Mit abnehmendem Anstand

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Robin Blanck Schaffhauser Nachrichten

Geht uns der Anstand verloren? Chefredaktor Robin Blank kommentiert.

Normalerweise sind Getränke dazu da, Körper und Gemüt zu kühlen. Ganz anders verhält es sich mit jenem Glas Bier, das dem Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr über den Kopf gegossen wurde und noch dieser Tage für heisse Debatten sorgt: Im Nachgang eines Fussballmatches zwischen dem FC Zürich und dem FC Winterthur im Mai 2017 wurde der SP-Regierungsrat in einer Beiz von einem jungen Mann – dem Sohn einer Thurgauer SP-Regierungsrätin – vorsätzlich mit Gerstensaft übergossen. Es folgte eine Strafanzeige, welche nachher wieder zurückgezogen wurde. Die Sache ist juristisch erledigt, und gleichwohl ist sie es nicht ganz: Es wird darüber diskutiert, ob der Rückzug der Anzeige gerechtfertigt war (die SVP wirft Fehr abstruserweise sonnenkönighaftes Verhalten vor), medial wird insinuiert, Fehr habe seine Kompetenzen überschritten und die Ermittler der ihm unterstellten Kantonspolizei auf den Biergiesser gehetzt, statt das der Stadtpolizei zu überlassen – ein Umstand, den Fehr bestreitet. Wieder andere finden die ganze Aufregung generell übertrieben und kritisieren, Fehr stelle sich an und solle die Bierdusche einfach hinnehmen. Also alles nur ein Sturm ums Bierglas? Das denn doch nicht, denn die Debatte geht bis jetzt leider am Kern der Sache vorbei: an der Art, wie wir miteinander umgehen.

Angriffe auf Politiker sind ­ keine Lappalie

Irritierend ist zunächst einmal, dass über den Täter kaum ein Wort verloren wird, sondern sich primär der Angegriffene rechtfertigen und dem Vorwurf entgegentreten muss, überreagiert zu haben. Aber ganz egal, wie man es dreht und wendet, das Übergiessen mit einem Getränk ist ein Übergriff auf die körperliche Integrität einer Person und steht am Anfang der ganzen Affäre: Dort, im mangelnden Respekt vor dem Gegenüber, liegt das Fehlverhalten. Dass von solchen Attacken auch immer wieder Politiker betroffen sind, ist leider eine Tatsache: Tortenwürfe auf Micheline Calmy-Rey und Hans-Rudolf Merz, eine Joghurtattacke auf Christoph Blocher sind nur einige Beispiele, die Liste wurde jüngst mit den Aussagen der zurückgetretenen Zürcher SP-Stadträtin Claudia Nielsen verlängert, die «beschimpft und bespuckt» wurde.

Nun kann man das als Betroffener einfach über sich ergehen lassen, aber je weniger wir dem entgegentreten, desto mehr sind wir bereit, das als neuen Standard hinzunehmen. Das kann nicht sein.

Natürlich dürfen Politiker kritisiert werden und müssen für ihre Entscheide auch Verantwortung übernehmen, grundsätzlich verdienen sie aber für ihren ­Einsatz im Dienste der Allgemeinheit ­Anerkennung.

Weil dieser Respekt noch nicht ganz erodiert ist, treffen wir unsere Amtsträger heute noch im Bus, am Wurststand oder an der Tankstelle. Diese Volksnähe verhindert wiederum das Entstehen ­einer abgehobenen Politkaste und wirkt so mässigend auf die Politik ein: Wer ein Ohr beim Volk hat und den Menschen im Bus, am Wurststand und an der Tankstelle begegnet, regiert pragmatisch und meist vernünftiger.

Wer nun körperliche Übergriffe als Lappalien abtut und dies als Bestandteil des Politikerberufs anerkennt, schadet diesem Verhältnis, denn daraus ergibt sich letztlich Distanz in Form von Limousinen und Sicherheitsleuten. Am Ende dieser Entwicklung steht auch eine Politik ohne Bodenhaftung.

Wir brauchen wieder mehr Anstand

Noch schlimmer: Schaden nimmt auch unser tägliches Miteinander. Denn wenn wir akzeptieren, dass Personen in bestimmten Gegenden nicht mehr sicher sind, geht Elementares verloren. Wir müssen uns frei bewegen, müssen gerade auch ausserhalb unseres jeweiligen politischen Biotops präsent sein können. Der Gewerkschafter muss natürlich unversehrt an der ­Albisgüetli-Tagung auftauchen können, ebenso wie der SVP-Politiker am 1. Mai nicht damit rechnen muss, angegangen zu werden. Denn genau das fehlt zunehmend: die direkte Konfrontation mit den Argumenten des Gegenübers, die Auseinandersetzung von Angesicht zu Angesicht. Diese schafft meist deutlich mehr Verständnis als etwa die stupide Beschimpfungsorgie, wie wir sie auf Onlinekanälen rund um die Uhr beobachten können: Der Ton zwischen Beteiligten hat dort längst ungeahnte Tiefen erreicht. Eine Ausweitung dieses enthemmten Umgangs auf die reale Welt sollten wir unbedingt vermeiden und kein Verständnis haben für Leute, die anderen Bier auf den Kopf kippen, sondern wir sollten Meinungsverschiedenheiten wieder direkt besprechen – und dazu ­allenfalls ein Bier trinken.

Wir brauchen auch keine Debatte über Sinn oder Unsinn von Strafanzeigen nach Übergriffen, sondern müssen einen Weg finden, zu verhindern, dass Respekt und Anstand verloren gehen.

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