Angriff auf die Demokratie

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SN-Inlandredaktor Reto Zanettin über Gewaltdrohungen gegen Politiker, den Umgang miteinander in den sozialen Medien sowie die daraus resultierende Polarisierung der Gesellschaft.

Ausgerechnet im Mutterland der modernen Demokratie geschah es: Ein 25-Jähriger tötete den britischen Politiker David Amess während einer Bürgersprechstunde mit einem Dutzend Messerstichen. Fünf Jahre ­zuvor ermordete ein Mann aus dem rechtsextremen Lager die Labour-Abgeordnete Jo Cox ebenfalls an einem Treffen mit Wählerinnen und Wählern. Nun diskutiert man auf der Insel, ob Politiker und Wähler sich überhaupt noch ­direkt begegnen sollen und wenn ja, welche Sicherheitsvorkehrungen man treffen müsse.

Angriffe auf Politiker gab es auch in der Schweiz. Das extremste Beispiel ist wohl das Attentat auf den Zuger Kantonsrat vom September 2001. Vierzehn Menschen starben, der Täter nahm sich das Leben. Prügel einstecken musste Hans Fehr, damaliger SVP-Nationalrat, vor der Albisgüetli-Tagung seiner Partei im ­Januar 2011. Und die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli wurde im vergangenen August mit Apfelschorle überschüttet, als sie einen Impfbus einweihte.

Soziale Netzwerke lassen Hass oftmals zu

Vor wenigen Monaten eskortierten Elitepolizisten die Bundesräte Alain Berset und Guy Parmelin zur «Arena» des Schweizer Fernsehens. Der Gesundheitsminister wurde bereits verschiedentlich angefeindet und massiv an Leib und Leben bedroht. Jüngst wiederholte sich das: Auf Facebook betitelte ihn einer als «boshafte, korrupte Karikatur eines widerlichen Pharmalobbyisten und Politverbrechers».

Die Betreiber sozialer Netzwerke lassen solche Hasskommentare zu und löschen sie nicht konsequent. Der zitierte Facebook-Beitrag ist seit zwei Wochen online, und der Name des Absenders ist öffentlich. Insofern hat die britische ­Innenministerin Priti Patel recht, wenn sie striktere Vorschriften für Internetfirmen fordert. Dies besonders, weil sich in sozialen Netzwerken rasch verbreitet, was früher unter Stammtischbrüdern blieb und noch am selben Abend wieder heruntertemperiert wurde. Im Netz hingegen finden sich stets Gleichgesinnte, die sich gegenseitig hochschaukeln. Das leistet Gewalt Vorschub.

«Dass Politiker Polizeischutz brauchen, ist ein Alarmzeichen.»

Ausserdem fragt es sich, ob sich die Absender von Hasskommentaren auch im persönlichen Gespräch vulgär ausdrücken würden. Möglich ist es. Doch es würde ihnen schwerer fallen als im Internet. Wie hoch die Hemmschwelle liegt, hängt also vom Medium ab. Dies weist auf eine Schwäche mancher Charaktere hin: Nicht das eigene Sittlichkeitsempfinden entscheidet darüber, was gesagt wird. Bestimmend ist, wo man sich äussert und ob man dafür persönlich gerade stehen muss oder sich hinter einem Spitznamen verstecken kann. Je stärker Onlinemedien genutzt werden, desto wichtiger wird daher freiwillig geleisteter Respekt.

Dies besonders, nachdem Autoritätspersonen von einst es nicht mehr sind. Niemand erstarrt mehr in Ehrfurcht vor Pfarrern, Ärzten und Lehrern. Und auch Politiker sind kritisierbarer geworden. Den ehemaligen CVP-Bundesrat Kurt Furgler bezeichnete die «Neue Züricher Zeitung» noch als «eine Ausnahmeerscheinung in der schweizerischen Politik» sowie als «brillianten Politiker» der 70er- und 80er-Jahre. Heutige Bundesräte werden nicht mehr auf Sockel gehoben. Man begegnet sich auf Augenhöhe, was begrüssenswert ist. Doch jene, welche die Coronapolitik der Schweiz bekämpfen, zielen auf einzelne Regierungsmitglieder und schlagen ­dabei allzu oft unter die Gürtellinie.

Trennung von Politikern und Bürgern kann nicht funktionieren

Manch ein Familienstreit entbrannte, weil sich die einen impfen liessen, die anderen partout nicht. Und in Bern musste das Bundeshaus abgeriegelt werden, weil Coronaskeptiker aufmarschierten.

Damit hat sich die Polarisierung in unserem Land zugespitzt. Dass Politiker Polizeischutz brauchen, ist ein Alarmzeichen. Gerade die Schweizer Demokratie lebt von hartem Ringen, bis ein Kompromiss gefunden ist. Die Auseinandersetzung muss aber fair bleiben. Sonst droht unser auf Diskurs und Ausgleich getrimmtes politisches System zu zerbröckeln.

Dieses Staatsgefüge gründet auf dem Milizgedanken und den Volksrechten. Im Parlament sitzen Landwirte, Anwälte, Unternehmer, Ingenieure und Gastronomen – Leute, die ihr berufliches Wissen in die Ratsäle tragen. Wie soll das funktionieren, wenn sie von Bürgern abgeschottet werden müssen, weil ihnen Tätlichkeiten angedroht werden?

Einige emotional aufgeladene Abstimmungen stehen an. Ende November geht es um die Pflegeinitiative und abermals um das Covid-19-Gesetz. Die Urnengänge kommen keinen Tag zu früh. Denn direkte Demokratie kann auf friedliche Art und Weise Druck aus dem System nehmen. Die Hoffnung bleibt, dass der Abstimmungskampf fair ausgetragen wird. Denn Gewalt gegen Leute mit anderer Meinung ist Raubbau an der Demokratie.

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