Wie die Grenzregion im 1. Weltkrieg zur Schmuggelhochburg wurde

Während der Kriegsjahre 1914-1918 florierte der Schmuggel in der Grenzregion. Schweizer wie auch Deutsche nutzten die Lage des sogenannten «Jestetter Zipfels» aus. Zöllner waren überfordert - oder beteiligten sich direkt selbst an den Schmuggeln.
Der Erste Weltkrieg brachte Verheerung, Tod und Leid über Europa. 17 Millionen Menschen starben zwischen 1914 und 1918. Einige verhungerten aufgrund der allgegenwärtigen Mangellage, manche wurden auf den Schlachtfeldern im Kugelhagel getötet, wieder andere nahmen sich das Leben, aufgrund von Perspektivlosigkeit und Angst.

Die Not, welche die brutalen Schlachten über den Kontinent brachten, erlebte man auch in der Schweiz: Nahrungsmittel wurden knapp, wichtige Industriegüter Mangelware. Da viele Männer zur Grenzverteidigung abgezogen wurden, fehlte vor allem bei ärmeren Familien der Ernährer. Eine Verdienstausfallentschädigung gab es nicht, sodass die meisten Familien sich plötzlich in wirtschaftlicher Not befanden.
Auch aus dieser Not kam es während den Kriegsjahren zu regelrechtem bandenmässigem Schmuggel. Dabei wurden manche Menschen reich – andere bezahlten mit ihrem Leben.
Das Zollausschussgebiet
Begünstigt hat den Schmuggel die besondere Lage des «Jestetter Zipfel», der die Gemeinden Jestetten, Altenburg, Lottstetten und Dettighofen umfasst. Diese Orte wurden 1840 zu einem sogenannten «Zollausschussgebiet» zusammengefasst. Der Grund dafür war, dass man so die Grenze von über 60 auf gerade mal sechs Kilometer kürzen konnte. Das bedeutete, dass die Orte zwar formell zu Deutschland, beziehungsweise damals zum Grossherzogtum Baden gehörten, aber der Zollhoheit der Schweiz unterlagen. Waren konnten zoll- und steuerfrei ge- und verkauft werden und waren entsprechend günstiger als im «Zollinland». Das stellte einen massiven Wettbewerbsvorteil für die Bewohner der Gemeinden dar. So boten laut dem «Jestetter Dorfbuch» viele Bauern ihre Waren regelmässig auf Schaffhauser Märkten an, konnten aber auch, wenn die Preise anderorts besser waren, auch auf badischen Märkten ihre Produkte feilbieten.
Die Lage und die besondere Situation im «Zipfel», sorgte vor dem Ersten Weltkrieg bei den Menschen in der Region für einen bescheidenden Wohlstand. Als dann der Krieg losbrach und die Not auf beiden Seiten immer mehr anwuchs, kam ein neues Geschäftsfeld dazu, welches mit Härte und Gewalt geführt wurde: Auf einmal wurde der Schmuggel eine der Haupteinnahmequellen für viele Zipfel-Bewohner – mit Unterstützung der Schweizer Nachbarn, die ebenso profitieren konnten.

Denn auch wenn die Schweiz ebenfalls unter den Wirren des 1. Weltkriegs litt: Die Lage war nie so angespannt und dramatisch, wie sie es beim nördlichen Nachbarn war. Das zeigt das Beispiel der Historikerin Jacqueline Plum: in ihrem Aufsatz «Schmuggel im Dreiländereck» beschreibt sie die drastischen Wohlstandsgefälle, die die Deutschen teils «ennet» der Grenze sahen. «Während in Lörrach die tägliche Brot- und Mehlration aus 300 Gramm bestand, und Fleisch auf wöchentlich 200 Gramm rationiert war, sahen die Menschen in Südbaden im Nachbarort Riehen und in Basel volle Regale und Auslagen in den Bäckereien und Metzgereien.»
Die grüne Grenze
Zwar hatte die Schweiz mit Beginn des 1. Weltkriegs ihre Grenzen besetzt und ihre «Neutralität» erklärt - das bedeutete aber nicht, dass jetzt niemand mehr «rüber» kam.
Denn die sogenannte «grüne Grenze» war immer noch offen. Der «Jestetter Zipfel» und etwa der Kanton Schaffhausen teilen sich bis heute viele Wälder, in denen man teils mehrmals die Grenze übertritt, ohne es wirklich zu merken. Das nutzen auch Schmuggler.
Aber auch über den Rhein wurde reichlich geschmuggelt. Das kam etwa bei einem Prozess zu einem tragischen Vorfall in Benken zum Vorschein. Die SN schrieben im Jahr 1917 von der «Benkener Affäre»: Dabei erschossen Zöllner einen Zürcher und einen Schaffhauser, die bei einer Zollkontrolle nicht angehalten hatten und im Verdacht standen, Schmuggler zu sein. Im Laufe des Verfahrens gegen den Kommandanten der Zöllner kam auch der «Modus Operandi» der Schmuggler ans Licht: Schweizer versteckten demnach die Schmuggelware in den Wäldern rund um Rheinau, Ellikon und Dachsen, wo sie in der Nacht dann meistens per Boot über die Grenze auf die deutsche Seite gebracht wurden.
Ein weiterer, bequemer Weg für Schmuggler war die Bahnlinie, die schon damals durch die deutschen Orte Altenburg, Jestetten und Lottstetten fuhr. So berichteten die SN aus den Kriegsjahren immer wieder von Vorfällen, bei denen Personen «Gegenstände» im deutschen Gebiet aus dem Zug warfen. Erst 1918 wurden hier Verschärfungen verhängt, die diese Art des Schmuggels verhindern sollten, mit mässigem Erfolg.
Süssstoff, Pferde, Gummi
Aber was wurde letztlich geschmuggelt? Praktisch alles. Besonders beliebt war der Süssstoff «Sacharin». Dieser war in fast allen europäischen Ländern verboten, in der Schweiz laut dem Historiker Christian Litz jedoch ein Grundpfeiler der chemischen Industrie. In der Eidgenossenschaft gab es regelrechte «Sacharin»-Dealer, die das Produkt kiloweise über die Grenze schmuggelten. Die Historiker Thomas Hengartner und Christoph Maria Merki beschrieben die Schmuggelaktionen damals als «mafiamässig».

Aber nicht nur Süssmittel wurde illegal über die Grenze gebracht. So schnappten Grenzwächter bei Stein am Rhein im Jahr 1916 laut den SN einen Pferdeschmuggler, der gleich drei Tiere über den Rhein bringen wollte. Sein Pech war, dass er dieses Mal an aufmerksame Grenzwächter geriet – die den Mann direkt festsetzten. Laut den SN hatte er zuvor immer Erfolg gehabt. Die Hufe der Tiere hatte er mit Tüchern umwickelt, sodass sie keine Geräusche machten. Für diese Tat musste er vors Kriegsgericht, da Pferde als «kriegswichtig» galten.
Daneben wurden ebenso Alltagswaren wie Gummi geschmuggelt. 1915 wurde laut SN eine siebenköpfige Bande gesprengt, die sich auf den Schmuggel von eben diesem spezialisiert hatte. Kopf war laut der Zeitung von damals ein Zürcher, der den Stoff gewerbsmässig illegal über die Grenze nach Deutschland brachte.
Zöllner «schauen weg»
Der Schmuggel in der Grenzregion war massiv – und wurde teils ignoriert bzw. toleriert. In der «Klettgauer Zeitung» aus dem Jahr 1917 war etwa zu lesen: «Woche für Woche bringen die schweizerischen Zeitungen Mitteilungen über gewerbsmässigen Lebensmittelschmuggel über die deutsche Grenze. Wir Schaffhauser sitzen zunächst bei diesem Diebshandwerk und staunen schon längst über die Ruhe unserer Bundesbehörde […] An eine ernsthafte Unterdrückung des Schmuggels nach Deutschland denkt aber in Bern niemand.»
Dabei lag das Problem wohl nicht unbedingt in Bern, sondern stand teils selbst an der Grenze. 1917 wurde etwa ein Grenzwächter verurteilt, nachdem er einem Bauern in Stein am Rhein geholfen hatte, 2500 Stück Fadenspuhlen über die Grenze zu bekommen. Knapp 1000 Franken verdiente er mit den Hinweisen, wann, wo Zöllner anzutreffen seien. Bedenkt man, dass man mit 20 Franken eine Dreizimmerwohnung mieten konnte, kann man sich ausrechnen, wie viel das war.

Auch mit dem Ende des 1. Weltkrieges verlief sich der Schmuggel in der Grenzregion nie wirklich. Selbst die Aufhebung des Zollausschussgebiets 1934 beendete dieses illegale Treiben nicht. Während des 2. Weltkrieges zog auch der Schmuggel wieder massiv an. Ältere einheimische Zipfel-Bewohner erinnern sich noch heute, wie ihre Eltern in den Wäldern sich mit Schweizern trafen und Waren austauschten, wie etwa Schokolade oder Zigaretten.
Später wurde der Schmuggel sogar überlebenswichtig, denn auch viele Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland fanden über die grüne Grenze ihren Weg in Sicherheit.