Sie kämpft seit 20 Jahren für die Medienfreiheit in Russland – nun lebt sie in Schaffhausen

Reto Zanettin | 
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Journalistin Ekaterina Glikman zeigt die Frontseite der ersten «Nowaja Gaseta»-Ausgabe nach Kriegsausbruch. Dort steht: «Russland bombardiert die Ukraine.» Bild: Melanie Duchene

Ihr Leben lang kämpfe sie gegen Putins Machtapparat, der die Medienfreiheit zusehends eingeschränkt habe, sagt Ekaterina Glikman. Sie schreibt seit 20 Jahren für die regierungskritische russische Zeitung «Nowaja Gaseta», lebt aber seit drei Jahren in Schaffhausen.

Tag 15 des Kriegs in der Ukraine. Über zwei Millionen Menschen sind bereits geflohen. Ein Ende des Tötens ist nicht absehbar. Derweil schnürt der russische Präsident Wladimir Putin auch die Medien in seinem Land immer weiter ein.

Letzten Freitag trat ein Gesetz in Kraft, wonach mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft wird, wer in den Augen der Regierung Falschinformationen über die russische Armee veröffentlicht. Die britische BBC und der US-Nachrichtensender CNN, die deutschen Sender ARD und ZDF sowie das Schweizer Radio und Fernsehen haben sich daraufhin aus Russland zurückgezogen.

Andere sind geblieben. So etwa die Journalistinnen und Journalisten von «Nowaja Gaseta». Für diese Zeitung hat einst auch Anna Politkowskaja gearbeitet. Sie wurde 2006 erschossen, nachdem sie über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und Korruption im russischen Verteidigungsministerium geschrieben hatte.

Eine ehemalige Arbeitskollegin Politkowskajas lebt heute in Schaffhausen: Ekaterina Glikman stiess 2002 zu «Nowaja Gaseta». Mittlerweile berichtet sie als Spezialkorrespondentin für das dreimal wöchentlich erscheinende Blatt. Zum Gespräch mit den SN hat die Russin zwei Notizzettel mitgebracht. Sie wolle, bevor das Interview starte, ein paar persönliche Worte loswerden: «Meine Grossmutter kam vor der Russischen Revolution in Kiew zur Welt und starb auch dort. Mein Vater musste im Zweiten Weltkrieg als Kind vor Hitlers Armee aus Kiew flüchten.» Jetzt herrsche dort wieder Krieg und wieder müssten Menschen flüchten. «Dabei wären die Russen und Ukrainer doch sehr eng miteinander verbunden – über die Geschichte und Verwandtschaften, wie das auch bei mir der Fall ist. Dieser Krieg trifft uns alle. Es ist sehr schmerzhaft.»

Ihr ganzes Leben habe sie im Kampf gegen die russische Regierung – gegen Putin – verbracht, sagt Glikman. Als sie 21 war, schloss der russische Präsident die Zeitung, für die sie berichtete. «So waren wir schon damals am Demonstrieren.» In den letzten 20 Jahren habe Putin die Meinungsfreiheit und mit ihr auch die Medien mehr und mehr eingeschränkt. «Mein Chef Juri Schekochihin wurde 2003 vergiftet und getötet. Er hatte zu Korruption recherchiert – grosse Geschichten hatte er geschrieben.»

Anna Politkowskaja verfasste 2004 ein Buch über Wladimir Putin. In Russland konnte es nicht gedruckt werden. Glikman besorgte es sich über einen Freund in London. «Das Buch zeigte bereits damals auf, wie Putin wirklich ist. Leider hat das kaum ein westlicher Politiker zur Kenntnis genommen.» Zu profitabel sei das Geschäft mit Russland gewesen. Und das sei noch immer so: «Nord Stream 1 geht weiter, und die Gazprombank ist von den westlichen Sanktion bislang ausgeschlossen.» Hingegen wurde Nord Stream 2 bis auf Weiteres gestoppt.

Staatspropaganda habe die freien Medien abgelöst. Im Westen wahrgenommen wurde beispielsweise «Russia Today» (RT). Das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» bezeichnete RT kurz vor Kriegsausbruch als «Putins Propagandasender». Glikman vermeidet das Wort Gehirnwäsche. Sie sagt: «Die russische Bevölkerung wurde jahrzehntelang vergiftet.» Die «Nowaja Gaseta» habe versucht, dagegen zu halten. Geändert habe sich trotzdem nichts. «Das schaut jetzt so aus, als wäre unsere Arbeit umsonst gewesen. Aber das war sie nicht.» Die Zeitung habe den regierungskritischen Leserinnen und Lesern zeigen können, dass sie nicht verrückt und mit ihrer Meinung nicht allein seien. Zudem habe sie Beweise für einen allfälligen späteren Strafprozess gegen Putin und seinen Staatsapparat dokumentieren können.

«Putin tut noch viel mehr – er zerstört ganz Russland»

Eine 90-jährige Frau wird von Sicherheitskräften abgeführt. Sie trägt ein Schild mit der Aufschrift «Nein zum Krieg». Bild: Artem Leshko/Nowaja Gaseta

Frau Glikman, Sie arbeiten als Spezialkorrespondentin für die regierungskritische russische Zeitung «Nowaja Gaseta», leben aber seit 2019 in der Schweiz. Fühlen Sie sich sicher und frei hier?

Ekaterina Glikman: Am ersten Kriegstag war ich in Bern an einer Demonstration. Ich hielt eine ukrainische Flagge in den Händen. So einfach ist Protestieren in der Schweiz. Für mich als Russin war das unfassbar. In meiner Heimat werden Menschen verhaftet, wenn sie auf die Strasse gehen.

Kennen Sie Beispiele?

Seit dem 24. Februar wurden in Russland laut der Protest-Monitoring-Organisation OVD.Info 13'786 Personen wegen Anti-Kriegs-Demonstrationen verhaftet. Beispielsweise wurde eine 90-jährige Frau, die als Kind die Leningrader Blockade 1942/43 überlebt hatte, abgeführt – nur weil sie ein Schild mit der Aufschrift «Nein zum Krieg» vor sich hielt (s. Bild). Genauso wurden zwei Mütter und deren fünf sieben- bis elfjährige Kinder inhaftiert. Sie wollten bloss Blumen zur ukrainischen Botschaft bringen. Es ist verrückt.

Sie berichten über die Situation in Russland. Rechnen Sie mit Repression – jetzt, da auf kritische Berichterstattung bis zu 15 Jahre Haft stehen?

Da ich in der Schweiz lebe, habe ich keine Angst. Aber ich sorge mich sehr um meine Berufskollegen in Russland.

Wie hat die «Nowaja Gaseta» über den Kriegsausbruch berichtet?

Die erste Ausgabe im Krieg trug den Titel «Russland bombardiert die Ukraine». Sie erschien durchgehend zweisprachig – auf Russisch und auf Ukrainisch. Unsere Redaktion schrieb: «Krieg ist Wahnsinn – wir nehmen die Ukraine nicht als Feind wahr.»

Und nun ist das Mediengesetz in Kraft getreten.

Jetzt werden meine Kollegen ins Gefängnis gesteckt, wenn sie ihre Arbeit richtig machen. Das Land verlassen wollen sie trotzdem nicht. Das ist für sie keine Option, obwohl wir schon sechs unserer Journalisten – darunter Anna Politkowskaja – verloren haben. Ihre Bilder hängen bei uns in der Redaktion. In jeder Besprechung ist die Gefahr gegenwärtig, die uns bedroht. Das macht Druck.

Also musste «Nowaja Gaseta» wählen zwischen dem Risiko, bestraft zu werden, und der Einstellung der Berichterstattung. Wie hat die Redaktion diesen Entscheid getroffen?

Wir haben unsere Leser gefragt. 94 Prozent sagten, wir sollten weiter machen. Und das tun wir. Aber wir können nicht mehr direkt über den Krieg schreiben – ansonsten drohen unseren Journalisten jahrelange Gefängnisstrafen. Diese Entscheidung war für uns sehr hart.

Worüber haben Sie zuletzt geschrieben?

Diese Woche habe ich über einen Mann berichtet, der in Krakau Flüchtlingen hilft. Er ist halb Russe, halb Ukrainer. Als ich mit ihm sprach, weinte er. Ob das Interview bei «Nowaja Gaseta» veröffentlicht werden kann, weiss ich nicht. Wenn das nicht mehr geht, stelle ich es auf Facebook. Ich werde einfach jeden Tag meine Arbeit als Journalistin machen.

Viele Medien haben Russland verlassen. Ihre Zeitung berichtet nicht mehr über den Krieg. Was bedeutet das für die Russinnen und Russen?

Sie werden komplett von unabhängiger Information abgeschnitten. Jüngere, technikaffine Leute können sich Zugang zu vertrauenswürdigen Quellen im Internet verschaffen. Älteren Menschen bleibt nur, was der Staat veröffentlicht.

Michail Gorbatschow, der ehemalige Präsident der Sowjetunion, ist Miteigentümer von «Nowaja Gaseta». Kennen Sie ihn persönlich?

Ich traf ihn einige Male.

Was denken Sie über ihn?

Er war ein Segen für uns Russen.

Denken Sie, dass Putin Gorbatschows Erbe zerstört?

Er tut noch viel mehr – er zerstört ganz Russland.

Er betonte aber oft, er wolle Russland wieder gross machen.

Ja, er möchte die Sowjetunion zurück. Doch sie ist Vergangenheit und nicht wiederherstellbar. Niemand weiss, was in Putins Kopf vorgeht. Mir scheint, er hat den Bezug zur Realität verloren.

Was erwarten Sie von den USA, Europa und der Schweiz?

Ich bin dankbar für alles, was der Westen für die Ukrainer tut. Aber ich bin nicht sicher, ob die Sanktionen gegenüber Russland ausreichen, um etwas zu bewirken.

Für die Bevölkerung könnte es hart werden.

Die Leute werden trotzdem nicht aufwachen. Sie glauben, was der Staat ihnen erzählt.

Sie sagen also, die Menschen akzeptieren, dass sie leiden müssen?

Die Mehrheit der Russinnen und Russen hatte es schon immer sehr schwer im Leben. Sie haben sich daran gewöhnt. Es gibt zwar manche, die aufhorchen und kritisch sind. Aber sie schweigen aus Angst vor der Repression, die sie ansonsten erwartet – so etwa Gefängnis für sich und Angehörige oder die Kündigung der Arbeitsstelle.

Sie persönlich resignieren?

Es gibt andere, die optimistischer sind. Ich kann es nicht sein – zumindest jetzt nicht. Aber wie meine Kollegen in Russland werde ich mein journalistisches Engagement gegen diesen Krieg keinesfalls aufgeben.

Interview: Reto Zanettin

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