«Komplexität braucht Vernetzung»

Fast alle produzierenden KMU in Schaffhausen haben eine überregionale Reichweite. Marco Jaggi, Geschäftsführer des ITS, im Gespräch über steigende Komplexität der Unternehmens- und Produktentwicklung sowie die zunehmende Bedeutung von Nachhaltigkeit in globalen Lieferketten, die überregionale Kooperationen sowie Know-how erfordern, und wie das ITS Schaffhauser KMU bei dieser Vernetzung und Suche von Partnern und Experten unterstützt.
Die produzierende Industrie ist in der Region stark verankert. In Schaffhausen dominieren international tätige Unternehmen in der Chemie- und Pharmaindustrie, im Werkzeug- und Maschinenbau und in der Medizinal- und Kunststofftechnik. Wie erreichen KMU im kleinen Schaffhausen eine globale Reichweite?
Oft durch die starke Spezialisierung auf eine Nische, technologische Innovation sowie sehr hohe Qualität und clevere, kundenorientierte Gesamtlösungen. Ein KMU kann auf diese Weise konkurrenzfähig sein und nicht zwingend durch Skaleneffekte oder Tiefpreise.
Können Sie Beispiele nennen?
Viele Werkzeugbauer in der Gegend, vor allem in der Kunststoffverarbeitenden-Industrie wie etwa Stamm in Hallau, Kebo in Neuhausen oder Fostag in Stein am Rhein erstellen qualitativ anspruchsvolle, präzise Formen für teilweise winzige Bauteile. Je kleiner, desto schwieriger ist die Produktion. In der Medizinaltechnik produziert Renggli zum Beispiel Pipettenspitzen oder Alcon Operationsinstrumente für Augen oder SHL Dosierungslösungen für Spritzen.
Welche Beispiele kommen Ihnen im Maschinenbau oder der Elektrotechnik in den Sinn?
Medipack ist ein Verpackungshersteller für die Medizinalindustrie, bietet aber im Sinne von cleveren Komplettlösungen für Kunden auch eigene Verpackungsmaschinen an. Brütsch-Elektronik aus Beringen entwickelt gemeinsam mit dem Medizintechnik-Unternehmen Storz elektromechanische Produkte für Operationssäle auf höchstem Niveau. Phoenix Mecano produziert Komplettsysteme für Montagearbeitsplätze sowie langlebige, extrem belastbare Antriebe für Landmaschinen und Savvy bietet innovative Logistiküberwachungssysteme. Wie gesagt, das Erfolgsrezept sind Nische, Innovationsgeist und hohe Qualität.
Mit ITS und den INOS Plattformen gibt es in Schaffhausen für lokale KMU Möglichkeiten, sich zu vernetzen und von den Kompetenzen der Hochschulen und den multinationalen Akteuren aus der Industrie zu profitieren. Wie wird dieses Angebot genutzt?
Die Firma Storz etwa entwickelt derzeit ein neues Medizinaltechnik-Produkt. In einem ihrer Teilgebiete gibt es sehr wenige Experten, am ehesten sind diese im Hochschulbereich zu finden. Wir konnten Storz mittels eines Förderprojekts einen Coach anbieten, der Fachleute für ein Entwicklungsteam zusammengebracht und so einen Baustein für eine Produktinnovation gelegt hat.
Wann tritt die INOS Kunststoffplattform auf den Plan?
Auch hier ein Beispiel aus der Medizintechnik. Eine Schaffhauser Firma hat eine Komponente für die es weltweit nur einen Lieferanten gibt. Dieser hat Probleme mit der Liefertreue. Das Produkt ist aber schwierig nachzubauen. Über die INOS Kunststoffplattform gleisten wir ein Coaching mit einem Experten der Fachhochschule OST in Rapperswil auf, damit die Komponente analysiert, der Aufbau besser verstanden und neue potenzielle Produzenten identifiziert werden können. Falls das klappt, könnte INOS zur Pilotprojektentwicklung ein Kooperationsprojekt mit Finanzbeiträgen fördern, sofern der Lieferant in der Ostschweiz ist.
Technoparks oder Kompetenzzentren wie etwa im Nahrungsmittelbereich auf dem Knorr-Gelände können Grossfirmen und Start-ups an einem Standort vereinigen. Sind solche branchenübergreifende und interkantonal vernetzte Zusammenschlüsse in SH künftig unabdingbar für global erfolgreiche Unternehmen?
Es wäre sicherlich von Vorteil, wenn wir solche Cluster und Hubs in Schaffhausen hätten. Wo sich Kompetenzen konzentrieren, entsteht eine Eigendynamik, die Unternehmen hilft, die bereits ansässig sind. Es bringt Know-how und Fachkräfte in die Region und kann auch Sogwirkung für Unternehmen erzeugen, die deswegen dorthin ziehen oder Aktivitäten entfalten wie Forschungsentwicklung und Kooperation. Darum ist es wichtig, dass die lokalen Akteure aus Politik, Standortförderung und Industrie zusammen an solchen Projekten arbeiten. Wenn Schaffhausen im Wettbewerb um einen guten Standort mithalten will, spielen Cluster und Hubs eine wichtige Rolle.
Wo gibt es bereits solche?
Es gibt das Switzerland Innovation Park Netzwerk – zwei in der Westschweiz, einer in Basel, einer im Aargau, einer in Dübendorf und der neuste in St. Gallen. Schaffhausen hat mit seinen spezifischen Technologiekompetenzen das Potential, eigene Innovationsgefässe zu entwickeln.
In Schaffhausen soll ein Ökosystem für moderne Kunststoffe entstehen?
Im Bereich neuer Materialien mit Schwerpunkt Kunststoff bestehen aufgrund von Akteuren wie ITS oder Initiativen von INOS schon starke Vernetzungen und Aktivitäten innerhalb der Kunststoffbranche. Wir prüfen derzeit, ob es möglich wäre, mehr physische Präsenz damit zu verknüpfen. Wir haben in Schaffhausen im Kunststoffbereich Unternehmen mit internationaler Spitzenkompetenz. Es gibt zahlreiche Querschnittsthemen wie Materialentwicklung oder Nachhaltigkeitslösungen, welche sie verbinden. In diesem Kontext könnte etwas entstehen.
Bestehen konkrete Pläne?
Ein grosses internationales Unternehmen arbeitet in Schaffhausen an einem interessanten Pilotprojekt. Es geht um Zirkularität in der Medizinaltechnik-Industrie. Die Wiederverwertbarkeit von Kunststoff spielt dabei eine wichtige Rolle. Im Moment wird die Pilotanlage installiert, die ermöglichen soll, gebrauchte Medizinalprodukte vollautomatisch in Einzelteile zu zerlegen und diese wieder in den Kreislaufprozess zurückzuführen. Dafür soll ein komplexes internationales Rücknahmesystem vom Endkunden zur Aufbereitungsanlage und von da weiter zu den Wertstoffverwertern aufgebaut werden. Das internationale Leuchtturmprojekt hat Synergiepotential mit Unternehmen und Kompetenzen in der lokalen Industrie. So entstehen interessante Voraussetzungen, um über ein Schaffhauser Ökosystem nachzudenken.
Die Lieferketten müssen laut EU-Gesetzgebung nachhaltiger werden. Wie verändert dies die Produktion und Prozesse von global tätigen Unternehmen in unserer Region?
Die ganze Nachhaltigkeitsthematik ist ein sehr gutes Beispiel, wie die internationale Vernetzung an Wichtigkeit, aber auch an Imperativ gewinnt. Viele Bestimmungen kommen aus der EU und werden viele Branchen mit Regulatorien beeinflussen. Weil viele Unternehmen in Schaffhausen exportorientiert sind, haben sie keine andere Wahl, als sich daran anzupassen. Es passiert automatisch. Andererseits sind Lösungen im Bereich der Nachhaltigkeit so komplex, zum Beispiel beim Schliessen von Kreisläufen, dass man sie nur in Kooperation umsetzen kann.
Welche KMU sind betroffen von den Nachhaltigkeitsbestrebungen der EU?
Ab 2025 sind vor allem grosse internationale Konzerne davon betroffen. Aufgrund der Systematik aber sind automatisch auch die Lieferketten betroffen. Die grossen Unternehmen werden in die Pflicht genommen per Gesetz, etwas zu unternehmen, aber der grosse Teil der Emissionen kommt aus den Lieferketten. Die internationalen Konzerne werden darum ihre Lieferkette in die Pflicht nehmen. So tröpfelt es von oben nach unten. Darum wird das alle KMU, egal in welcher Branche und welcher Grösse, früher oder später beeinflussen.
Ist das in Schaffhausen schon spürbar?
Grossunternehmen im Kanton Schaffhausen legen schon heute Rechenschaft ab über ihre Nachhaltigkeitsaktivitäten. Davon betroffen sind auch Unternehmen in deren Lieferketten. Sie werden angehalten, treibhausgasrelevante Verbesserungen in ihren Produkten und Prozessen vorzunehmen. Es funktioniert wie bei Dominosteinen. Jedes Unternehmen erhält von oben Druck und gibt es in die Lieferkette weiter. Das ITS bietet Unterstützung an – vor allem beim Thema Energieeffizienz und Treibhausgasbilanzierung, damit sich Unternehmen auf diesen Weg begeben können. Dabei arbeiten wir auch mit einem Netzwerk von Nachhaltigkeitsexperten zusammen.
Im Dienstleistungssektor boomt die Logistikbranche in Schaffhausen. Sie profitiert von der Grenzlage. Welche Unterstützung hätte diese nötig?
Insbesondere die Logistikbranche wird von diesen Nachhaltigkeitsgesetzen stark betroffen sein. Sie gehört zu den grossen Emissionstreibern innerhalb der Lieferketten. Jedes Unternehmen wird in Zukunft auf seine Logistikprozesse schauen müssen. Dort gibt es bestimmt Entwicklungen, die zu Herausforderungen und Innovationen führen werden. Wenn es in jener Branche Bedarf gibt für Unterstützung, sind wir vom ITS offen.
Kennen Sie ein solches Beispiel?
Ein Gemüseproduzent im Thurgau, der Migros und Coop mit Chicorée beliefert, bekam unlängst ein Schreiben von den Detailhändlern, bis 2026 netto null zu erreichen. Das ist äusserst ambitioniert. Aber so funktioniert das im Moment. Unser Kompetenzpartner hat das Unternehmen analysiert. Der grösste Treibhausemissionsfaktor beim Gemüseproduzenten ist der Diesel, den es braucht, um die Landmaschinen zu betreiben und für die ein- und ausgehende Logistik. Elektrobetriebene Traktoren oder Lastwagen sind aber auf absehbare Zeit noch sehr teuer. Die Technologie hinkt in gewissen Bereichen noch den Regulatorien hinterher.
Was gibt es für Lösungen?
Man muss an vielen Orten gleichzeitig schrauben und mit den Kunden einen Weg finden, da die Mitbewerber das ähnliche Problem haben. Es gilt, pragmatische, machbare Lösungen zu finden. Nicht nur bei der Logistik wird es grosse Herausforderungen geben, die technische und systemische Lösungen erfordern. Die Welt wird komplexer und man kann nicht mehr alles selbst lösen. Auf vielen Gebieten ist die Notwendigkeit von Kooperationen unabdingbar.
Was bedeutet das für KMU?
Das ist eine Herausforderung für viele KMU, denn Kooperationen und Vernetzungen brauchen Zeit und Know-how, und kommen zum Tagesgeschäft obendrauf. Solche Kontaktvermittlungen sind deshalb eine unserer Hauptaufgaben. Der Bedarf ist nicht nur in Nachhaltigkeitsthemen da. Ein KMU aus der Elektromechanik-Branche will beispielsweise ein Produkt mit einer digitalen Lösung entwickeln, was ein neues Kompetenzfeld darstellt. Vielleicht kommen Bestimmungen im Nachhaltigkeitsbereich dazu. Dafür braucht das KMU Kompetenzpartner, die wir identifizieren und vermitteln.
Sind KMU bereit für solche Kooperationen?
Die Bereitschaft der Unternehmen für Kooperationen nimmt immer mehr zu. Es ist auch eine Generationenfrage. Für die Jüngeren ist es selbstverständlich, dass man zusammenarbeitet und Informationen teilt. Der Patron, der früher im stillen Kämmerlein alles selbst entwickelt hat, gehört zunehmend der Vergangenheit an.
Marco Jaggi ist Geschäftsführer des Industrie & Technozentrums Schaffhausen (ITS): Seit 25 Jahren unterstützt der gemeinnützige Verein Schaffhauser Firmen in Innovations-, Technologie- und Unternehmensfragen. Die kostenlosen Leistungen beinhalten Kontaktvermittlung und Vernetzung mit Experten, Partnern und thematischen Netzwerken, Wissensvermittlung über aktuelle Technologien und Trends sowie die Förderung von Innovationsprojekten. Der ITS finanziert sich durch Partnerbeiträge aus der Industrie, dem Kanton Schaffhausen und dem Bund. Im überregionalen Innovationsnetzwerk Ostschweiz (INOS) ist Jaggi für den Bereich Kunststofftechnik und Nachhaltigkeit zuständig.