Fahrende Werkstatt im Wunderland

Das dritte Inselfestival Rheinau will Grenzen sprengen. 70 Schulkinder aus Rheinau und Jestetten ziehen jedoch mit dem FAHR.WERK.ö! einen Zaun zwischen zwei Ländern hoch.
FAHR.WERK.ö! – Raus aus dem Schulhaus
Ein illustres Grüppchen Theaterleute, Musiker und Musikerinnen, Kunstschaffende, einige mit pädagogischem Hintergrund, setzt sich zusammen und überlegt. Man will Theaterprojekte mit Kindern und Jugendlichen machen, hat aber keine Lust auf Schulzimmer. Da hat’s immer zu wenig Platz, man stört dauernd den Hauswart, die Klasse nebenan. Warum nicht mit Wagen unterwegs sein, die Kinder auf den Platz holen und die Landschaft als Bühnenbild nehmen? Aus der zündenden Idee entwickelte sich die fahrende Theaterwerkstatt FAHR.WERK.ö! Mittlerweile besteht sie aus einer Kerngruppe von etwa fünf Leuten, ergänzt um etwa zwanzig freischaffende Mitarbeitende in verschiedenen Bereichen. Von April bis Oktober ist die Werkstatt unterwegs, mit jeweils drei Traktoren und sechs Wagen. Das Angebot umfasst Ferien- und Klassenlager sowie diverse Projekte für Kinder und Jugendliche «nach Mass». Geprobt wird in Badehose oder Gummistiefeln – je nach Wetter.
Inselfestival Rheinau: Freitag, 9., bis Sonntag, 11. Juni. Details siehe Nordagenda oder www.inselfestival.ch.
Im Schatten der Bäume des Klosterhofs, in einem brokatbesetzten Sessel, sitzt ein König, umringt von Gestalten, in Tüchern gehüllt wie verpuppte Raupen. Auf dem sonnigen Platz gegenüber, im grossen Brunnen, stehen drei hölzerne Klappstühle im Wasser. Den drei jungen Damen, die darauf Platz nehmen, soll eine Lektion in Anstand erteilt werden. Doch die Damen sind maulig und renitent. Zu wenig maulig, findet Conni Stüssi. «Das muess e chli frächer sie», fordert die wettergegerbte Gruppenleiterin die jungen Spielerinnen auf. Der zweite Versuch klappt nur wenig besser. Nun, es ist auch kurz vor Mittag und heiss, die Truppe ist schon seit einigen Stunden am Proben. Lass man gut sein, morgen ist auch noch ein Tag, und bis zur Aufführung im Rahmen des Inselfestivals Rheinau dauert es noch anderthalb Wochen.
Lust auf Begegnung via Theater
Conni Stüssi ist Teil und Mitbegründerin von FAHR.WERK.ö! (und das muss man genau so schreiben), einer fahrenden Theaterwerkstatt für Kinder und Jugendliche. Dazu obliegt ihr dieses Jahr gemeinsam mit Simon Gisler die künstlerische Leitung des Inselfestivals. In ihrer Funktion als Theaterfrau leitet sie eine der sieben Gruppen, die, kreuz und quer über die malerische Insel verteilt, ein Stück erarbeiten. 70 Kinder und Jugendliche aus Rheinau und Jestetten/Altenburg sind beteiligt. Passend zum Festivalthema «Grenzen sprengen» hätten sie bewusst Schulklassen in der Schweiz und in Deutschland angeschrieben, erklärt sie das Vorgehen. Diesseits und jenseits der Grenze sei die Idee begeistert aufgenommen worden. Obwohl Grenze in diesem Gebiet ein etwas krasser Begriff sei, schliesslich könne man ja einfach über das kleine «Brüggli» unten am Rhein fahren, und schon sei man im Nachbarland.
Dennoch, was die Schule anbelangt, erzählt Stüssi, «haben die Rheinauer keine Ahnung, wie die Jestetter funktionieren, man kennt da auch niemanden, und andersrum ist es genau gleich. Es gibt da offenbar kein Gefäss, das Gelegenheit zur Begegnung bietet.» Da offeriert sich ein Theaterprojekt doch als lustvolle Variante. Nur: Was wird hier überhaupt gespielt? Titel des Stücks, Thema? Und wie erzählen all die Könige, verpuppten Raupen, Erzieherinnen aufmüpfiger Damen, Lakaien und was da sonst noch gruppenweise oder einzeln auf der Insel umherschwirrt, letztlich gemeinsam eine Geschichte?
Aus einer Prinzessin werden drei
Was Novizen verwirrlich erscheinen mag, ist die ganz normale Arbeitsweise der Theaterwerkstatt, seit nunmehr 20 Jahren. «Wir haben jeweils einfach eine grobe Idee im Kopf», erklärt Stüssi. Diese basiert einerseits auf aktuellen Begebenheiten, andererseits auf der Örtlichkeit, die bespielt wird. Denn als Kulturfahrende hat man kein Theaterhaus mit Bühne, Kulissen und Lichtanlage. Das Theater ist der Platz, wo die fahrende Werkstatt sich niederlässt, sei dies eine Scheune, eine leer stehende Fabrikhalle oder eine idyllische Insel.
«In den Schulzimmern stört man dauernd jemanden.»
Hier gibt es nun zwei Länder, die wissen nicht viel voneinander und sind zudem gänzlich unterschiedlich. Im einen gibt es ohne Fleiss keinen Preis, im andern, dem Wunderland, herrschen lockere Gepflogenheiten (möglicherweise wurde hier das bedingungslose Grundeinkommen eingeführt). Nach einer Zeit des mehr oder weniger unaufgeregten Nebeneinanderherlebens entsteht ein Konflikt. Deshalb muss ein Zaun her, der die beiden Länder trennt.
Die Anspielungen auf das aktuelle Weltgeschehen lassen sich unschwer erkennen in dieser Rahmenhandlung. Deren Ausgestaltung, die Figuren und den weiteren Verlauf der Geschichte entwickeln die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer jedoch ganz ohne Vorgaben. Da kann es auch passieren, dass aus einer Prinzessin plötzlich drei werden und eine in ein ganz anderes Metier wechselt. Was in den einzelnen Gruppen aus den Improvisationen entsteht, zu einem stimmigen Theaterstück zu verweben, obliegt wiederum den Theaterfachleuten. Dafür braucht es meist eine lange Nacht, sagt Stüssi.
Der Vokal ist, was hängenbleibt
Und was hat es eigentlich mit diesem seltsam geschriebenen Namen auf sich? Fahren und Werk, klar, aber das «ö!»? Das «k» oder «ch» auf Mundart am Schluss habe sich einfach zu kratzig angehört, erklärt Stüssi, da hätten sie in den wenigen Minuten, die ihnen beim Brainstorming mit dem Grafiker geblieben seien, einfach diesen Vokal angehängt. «Das «ö!» steht für nichts, ist aber das, was den Leuten bleibt», meint die Theaterfrau lachend. «Die mit dem «ö» sind wieder da!»
Fährt man im Sommer übers Land, ist die Möglichkeit gross, die hübschen Zirkuswagen irgendwo zu sichten, wo Kinder und Jugendliche mit den Theaterleuten für die Dauer ihres Projekts eine kleine Lebensgemeinschaft bilden. Einen festen Winterplatz hat das FAHR.WERK.ö! nicht. Der schönste bespielte Platz des Jahres soll jeweils als Winterquartier dienen, lautet die Regel. Aber vorerst gilt es, noch den Konflikt auf der Insel zu lösen.