Gut gemeint, aber an der Realität vorbei konzipiert?

Iris Fontana | 
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Die Diskussion über die integrative Schule wird emotional geführt. Archivbild: Roberta Fele.

In der Schweiz ist ein regelrechter Streit um die integrative Schule entbrannt. In mehreren Kantonen, darunter auch Schaffhausen, werden von verschiedener Seite Initiativen lanciert oder kritische Fragen aufs politische Parkett gebracht. Grosso modo lautet der Tenor: Eigentlich ist die integrative Schule ein gutes Konzept, jedoch hapert es bei der Umsetzung. Uns vom Zahltag interessiert bei dieser Diskussion vor allem, wie die Frage nach einem integrativen Schulmodell aus wirtschaftlicher Sicht zu beurteilen ist. Wir haben versucht, uns anhand von Studien und Expertenaussagen ein Bild zu machen. Es zeigt sich: Einfache Antworten gibt es nicht.

Beim Thema integrative Schule gehen die Emotionen hoch: Die Zeitungen füllen sich längst mit Artikeln und emotionalen Leserbriefen. Im Kanton Zürich ergab eine Umfrage des Forschungsinstituts GfS Bern im Auftrag der «NZZ», dass sich zwei Drittel der Befragten wieder Kleinklassen (Förderklassen) zurückwünschen. In Bern hat das Parlament entschieden, dass die Gemeinden wieder vermehrt Kleinklassen einrichten können, wenn sie an ihre Grenzen stossen.

Zu viele Verlierer

Interessant ist auch das Beispiel Basel-Stadt, wo es die Lehrergewerkschaft ist, welche mit der «Förderklassen-Initiative» wieder heilpädagogisch geführte Förderklassen einführen will. 70 Prozent der Lehrer hätten sich in einer Umfrage für einen Ausbau des separativen Unterrichts ausgesprochen, so dass also Schüler, die den Unterricht wiederholt stören, in Sonderklassen unterrichtet werden sollen. Ihr Fazit: Das aktuelle «integrative Einheitsmodell» habe sich zu wenig bewährt, es gebe zu viele Verlierer. Grund dafür sei die permanent hohe Belastung, die von verhaltensauffälligen Schülern ausgehe und sich negativ auf die ganze Klasse auswirke, vor allem auch auf die betroffenen Lehrer. Spannend dabei ist, dass die Initiative von einer Gruppe stammt, die sich ansonsten laut für Integration einsetzt. Und Basel ist nicht allein. Auch eine Umfrage des Lehrerverbands im Kanton Aargau kommt zum Schluss, dass das System der inklusiven Schule am Anschlag sei. In Schaffhausen hat Kantonsrat Urs Capaul am 30. Januar eine Interpellation zum Thema eingereicht. Der vielsagende Titel: «Ist die Integrative Schule am Ende?». Da die Antwort des Regierungsrats noch aussteht, lehnte das Schaffhauser Erziehungsdepartment unsere Interviewanfrage ab. Klar ist: Es kommt Bewegung in die Sache, auch in unserem Kanton.

Die Belastung der Lehrer

Aus wirtschaftlicher Sicht stellt sich vor allem die Frage, ob integrative Schulmodelle Leistung fördern – oder behindern: Ist das Modell geeignet, um die Schüler optimal auf die berufliche Zukunft vorzubereiten? Rasch merken wir: Wer solche Fragen stellt, begibt sich auf schwieriges Terrain. Effizienzfragen im Bildungsbereich gelten schnell einmal als unangebracht. Dabei sind gemäss Lukas Fürrer, Generalsekretär der Bildungsdirektion im Kanton Zug, gerade solche Fragen für die Schulpraxis besonders interessant. Fürrer hat im Rahmen einer Weiterbildung eine Diplomarbeit mit dem Titel «Effizienzüberlegungen zur schulischen Integration» verfasst.

Er ist überzeugt: Ein ökonomischer Umgang mit dem Thema sei nicht nur mit Blick auf den Bildungsfranken wichtig, sondern vor allem auch mit Blick auf die Ressourcen, die Belastung und die Gesundheit der Lehrer. Dazu stellt Fürrer die Frage, wie das grundsätzlich Richtige, sprich das Integrative, noch besser getan werden kann. Er ist überzeugt, dass auch in der Bildung Besseres entstehen kann, wenn vermehrt und ohne Scheuklappen nach Aufwand und Ertrag gefragt wird. Als Problematisch betrachtet er, dass sich die Debatte zu oft allein um weltanschauliche Fragen zwischen überholter Separation und aufgeladener Inklusion drehe, was ineffizient sei. Viel zweckführender sei es, sich auf ein Modell zu einigen, bei dem Aufwand und Ertrag in etwa stimmten und dieses Modell dann bestmöglich zu optimieren. In seinen Worten: «Integration optimieren, statt Inklusion propagieren.»

Positive und negative Aspekte

Durchforsten wir weitere wissenschaftliche Arbeiten zum Thema auf ökonomische Aspekte hin, stossen wir auf eine Studie von Eckhart et al., welche die Daten einer grossangelegten Nationalfondstudie auswertete, die im Rahmen der Freiburger Integrationsforschungen durchgeführt wurde. Das Fazit der Studie: Kinder mit besonderen Bedürfnissen sind nach integrativer Förderung als Erwachsene erfolgreicher in der Berufsbildung und finden eher eine Arbeitsstelle. Junge Erwachsene hingegen, die in ihrer Schulzeit eine Sonderklasse besuchten, weisen ein deutlich kleineres soziales Beziehungsnetzwerke auf, was sich negativ auf den Selbstwert und das Fähigkeitsselbstkonzept auswirkt. Ein positiver wirtschaftlicher Effekt der Integration also.

Die Sache ist aber natürlich nicht ganz so einfach, denn gemäss einer mit dem Schweizer Bildungsforschungspreis 2021 ausgezeichneten Studie der HSG, habe das integrative Schulmodell auf die Mitschüler eher negative Auswirkungen. Die Effekte seien allerdings moderat und sie hängen wesentlich von der Anzahl von Schülern mit besonderen Bedürfnissen in einer Klasse ab. Der negative Effekt sei zudem auf leistungsstärkere Schüler kleiner als auf schwächere. Co-Autorin Beatrix Eugster erklärt dabei in einem Interview mit der Schulinfo Zug, dass eine Klasse maximal 15-20 Prozent Schüler mit besonderen Bedürfnissen umfassen dürfe. Seien es mehr, würden die negativen Effekte viel stärker zunehmen. Eine gleichmässige Verteilung der Kinder auf die Klassen sei somit wichtig, um den Lernerfolg zu unterstützen.

Und auch die HSG-Studie kommt zum Schluss, dass die Leistungen von Kindern mit besonderen Bedürfnissen stark fallen, wenn sie in separaten Klassen unterrichtet würden. Positive Effekte würden sich insbesondere dann einstellen, wenn Inklusion von einer Erhöhung der Ressourcen (Unterstützung durch Fachpersonen) begleitet werde. Ausserdem spiele auch die Art der speziellen Bildungsbedürfnisse eine Rolle. Kinder mit körperlicher Behinderung, Kinder mit Lernschwierigkeiten oder solche mit Verhaltensauffälligkeiten dürften einander nicht gleichgesetzt werden, erklärt Eugster.

Die Sache mit dem Druck

Dass es Fälle gibt, bei denen sich Schüler ohne Druck besser entfalten können, bestreitet auch Bildungsexperte Andrea Lanfranchi nicht. Der langjährige Dozent und Forscher an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) ist ein grosser Befürworter der integrativen Schule. Allerdings stellt er in einem Interview mit der NZZ klar: Für besonders schwierige Fälle seien Sonderschulen zuständig. In der Schweiz beträfe dies rund zwei Prozent der Kinder. Man dürfe sich aber nichts vormachen, die Sonderschule könne auch eine schwere Hypothek für das weitere Leben sein. Auch er erklärt, dass die Forschungslage eindeutig sei: Sonderklassenabgänger erreichten nach der Sekundarstufe weniger anspruchsvolle Ausbildungsgänge, als wenn sie die Regelschule besucht hätten. Fehle den Kindern diese Erfahrung in einer Schule für alle, handle sich auch die Gesellschaft einen Rattenschwanz von Problemen ein, die später gelöst werden müssten.

Der Zuger Lukas Fürrer spricht sich derweil für Integration als richtiges Ziel aus – im Bewusstsein der Grenzen. Seiner Ansicht nach braucht die Schule Auffangstrukturen für Schüler mit Problemverhalten. Als zielführend erachtet er temporäre Auffangstrukturen (im Gegensatz zu Kleinklassen eher niederschwellige, zeitlich beschränkte Gruppen oder Klassen, auch Schulinseln oder Lernorte genannt), wo Schüler mit Problemverhalten zur Ruhe kommen und später wieder in die Regelklasse zurückkehren können. Als Ventil seien solche Gefässe keine Bedrohung, sondern eine Chance für die Integration.

Vier Feststellungen

Und nun, wie sieht unsere Bilanz aus? Wer sich mit der richtigen Schulform auseinandersetzt, taucht ein in ein Meer aus Grautönen. Um wenigstens etwas Klarheit zu schaffen, haben wir vier Feststellungen zusammengetragen, welche die Debatte entscheidend prägen: 

  • Die Lehrer und damit für die Gesellschaft wertvolle Ressourcen sind am Anschlag. Verschiedene Rahmenbedingungen verstärken den Druck. Es wird Entlastung benötigt. Darum sind weitere Unterstützungsmassnahmen und zusätzliche Ressourcen wohl zwingend: Es braucht Fachpersonal.
     
  • Das integrative System funktioniert (noch) nicht optimal. Ein Grund dafür dürfte sein, dass die Ressourcen der unterstützenden Pädagogik nach dem Giesskannenprinzip verteilt anstatt gezielt eingesetzt werden.
     
  • Die Integration hat auch ihre Grenzen. Diese sind anzuerkennen und nicht zu tabuisieren. Es braucht diesbezüglich einen offenen Diskurs – und in der Praxis Ventile.
     
  • Das Konzept der integrativen Schule sollte nicht voreilig für gescheitert erklärt werden, denn klar ist auch: Kaum jemand will das alte System zurück.
     
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