Grenzüberschreitendes Volksfest oder rollendes Kommerzspektakel?

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Am Sonntag findet bereits zum 14. Mal der slowUp Schaffhausen-Hegau statt:Ist der Anlass ein gesundes Volksfest oder eher kollektiv verordnete Fröhlichkeit? Zwei Autoren, zwei Meinungen.

Pro

Von Dario Muffler, Redaktor Region

«Wer zum Notarzt will, der hat ein Problem», lautet das Totschlag­argument gegen den slowUp. Dass die medizinische Notfallversorgung der von den Strassensperrungen betroffenen Bevölkerung nicht gewährleistet ist, ist aber Humbug. Und wer am slowUp-Sonntag anderweitig aus seinem Dorf hinaus will, der kann sich organisieren. Schliesslich ist dieser siebenstündige Anlass weit im Voraus angekündigt – und kommt jedes Jahr zur selben Zeit wieder. Und das ist gut so!

Der slowUp ist zu einer In­stitution geworden. Die Anlassreihe lockt schweizweit seit seiner Erstaustragung im Jahr 2000 jährlich fast eine halbe Million Teilnehmerinnen und Teilnehmer an. Bei der letztjährigen Austragung in der Region Schaffhausen-Hegau zählten die Organisatoren rund 22 000 Freizeitsportlerinnen und -sportler. Sie alle absolvierten die 38 Kilometer lange Runde oder zumindest einen Teil davon – und das mit eigener Muskelkraft. Der slowUp leistet damit einen wichtigen Beitrag dazu, dass sich die Menschen bewegen. Und Bewegung an der frischen Luft ist gesund und macht Freude.

Die für den Autoverkehr komplett gesperrte Strecke, die durch acht Gemeinden führt, bietet allen Mitmachenden die Möglichkeit, sich von der Schönheit unserer Region zu überzeugen, sei es beim Anblick der Hegau-Vulkane oder bei der Fahrt entlang des Rheins. Besonders bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass beim slowUp gleich sechsmal die Landesgrenze passiert wird. Das bedingt eine gute Koordination zwischen den Kommunen. Der slowUp ist deswegen auch wegen der länder­übergreifenden Zusammenarbeit begrüssenswert.

Der Freizeitanlass ist aber viel mehr als blosses Strampeln und Schwitzen. Das Kalorienverbrennen steht bei den wenigsten im Zentrum. Wer auf seine Kilometer in einem bestimmten Geschwindigkeitsschnitt kommen will, der sucht sich an diesem Tag eine andere Route. Viel mehr ist die Teilnahme am slowUp ein Sonntagsausflug und ein Volksfest – und zwar für die ganze Familie. In jedem Dorf bieten die ansässigen Vereine ein kulinarisches Angebot – von den klassischen Bratwürsten und Schlangenbrot bis zum Quinoasalat gibt es alles. Hier und dort spielt sogar die Dorfmusik auf. Zudem gibt es an verschiedenen Stellen Wettbewerbe zum Mitmachen und Werbegeschenke zum Abstauben. Zwar werden diese oftmals belächelt. Insgeheim aber freuen wir uns doch alle darüber, wenn wir etwas geschenkt bekommen.

Contra

Von Ulrich Schweizer, Redaktor Beilagen

Velo fahren ist schön: allein, in einem gemächlichen Tempo, das es erlaubt, die Natur zu erleben – oder auf der Jagd nach persönlicher Rekordzeit bis an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu gehen – beziehungsweise, mit einem Hilfsmotor als elektrischem Rückenwind, sogar darüber hinaus.

Wer zu zweit unterwegs ist, erlebt doppelt so viel Schönes, kann einander Erlebnisse mitteilen, Eindrücke austauschen und sich mit dem Effekt von «stoss mich, zieh mich» gegenseitig Kraft und Elan vermitteln.

Das Tandem ist ein Sonderfall der Zweirad-Zweisamkeit, Aficionados werden sagen, deren Gipfel: Zu gleich schlagenden Herzen und gleich fühlenden Seelen kommen auf dem «Velo-Reihenzweizylinder» noch im Gleichtakt strampelnde ­Waden in einer Schicksalsgemeinschaft, die zusammen vorwärtskommt – oder (hoffentlich nicht!) zusammen stürzt und scheitert.

Das Trio ist die klassische Dreiecksbeziehung auf dem Zweirad: Zwei Schnelle, die den Langsamen ins Sandwich nehmen, ihn moralisch stützen und auf Trab bringen, oder zwei Langsame, die den schnell Davoneilenden mit zarten sozialen Silberfäden der Gemeinschaft und des Gruppenerlebnisses an sich binden – oder es zumindest versuchen. Velo fahren zu dritt kann dreimal so intensiv und, ja, auch dreimal so schön sein. Nach den Regeln der Mathematik im steten linearen Fortschritt müsste dann das Fahren im Team Schneewittchen – sieben Zwerge und eine Prinzessin – sieben- bis achtmal so schön sein.

Aber: Ist eine Velotour mit vielen Tausend Fahrerinnen und Fahrern wirklich vieltausendmal schöner? Oder hört hier die Milchmädchenmathematik auf? Bleibt im Gedränge auf der Strecke? Wird im allgegenwärtigen Kommerz von Sportlermarken und kollektiv verordneter Fröhlichkeit erdrückt? Bleibt in den Strassenabsperrungen stecken?

Im konkret bevorstehenden ­slowUp Hegau-Schaffhausen vom kommenden Sonntag ist zum Beispiel das Dörfchen Buch vom Morgen bis am Nachmittag von den Strassenverbindungen mit der Aussenwelt abgeschnitten. Wer als Notfall zum Arzt oder mit einem verletzten Hund zum Tierarzt muss, dem steht eine wahre Odyssee bevor.

Schön ist, dass an jedem slowUp die Strasse entschleunigt wird und einen Tag dem Langsamverkehr gehört. Noch schöner wäre es allerdings, wenn das Velowegnetz so gut ausgebaut wäre wie das Autostras­sennetz, ohne Wege, die nirgends anfangen oder im Nichts enden – und zwar alle Tage, das ganze Jahr.

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