«Das macht das Gefängnis für mich zum Kerker»

Iris Fontana | 
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Die entzogene Freiheit ist durch nichts ersetzbar. Bild: ZVG

Wie ist es, sein Berufsleben hinter dicken Mauern rund um Gefangene zu verbringen? Was ist schwierig und traurig, was schön und vielleicht sogar lustig? 33 Jahre ist Lorenz Ammann schon im Strafvollzug tätig, davon 23 Jahre in Schaffhausen als Gefängnisleiter. Im Zahltag-Interview gibt er einen eindrücklichen Einblick in seine Jobwelt, spricht über das berühmte Vorurteil vom Wellnesshotel und erklärt, was das Gefängnis an der Tischmesse von nächster Woche zu suchen hat.

Herr Ammann, als Gefängnisleiter, was ist das Schönste und was das Traurigste an Ihrem Job?

Lorenz Ammann: Herausfordernd ist sicher, jeden Tag neuen Menschen zu begegnen, die sich in aussergewöhnlichen und schwierigen Situationen befinden. Das Schöne dabei ist, wenn wir Menschen unterstützen können. Dass wir uns für sie einsetzen und auf ihre Anliegen eingehen, wird auch von den meisten Inhaftierten geschätzt. Ein Vollzugsgrundsatz ist: «Drinnen gleich wie draussen» – das versuchen wir so gut wie möglich umzusetzen. Das Traurige ist, wenn Menschen sich nicht helfen lassen wollen, wenn sie keine Perspektive mehr haben. Zusätzlich schwer wird es, wenn sie ihre Wut an uns oder den anderen Insassen auslassen.

Sie machen eine für den Durchschnittsbürger eher aussergewöhnliche Arbeit. Ist das Ihr Traumjob?

Ammann: Es ist sicher kein Traumjob im herkömmlichen Sinn. Jeder, der diesen Job macht, ist ein Quereinsteiger, da es Pflicht ist, vorher einen anderen Beruf ausgeübt zu haben. Als ich diesen Job ausgeschrieben sah, bewarb ich mich, da es eine Arbeit mit und für Menschen ist. Wichtig ist es, Lebenserfahrung mitzubringen und jeden Tag wieder abschalten zu können. Kein Traumjob, aber ein Job, bei dem man im Kleinen etwas bewegen kann.

Wie müssen wir uns Ihren Arbeitsalltag vorstellen?

Ammann: Im Gefängnis sind gewisse Strukturen durch die Hausordnung, interne Weisungen und fixe Essenszeiten klar vorgegeben. Diese betreffen vor allem die Aufseher, aber auch mich in einem gewissen Masse. Fix ist auch der Team-Rapport zweimal täglich. Dadurch, dass wir an sieben Tagen rund um die Uhr Menschen aufnehmen, ist eine sehr grosse Flexibilität gefragt, in besonderem Masse für mich als Gesamtverantwortlicher. Wenn in einer Nacht fünf Insassen dazukommen, darf ich die Übersicht nicht verlieren und muss stets situationsgerecht und zeitlich korrekt handeln.

Was war das Bewegendste, was Sie in Ihrem Joballtag erlebt haben?

Ammann: Sehr bewegend ist sicher immer, wenn sich ein Mensch das Leben nimmt. Aber auch, wenn ein gestandener Mann aufgrund der Ausweglosigkeit seiner Situation hemmungslos weint und man merkt, dass es wirklich echt ist. Oder an Weihnachten, wenn die Heilsarmee auf den Gängen das weltweit bekannte Lied «Welch ein Freund ist unser Jesus» singt und die Tränen fliessen. Das Verbrechen ist das eine, der Mensch das andere.

Gibt es auch Momente, in denen Sie richtig lachen können?

Ammann: Die gibt es. Manche Insassen können einen zum Lachen bringen. Sei dies bei einem persönlichen Gespräch oder an einem Singabend oder an einer Weihnachts- oder Osterfeier. Lachen ist auch im Gefängnis wichtig.

Jeder hat ein Bild davon, wie es ist, im Gefängnis zu sein – die Spannweite reicht von Wellnesshotel bis Kerker. Machen wir uns ein richtiges Bild vom Gefängnisalltag?

Ammann: Diese Frage muss differenziert betrachtet werden. Verglichen mit einem Bettlerleben auf der Strasse mag der Aufenthalt bei uns ein Wellnesshotel sein. Für alle anderen ist der Standard definitiv tiefer als draussen. Letztlich aber ist die Freiheit, die wir einem Menschen entziehen, durch nichts ersetzbar. Schwierig für die Insassen ist zudem, zu 100 Prozent von uns abhängig zu sein. Abseits ihrer rund sieben Quadratmeter grossen Zelle können sie sich nie frei bewegen. Der Häftling muss um alles bitten, auch um sehr persönliche Dinge wie Tampons, Binden oder Hämorrhoiden-Salbe. Zudem ist das Leben im Gefängnis stark fremdbestimmt: Dem Insassen wird gesagt, wann er was essen muss, wann er duschen kann, mit wem er wann Kontakt haben und wann er nach draussen in den Hof gehen darf. Er hat kein Handy oder Internet. Ausserdem wird jeder Brief zensuriert. Das macht das Gefängnis für mich zum Kerker.

Wie nehmen Sie das Bild in der Bevölkerung wahr?

Ammann: Dieses nehme ich geteilt wahr, so wie von Ihnen beschrieben. Wer einmal bei uns war, weiss, dass der Vollzugsalltag nicht einfach ist. Da ist die Zelle, da ist aber auch eine Welt voller Unbekannten: «Wie lange muss ich da bleiben? Wie geht es danach weiter? Wie läuft es draussen? Habe ich noch eine Freundin? Hält meine Familie zu mir? Habe ich noch einen Job?» Wer diese Fragen einmal durchgedacht hat, spricht nie mehr von einem Wellnesshotel. Aber natürlich gibt es auch Leute in der Bevölkerung, die sich nicht mit der Thematik auseinandersetzen und populistisch von «Kuschelvollzug» sprechen.

Wie schlimm ist es für einen Häftling, je nachdem 23 Stunden am Tag eingesperrt zu sein?

Ammann: Das ist sehr schlimm. Die Person ist 23 Stunden am Tag isoliert, ohne Handy oder Verbindung zur Aussenwelt, abgesehen von «offiziellen Kontakten» mit dem Aufsichtspersonal, dem Seelsorger, dem Arzt, mit Polizisten oder Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft. Soziale Kontakte, wie man sie in der Freiheit pflegt, gibt es nicht. Eigentlich ist dies heute nicht mehr erwünscht. Aber in unserem alten Gebäude ist es nicht anders möglich, im Neubau wird das besser. Es gilt immer die Zukunft im Blick zu haben: Die meisten Häftlinge kommen irgendwann wieder frei und sollen dann reintegriert werden. Darum lautet ein weiterer Vollzugsgrundsatz: Möglichst wenig isolieren, soviel Normalität als möglich, damit möglichst wenig kaputt geht. Denn ein isolierter Mensch zerbricht irgendwann.

Was sind für Sie die Herausforderungen beim Thema Nähe und Distanz zu den Inhaftierten?

Ammann: Das ist ein schwieriges Thema, gerade wenn man die Gesamtverantwortung trägt und 365 Tage im Jahr zuständig ist. Meine grosse Erfahrung nach 33 Jahren hilft mir. Es gilt, das Verbrechen vom Menschen zu trennen. Manche sind einem sympathischer als andere, aber es gilt, alle gleich zu behandeln. Dabei sagt mir das System, wer was bekommt. Letztlich sind es professionelle Beziehungen. Wichtig ist es, in der Freizeit einfach nur Privatperson und bei der Arbeit ein Profi zu sein. Schicksale darf ich nicht zu nahe an mich heranlassen.

Der Arbeitsbereich im Gefängnis. Bild: ZVG

Im Gefängnis gibt es auch den Bereich Arbeitsbetrieb. Was muss man sich darunter vorstellen und was ist Sinn und Zweck dieses Bereichs?

Ammann: Einerseits haben die Strafgefangenen gemäss Strafgesetzbuch im Vollzug Arbeitspflicht. Das bedeutet, dass wir verpflichtet sind, ihnen eine Arbeit zu bieten. Dies ist sehr schwierig im Kanton Schaffhausen mit all den sozialen Institutionen, die ebenfalls Aufträge suchen. Der Sinn dahinter ist es, dem Gefangenen Strukturen zu geben. Damit beginnt man heute übrigens bereits in der Untersuchungshaft, bei der man dem Inhaftierten acht Stunden Beschäftigung pro Tag anbietet, auch wenn er keine Arbeitspflicht hat. Denn ohne Strukturen verwahrlost ein Mensch, wird lethargisch und apathisch. Es ist ausserdem wichtig, dass die Arbeit sinnvoll ist – nicht einfach nur etwas, das am Ende des Tages wieder entsorgt wird. Ausserdem wollen wir den Gefangenen vermitteln, dass alles kostet, drinnen wie draussen. Wenn der Gefangene einen Fernseher in der Zelle haben will, Toilettenartikel oder Chips, verrechnen wir das. Daneben sind natürlich auch gesundheitliche und soziale Aspekte wichtig. Der Insasse hat Bewegung, kommt aus der Zelle raus, kann Gespräche führen.

Sie werden in einer Woche auch an der Tischmesse als Aussteller vor Ort sein, da Sie mehr Aufträge generieren möchten. Was für Aufträge wünschen Sie sich?

Ammann: Am geeignetsten sind immer Artikel oder Montagearbeiten, welche möglichst wenig Werkzeug brauchen und nicht allzu viel Platz benötigen. Montagearbeiten eignen sich besonders gut, weil wir diese auch in die Zellen geben können, da wir nur rund 30 Prozent der Insassen vor Ort in unserem Arbeitsbereich beschäftigen können. Das entspricht zwölf bis 15 Arbeitsplätzen. Wir können Briefe einpacken, haben auch schon Schneepfähle für Kantonsstrassen angestrichen. Gut vorstellbar sind auch Bau-Absperrplatten und Bänkchen (neu) zu streichen. Letztlich machen wir alles, was mit den Sicherheitsvorschriften vereinbar ist – und gearbeitet wird übrigens auch am Wochenende, wenn nötig. Am besten ist es, einfach zu fragen. An der Tischmesse werden wir als Anregung ein paar Produkte ausstellen, die wir für Kunden angefertigt haben.

 

Lorenz Ammann und Gefängnis Schaffhausen

Lorenz Ammann_Gefängnis

Der 58-jährige, gebürtige Winterthurer, Lorenz Ammann ist gelernter Drechsler und Krankenpfleger. Seit 33 Jahren ist er im Strafvollzug tätig, 23 davon in Schaffhausen als Gefängnisleiter.

Das Gefängnis Schaffhausen verfügt über 42 Zellen und 54 Betten. Es ist zuständig für alle Personen, die im Kanton Schaffhausen verhaftet werden und bietet sämtliche Vollzugsarten für alle Deliktsarten an. 19 Mitarbeiter, sieben davon Frauen, bewältigen rund 15'000 Verpflegungstage im Jahr. Das Team ist 24 Stunden an sieben Tagen für die Aufnahme und Betreuung der Insassen zuständig.

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