratoriums des Preises des Kantons Schaffhausen waren die alt Kantonsräte Alfred Tappolet und Richard Altorfer nach Armenien gereist. Sie seien beeindruckt, sagten sie. «Mit relativ wenig Geld kann man viel erreichen», betonte Altorfer bei der Besichtigung der Klinik.
«Die Armenienhilfe und vor allem Jessica und Martin Blumer unterstützen die ganze Region.»
Levon Grigorian Bürgermeister von Aygehovit
Vorderhand wird die Stiftung keine weiteren Grossprojekte in Aygehovit mehr unterstützen – zu gross ist die Not auch in anderen Regionen. «Eigentlich bräuchte es eine solche Hilfe in jedem Dorf», sagt Manfred Hirt von der Stiftung. «Dank unseres Netzwerks in Armenien werden wir wieder ein Dorf finden, wo wir helfen können.»
Ganz abgeschlossen sind die Arbeiten aber auch in Aygehovit noch nicht. Noch fehlen einige Geräte wie ein Ultraschall – eine aus kulturellen Gründen nicht unproblematische Maschine (siehe dazu auch Kasten unten). Vor allem aber legt die Stiftung Wert darauf, auch abgeschlossene Projekte immer wieder zu besuchen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. So wurden bei der im Sommer eingebauten Wasserleitung in Aygehovit viel zu kleine Rohre eingebaut – möglicherweise wollte der Bauunternehmer so mehr Geld für sich herausholen. Jetzt muss er die Leitung auf eigene Kosten nachbessern.