Trelleborg-Chef: «Die Deglobalisierung muss sich erst einmal jemand leisten können»

Beat Rechsteiner | 
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Trelleborg Sealing Solutions
Jarno Burkhardt leitet Trelleborg in Stein am Rhein – der Grosskonzern beschäftigt dort rund 200 Mitarbeiter. Bild: Roberta Fele

Unterversorgung, Engpässe, Rationierung: Seit 2020 sind in Sachen Lieferketten felsenfeste Gewissheiten des internationalen Handels über den Haufen geworfen worden. Was hat die Krise ausgelöst und findet nun die grosse Rückbesinnung auf die Regionalität statt? Wir fragen nach bei Jarno Burkhardt, General Manager von Trelleborg in Stein am Rhein. Der weltweit tätige schwedische Grosskonzern, der unter anderem mit Flüssigsilikon arbeitet, ist ein interessantes Beispiel für globalisierte Lieferketten. Schnell wird klar: Hinter der Abhängigkeit vom Ausland stehen viele Zwänge, die sich kaum beseitigen lassen.

Herr Burkhardt, beginnen wir mit einem Gedankenspiel. Wenn heute die Grenzen geschlossen würden: Wie lange könnte Trelleborg in Stein am Rhein noch produzieren?
Jarno Bukhardt: Etwa sechs Wochen.

Die Abhängigkeit von ausländischen Zulieferern ist also hoch.
Burkhardt: Ja. Das liegt in erster Linie am Rohmaterial. Die Grundinhaltsstoffe, die es für die Herstellung von Flüssigsilikon braucht, kommen in der Schweiz nicht vor, sondern hauptsächlich in Südostasien und weniger ausgeprägt in nordischen Küstengebieten. Die Grundstoffe werden nach der Gewinnung mit einem Chemikalienmix zu dem Stoff weiterverarbeitet, den wir benötigen. In der Schweiz gibt es keinen Flüssigsilikonhersteller.

Der Aufbau einer alternativen Bezugsquelle im Land wäre also ein sehr steiniger Weg.
Burkhardt: Das würde mehrere Jahre dauern und viele Millionen Franken in Anspruch nehmen. Man muss sich zudem vor Augen führen, dass Flüssigsilikon kein Massenprodukt ist, sondern in einer spezifischen Nische gebraucht wird. In der Schweiz gibt es drei oder vier Unternehmen, die Flüssigsilikon verarbeiten, wobei wir mit 80 Spritzgussmaschinen die mit Abstand grössten Kapazitäten haben. Sie sehen: Der Weg ist nicht nur sehr steinig, er lohnt sich schlichtweg nicht.

Das heisst, hierzulande können wir in diesem Bereich gar nichts tun, um Abhängigkeiten in den Lieferketten zu reduzieren?
Burkhardt: Dazu müsste schon die Schweiz als Staat die Produktion von Flüssigsilikon als systemrelevant einstufen und als strategisches Ziel formulieren, beispielsweise mit Blick auf die Herstellung medizinischer Produkte. Das zeichnet sich aber nicht ab.

Setzen Sie sich mit einem solchen Horrorszenario wie der kompletten Grenzschliessung überhaupt auseinander?
Burkhardt:
Ganz ehrlich: Noch 2019 gab es keinerlei Anlass dazu angesichts der globalen Kapazitäten und der guten Lieferantensituation.

Und heute?
Burkhardt:
Das hat sich komplett verändert und wir sind mit Blick auf die Ereignisse der letzten Jahre, insbesondere während der Corona-Pandemie, darauf angewiesen, uns solche Gedanken zu machen. Es sind ganz neue Spielregeln entstanden.

Zur Person: Jarno Burkhardt

Seit 22 Jahren ist Jarno Burkhardt für Trelleborg beziehungsweise für ein von Trelleborg aufgekauftes Unternehmen tätig, elf davon am Standort Stein am Rhein. Burkhardt ist 48 Jahre alt und hat in Stuttgart Betriebswirtschaft studiert. Als General Manager verantwortet er das Geschäft in Stein am Rhein und ist in dieser Funktion auch Bindeglied zum Gesamtkonzern.

Was für Vorkehrungen haben Sie getroffen?
Burkhardt:
Wir arbeiten in drei Richtungen: Erstens machen wir uns vertiefte Gedanken über alternative Materialien. Allerdings sind wir in vielen sensiblen Bereichen tätig wie etwa der Medizinaltechnik oder der Lebensmittelindustrie – das sind stark regulierte Segmente und entsprechend komplex, langwierig und teuer ist die Zulassung neuer Materialien. Dennoch wird hier sehr intensiv gearbeitet, auch getrieben von Kundenbedürfnissen. Zweitens versuchen wir, das Risiko zu senken, indem wir mit verschiedenen Lieferanten zusammenarbeiten. Und drittens geht es auch um eine geografische Diversifizierung: Nicht mehr alles soll von asiatischen Vorproduzenten bezogen werden.

Corona war offensichtlich ein tiefer Einschnitt, an der grundsätzlichen Abhängigkeit hat die Pandemie aber wenig verändert. Richtig?
Burkhardt:
Ja, die Abhängigkeit ist weiterhin gross. Man muss das aber auch realistisch einschätzen: Wir sind in einer extrem komplexen Branche tätig und für die Herstellung und die Verarbeitung von Flüssigsilikon braucht es ein umfassendes Know-how, das man sich nicht über Nacht aneignen kann. Sich in einer Krise einfach selbst zu helfen, ist also alles andere als einfach.

Wie haben Sie am Standort Stein am Rhein denn die Corona-Zeit überstanden?
Burkhardt:
Wir haben zwischen 2019 und 2022 18 Prozent Umsatzwachstum generiert und entsprechend mehr Volumen abgesetzt. Wir sind in erster Linie mit langfristigen Projekten unterwegs – diese haben sich zuweilen verzögert, wurden aber nicht storniert. Insofern können wir mehr als zufrieden sein, die Nachfrage ist gestiegen und nicht gesunken. Wir haben davon profitiert, dass wir Branchen beliefern, die während der Pandemie gewachsen sind: Denken Sie an Kaffeemaschinenhersteller, an die Medizinaltechnik oder an die Sanitärbranche. Kurzum: Wir konnten auch während Corona unseren kontinuierlichen Wachstumskurs fortsetzen.

Viele haben während Corona prognostiziert, dass die Wirtschaftswelt nach der Pandemie nie mehr so sein wird wie davor. Davon ist in vielen Bereichen kaum etwas zu spüren. Auch Sie haben keine wirklich einschneidenden Veränderungen vollzogen.
Burkhardt:
Das stimmt. Vielleicht war die Pandemie ein zu extremes Ereignis, um als Modell für das künftige Wirtschaften dienen zu können, erst recht, weil sie so lange dauerte. Noch schlimmer kann es ja eigentlich kaum kommen. Und wenn man nach diesen Jahren immer noch so gut dasteht – gegen was soll man sich denn noch schützen und absichern?

Trelleborg: 200 Mitarbeiter in Stein am Rhein

Trelleborg ist ein schwedischer Grosskonzern mit weltweit 28'000 Mitarbeitern, der auf Kunststofftechniklösungen für Abdichtungen, Dämpfungen und den Schutz sensibler Anlagen in anspruchsvollen Anwendungsbereichen spezialisiert ist. Unter anderem ist das Unternehmen in der Luft- und Raumfahrt und in der Medizinaltechnik tätig.

In Stein am Rhein beschäftigt Trelleborg rund 200 Mitarbeiter. Fokussiert ist der Betrieb auf Silikonguss, unter anderem für Anwendungen im mikroskopischen Bereich. Auch der Bau von komplexen Werkzeugen ist eine Stärke des Werks. Bei den Silikongussprodukten stehen vier Bereiche im Zentrum: Die Medizinaltechnik, in der Trelleborg Teile für Mikrosensoren herstellt, die beispielsweise in Insulin-Badges zur Anwendung kommen. Die Automobilindustrie, die bei Trelleborg unter anderem Silikongussteile für komplexe Sensorensysteme einkauft. Im Food- und Beveragebereich, wobei hier Kaffeemaschinenhersteller grosse Kunden sind. Und schliesslich in der Sanitärbranche, in der Dichtungselemente aus Silikon benötigt werden.

Ist die Energiekrise für Sie einschneidender?
Burkhardt:
Insofern, dass wir für unsere Produktion zuverlässig und anhaltend Strom benötigen. Wenn der Strom auch nur für ein paar Minuten ausfallen würde, wären die Schäden immens. Wir hätten keine Produktion, viel Materialverlust und zerstörte Gussformen. Denn das Silikon braucht einen nahtlosen Hitzefluss.

Trelleborg ist ein Grosskonzern mit 28'000 Mitarbeitern, der sehr stark global ausgerichtet ist. Worin sehen Sie die Vor- und Nachteile mit Blick auf die Lieferketten?
Burkhardt:
Nehmen wir die Zeit der dramatischen Unterversorgung und der Lieferengpässe als Referenz, so haben wir sehr stark von unserer Grösse und unserer Vernetzung profitiert. Liefermengen wurden rationiert und zugeteilt – natürlich waren wir als Grossabnehmer davon viel weniger betroffen als kleinere Unternehmen. Wären wir ein eigenständiges KMU hier in Stein am Rhein mit der aktuellen Grösse, hätten wir in den schlimmsten Phasen der Krise wohl nicht einmal mehr Material bekommen.

Damit wäre auch die Frage geklärt, ob Sie nicht lieber in einem regionalen KMU tätig wären...
Burkhardt:
Beide Organisationsformen haben Vor- und Nachteile. Wenn man sich auf die Materialsituation und die Preisfindung fokussiert, ist es logisch, dass grössere Unternehmen mehr Spielraum haben. Das trifft im Speziellen auf eine spezialisierte Branche wie die unsrige zu. Auch die Lagersituation ist für uns als grosser Abnehmer komfortabel, weil Hersteller ihr Material bei uns einlagern und wir je nach Bedarf beziehen können. Das würden sie einem kleinen Kunden wohl nicht zugestehen. Dem allem gegenüber stehen die erhöhte Komplexität von Konzernstrukturen, die nach Reportings und strikt definierten Prozessen verlangen. Das ist aber mit Blick auf die Liefersituation vernachlässigbar.

Man könnte also die These aufstellen, dass grössere Unternehmen bezüglich Lieferketten krisenresistenter sind als kleine – das dürfte zu Konzentrationswellen führen und dazu, dass die Grossen Kleinere schlucken. Ist das auch bei Trelleborg so?
Burkhardt:
Für unsere Branche stimmt Ihre These mit Sicherheit. Silikon ist ein Wachstumsmarkt, und wo Wachstum ist, gibt es auch viele kleinere Unternehmen, die in den Markt einsteigen. Manche geraten in Krisensituationen finanziell ins Wanken und werden dann aufgekauft. Auch bei unserem Konzern ist das Wachstum durch Firmenzukäufe seit jeher ein fester Bestandteil der Strategie.

Als Unternehmen sind Sie gleichzeitig Kunde und Lieferant, sind also auch bei Preisfragen in zweierlei Hinsicht betroffen. Wie erleben Sie dieses Spannungsfeld?
Burkhardt:
Auch hier ist die Welt nicht schwarz-weiss. Wir sind beispielsweise von der Euroschwäche stark betroffen, da wir 75 Prozent im Ausland umsetzen und hauptsächlich in Euro fakturieren. Diese Währungsdifferenzen können wir als Lieferant nicht über höhere Preise ausgleichen. Schliesslich ist es unser Entscheid, in der Schweiz zu produzieren und nicht der der Kunden. Anders sieht das bei preistreibenden Entwicklungen aus, die für den Markt leicht nachvollziehbar sind, also etwa gestiegene Energiekosten, Inflationseffekte oder teurere Rohmaterialien. Solche Veränderungen können wir im Preis weitergeben. Ganz ähnlich ist es dann auch, wenn wir selbst auf der Kundenseite stehen.

Haben Sie Kunden, die einen höheren Preis in Kauf nehmen, wenn die Materialien beispielsweise nicht aus Asien, sondern aus Europa stammen?
Burkhardt:
Ja, das gibt es durchaus. Da geht es um Fragen der Regionalität und um den Einsatz von Ökostrom, vor allem aber um die Versorgungssicherheit. Man muss jedoch schon realistisch sein: In unserer Branche ist der Preis ein entscheidender Faktor. Und je länger die Pandemie hinter uns liegt, desto weniger präsent sind die Bedenken bezüglich Versorgungssicherheit.

Lange gab es in vielen Märkten eine regelrechte Globalisierungseuphorie, die dann durch Krisen arg gebremst wurde. In welche Richtung geht es Ihrer Meinung nach?
Burkhardt:
Ich kann nur für unsere Branche sprechen. Da gilt es festzuhalten, dass die Deglobalisierung wahnsinnig viel kosten würde – das muss sich erst einmal jemand leisten können. Es gibt Produkte, beispielsweise im Lebensmittel- oder im Bekleidungssektor, bei denen der Endverbraucher sehr wohl bereit ist, für Werte wie Regionalität oder Ökologie mehr zu bezahlen. Das ist etwa bei Autos anders: kaum jemand ist bereit, 12'000 Franken mehr für ein Auto zu bezahlen, weil die in den Anwendungen verbauten Silikon-Rohstoffe nicht aus Asien stammen. Insofern kann ich festhalten, dass in unserem Bereich der Preis, die Liefersicherheit und die Qualität wichtiger sind als ideelle Werte. Und diese Faktoren sind aktuell nur durch die Internationalität gewährleistet.

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