«Das darf es in einer Demokratie nicht geben»

Dario Muffler | 
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Vinz Koller am 14. Dezember, dem Tag der Stimmabgabe der Wahlmänner. Hier steht er vor dem Kapitol der kalifornischen Bundeshauptstadt Sacramento. Bild: zVg

Der in den USA lebende Politologe aus Schaffhausen Vinz Koller bezeichnet die Ereignisse um das Kapitol als schwarzen Tag für die amerikanische Demokratie. Er glaubt, dass die Lage in den kommenden zwei Wochen gefährlich bleibt.

Die Ereignisse in Washington am Mittwochabend gingen um die Welt: Während im Kapitol der Kongress die Stimmen der Wahlmänner verifizieren und damit die Wahl des Demokraten Joe Biden zum nächsten Präsidenten der USA bestätigen will, stürmen Randalierer das Parlamentsgebäude. Geschehnisse, die sich der erfahrene Schaffhauser Politologe und Demokratische Wahlmann Vinz Koller nicht hätte vorstellen können.

Wo und wie haben Sie den Sturm des Kapitols miterlebt?

Vinz Koller: Ich habe am TV mitverfolgt, was im Vorfeld der Revolte passiert ist, also der Beginn der Stimmenauszählung, wo auch meine Stimme dazugehört hat. Man hat ja mit Spannung erwartet, was für Einsprüche gegen die Stimmen aus den Bundesstaaten erhoben werden. Dass aber Menschen das Kapitol stürmen würden, habe ich überhaupt nicht erwartet. Das war ein sehr aussergewöhnlicher Vorgang für die USA.

Was bedeutet Ihnen das?

Für einen eingefleischten Demokraten – und das meine ich nicht im Sinne der Parteizugehörigkeit, sondern als Person, die das Parlament als Volksvertretung sieht – ist das ein brutaler Schlag. Es hat sich auch gezeigt, dass es ein Schock für die Abgeordneten und Senatoren war, die der Kundgebung vor dem Kapitol im Vorfeld positiv gegenübergestanden sind. Spätestens als die Politiker gesehen haben, was passiert, wenn die Anhänger des Präsidenten von ihm noch angestachelt werden.

Was bedeutet es für die amerikanische Demokratie?

Es war ein schwarzer Tag, weil es der Versuch des Präsidenten ist, enormen Druck in Form von Gewalt auf das Parlament auszuüben. Das darf es in einer Demokratie nicht geben. Das ist eine Bananenrepublik. Der Schock sitzt entsprechend tief in den Knochen.

Vinz Koller

Der 57-jährige Politologe mit Schaffhauser Wurzeln ist Mitglied des 538-köpfigen Electoral College. Erstmals gab er 2008 seine Stimme für Barack Obama ab. Koller wuchs in Schaffhausen auf, wanderte 1986 nach Kalifornien aus und machte dort seinen Master. Später liess er sich einbürgern. Er engagiert sich seit vielen Jahren für die Demokratische Partei.

Was lösen diese Bilder bei den Amerikanern aus?

Ich habe das Gefühl, diese Ereignisse rütteln die Bevölkerung wach. Es war ja auch ohne Sturm auf das Kapitol ein historischer Tag mit dem demokratischen Wahlsieg um die Senatssitze im Bundesstaat Georgia. Bei diesem Wahlgang hat man gesehen, dass das Volk wachgerüttelt ist. Die hohe Wahlbeteiligung gab es ja schon bei den Präsidentschaftswahlen. Die Leute haben die Geschehnisse in Washington stark mitverfolgt. Ich glaube, ihnen wurde nun vor Augen geführt, dass man auch einer alten Demokratie Sorge tragen muss, dass sie fragil und nicht selbstverständlich ist.

«Die Abwehrkräfte der Demokratie haben funktioniert.»

Es kam zu mindestens vier Toten, berichten verschiedene Medien übereinstimmend. Eine Frau wurde von einem Polizisten erschossen. War die Polizei zu wenig vorbereitet auf die Menschenmenge?

Ich stand im engen Kontakt mit dem Repräsentanten meines Wahlbezirks. Er war schockiert, wie klein das Sicherheitsdispositiv im Kapitol war. Die Polizei war eindeutig zu wenig vorbereitet. Weshalb es dazu gekommen ist, ist aktuell noch nicht klar. Die Polizeikräfte der Stadt unterstehen anderer Aufsicht als die Kräfte, welche die Regierungsgebäude schützen. Scheinbar habe Trump sich geweigert, zusätzliche Sicherheitskräfte anzufordern. Die Nationalgarde für den District of Columbia ist ihm unterstellt. Wer sich aber bewusst oder nicht bewusst schlecht vorbereitet hat, müssen nun Untersuchungen zeigen. Zudem müssen die Leute, die das Kapitol gestürmt haben, zur Rechenschaft gezogen werden.

Den Behörden wird vorgeworfen, dass sie viel heftiger reagiert hätten, wenn es dunkelhäutige Demonstranten gewesen wären.

Die Polizei hat eindeutig mit zwei Ellen gemessen. Das wird klar, wenn man sich daran erinnert, wie mit Demonstranten der «Black Lives Matters»-Bewegung umgegangen wurde. Der Unterschied ist riesig. Das ist eindeutig ein Zeichen des strukturellen Rassismus in den USA.

Es war Ihrer Meinung nach also nicht nur ein Unterschätzen der Gewaltbereitschaft der Trump-Unterstützer, sondern ein bewusstes Inkaufnehmen einer Eskalation?

Unterschätzt wurde die Situation eindeutig. Die Verhältnismässigkeit war in keiner Weise gegeben. Was genau der Grund dafür ist, darüber möchte ich nicht weiter spekulieren.

Trotzdem: Hat Trump seine Anhängerschaft unterschätzt oder war sein Verhalten Kalkül?

Für ihn ist das Ganze gelaufen, wie er sich das vorgestellt hat. Die Demonstrationen dienen hauptsächlich Trumps Ego. Mit der Bitte, nach Hause zu gehen, wäscht er seine Hände in Unschuld. Gleichzeitig lobt er die Leute als Patrioten und wiederholt, dass die Wahl gestohlen worden sei. Er hat gehofft, dass etwas läuft und dass die Leute sich einsetzen. Ich glaube, er ist nicht unzufrieden, wie es gelaufen ist. Vor allem aber ist er sich nicht bewusst, was dieses Vorgehen heisst. Ihm ist die Demokratie einfach egal. Deshalb werden auch Stimmen unter den Republikanern lauter, die ihm nicht mehr zutrauen, das Land zu führen. Im Kern gleicht sein Verhalten jenem eines Landesverräters.

Trump hat nun eine «geordnete Machtübergabe» angekündigt. Das ist Ihrer Einschätzung nach also keine späte Einsicht von Trump?

Nein, das ist keine Einsicht. Es ist zwar besser, als wenn er es nicht gesagt hätte. Er sagte aber nicht, wer und an wen die Macht übergeben werde. Die vergangenen vier Jahre zeigten, dass Trump Aussagen, die ihm von seinen Mitarbeitern aufgetischt wurden, tags darauf wieder widerrufen hat. Aber es ist zumindest ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber Trumps Erbe wird es sein, dass er der erste Präsident ist, der eine friedliche Machtübergabe bis in die letzten Tage seiner Amtszeit infrage gestellt hat. Auch gestern noch hat er seinen Anhängern erklärt, er würde seine Abwahl nie eingestehen.

«Die Spannungen innerhalb der Partei sind zweifelsohne sehr hoch. Es kann deshalb durchaus zu einer Spaltung der Republikaner kommen.»

Glauben Sie, dass die USA jetzt tatsächlich in eine Verfassungskrise stürzen?

Die Abwehrkräfte der Demokratie haben funktioniert: Der Kongress hat die Auszählung der Elektorenstimmen durchgezogen. Darauf hatten sich die Führungen beider Parteien geeinigt. Auch dass Vizepräsident Mike Pence das Resultat offiziell verkündete, war wichtig. In diesem Sinne wurde die Demokratie heute nicht zerstört, sondern bestätigt. Das grosse Fragezeichen ist aber, wie es weitergeht. Ist es das letzte Aufbäumen der Trump-Ära, die nun zu Ende geht, oder ist es der Anfang von einer neuen gefährlichen, staatsfeindlichen Bewegung? Ich glaube, wir befinden uns nun bis zum 20. Januar, wenn Joe Biden inauguriert wird, in der gefährlichsten Phase des Übergangs. Ich mache mir Sorgen darüber, was Trump noch durchziehen will.

Könnte es zur Anwendung des 25. Zusatzartikels der Verfassung der Vereinigten Staaten kommen und die Präsidentschaft dadurch vorzeitig beendet wird?

Davon wird derzeit viel gesprochen. Es ist keine einfache Sache, und ich weiss nicht, ob das durchkommt. Aber die Tatsache, dass diese Diskussion innerhalb der Regierung überhaupt läuft, zeigt, wie gross die Zweifel an der Regierungsfähigkeit von Trump sind. Die Wochen seit der Wahl von Joe Biden haben gezeigt, dass das Land nicht geführt wird. In der aktuellen Coronakrise ist das ein grosses Problem. Das bereitet mir Sorgen: Die USA müssen auch in den nächsten 14 Tagen regiert werden. Wenn ich an Staaten denke, die den USA nicht wohlgesinnt sind, ist mir da aktuell nicht so wohl, dass die Regierung in den Händen eines Mannes ist, der sich an sein Amt klammert, aber wichtige Regierungsentscheide verhindert.

Helfen diese Bilder vom Kapitol nun, das Land zu einen?

Ich habe es gehofft. Es gab auch Anzeichen dafür. Aber dass noch immer über 100 republikanische Parlamentarier Einspruch gegen das Wahlresultat erhoben haben, zeigt nun doch, dass der angerichtete Schaden der Trump-Ära gross ist. Es braucht noch eine Weile, bis man aus diesen konspirativen Theorien herauskommt.

Also wendet sich die Republikanische Partei nun nicht von Trump ab?

Es gab gewisse Zeichen: Beispielsweise was Vizepräsident Mike Pence gezeigt hat. Das sind Unabhängigkeitsbestrebungen. Die Republikaner haben sich aber noch nicht ganz von Trump gelöst. Davor haben sie noch zu viel Angst. Die Spannungen innerhalb der Partei sind zweifelsohne sehr hoch. Es kann deshalb durchaus zu einer Spaltung der Partei kommen. Die Ereignisse haben sicher dem Teil der Partei geholfen, der für eine alte Version der Republikaner steht. Dieser versucht sich zurückzubesinnen auf den Republikanismus und wegzukommen vom Trumpismus der letzten vier Jahre.

Nun wurde Bidens Wahl durch den Kongress bestätigt. Was passiert nun?

Es folgen einige Kabinettsernennungen von Biden. Er wollte zuerst wissen, wie die Machtverhältnisse im Parlament aussehen. Nun kann er die letzten Ämter so besetzen, wie er sie bei einer Minderheit der Demokraten im Senat nicht hätte besetzen können. Weiter geht es darum, sich unter Hochdruck auf die Machtübernahme vorzubereiten. Es gab diesbezüglich Spannungen in den letzten Tagen, da dem Biden-Team gewisse Informationen vorenthalten wurden.

Welche Rolle wird Trump in der US-Politik der nächsten Jahre spielen?

Das ist die grosse Frage. Es gibt Leute, die es wichtig finden, dass nochmals ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump eingeleitet und er dieses Mal auch des Amtes enthoben wird. Gewisse Dinge, die er nun getan hat, müssen geahndet werden. Insbesondere könnte er sich nicht mehr als Präsidentschaftskandidat aufstellen lassen. Er hat noch immer Macht innerhalb der Republikanischen Partei, er hat eine grosse Anhängerschaft, die ihm blindlings folgt, aber der Republikanischen Partei nicht sehr wohlgesinnt sind. Zudem hat er mit seinem konspirativen Gehabe viel Geld gesammelt. So kann er jenen Republikanern Probleme machen, die dem Trumpismus kritisch gegenüberstehen. Wie stark er in den nächsten zwei Wochen von seiner Partei abserviert wird, ist schwierig zu sagen. Was Trump betrifft, muss man sich mit Voraussagen zurückhalten.

Sie schliessen also die Kandidatur für eine weitere Präsidentschaft nicht ganz aus?

Ich schätze es als unwahrscheinlich ein, weil er spüren musste, was Verlieren bedeutet. Verlieren ist unangenehm – und er kann es gar nicht akzeptieren. Ob er sich dem nochmals aussetzen will, weiss ich nicht. Aber er wird so lange wie möglich dieses Gespenst heraufbeschwören wollen, um seinen Gegnern Angst zu machen und ihnen das Wasser abzugraben. Sicher ist, dass seine Befürworter die kommenden drei Jahre mitmachen würden. Auch wenn er sich dann plötzlich zurückziehen würde. Vielleicht hofft er auch, dass seine Familienmitglieder – wohl seine Tochter Ivanka – eine wichtige Rolle in der Politik der USA spielen können. Wie lange sich der Trumpismus halten kann, wird wohl auch davon abhängen, ob ein Ex-Präsident Trump strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden kann.

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Kommentare (1)

Boris Kerzenmacher Mo 18.01.2021 - 08:18

Die beste Analyse zur Strategie der Republikaner schrieb Timothy Snyder für die New York Times. Er hat das Thema derart stoisch/logisch förmlich heruntergekaut, dass man am Ende nur dachte: Gut. Passt
Es ist zu befürchten, die Republikaner werden die Wunde zunähen, ohne sie vorher zu reinigen. Damit werden sie den Prozess, sich wieder auf Fakten zu einigen, verschleppen
https://www.nytimes.com/2021/01/09/magazine/trump-coup.html

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