Dunkle Seite der Generation Smartphone

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Teenager machen sich immer öfter durch Social-Media-Delikte strafbar. Bild: Key

Social-Media-Delikte erreichen neue Höchstwerte: Im Jahr 2018 gingen so viele Anzeigen ein wie noch nie. Wie das Internet die Kriminalität verändert.

von Andreas Maurer und Yannick Nock

Ein Zwölfjähriger erhält an einem Sonntagabend eine Whatsapp-Nachricht. Ein Kollege hat ihm zwei Gewaltvideos geschickt, in denen Menschen aufgeschlitzt werden. Der Bub will seine Clique beeindrucken und stellt die Bilder in den Klassenchat. Das Antippen des Senden-Buttons wird seine Kindheit verändern. Am Montagmorgen fährt die Polizei beim Schulhaus vor und holt den Zwölfjährigen aus dem Unterricht. Die Polizisten beschlagnahmen sein Handy, finden darauf allerdings keine weiteren Gewaltfilme. Doch das Verfahren hat seinen Lauf genommen. Der Junge aus einer Zürcher Landgemeinde wird zum Beschuldigten in einem Kriminalfall, den die «Weltwoche» publik gemacht hat.

Die Zahlen zu Fällen wie diesem liefert die gestern veröffentlichte Kriminalstatistik. Anzeigen wegen Gewaltdarstellungen sind in jüngster Zeit regelrecht explodiert. 2018 haben sie gegenüber dem Vorjahr um 60 Prozent zugenommen. Unter den Straftatbestand fallen das Empfangen und Verschicken grausamer Bilder, welche die Würde eines Menschen verletzen. Es ist ein Delikt, das vor allem 20- bis 30-Jährige begehen. Doch auch Tausende Teenager sind aktenkundig. Allein gegen die jüngste Altersgruppe, die 10- bis 14-Jährigen, gingen im vergangenen Jahr fast 3000 Anzeigen ein. Ein typisches Social-Media-Delikt, weil es fast ausschliesslich online begangen wird.

Insgesamt positive Entwicklung

Die Kriminalstatistik zeigt insgesamt eine positive Entwicklung. Die Zahl der gemeldeten Straftaten erreicht erneut den tiefsten Wert seit der Revision der Statistik vor zehn Jahren. Zwei Drittel aller Anzeigen betreffen Vermögensdelikte. Die Zahl der angezeigten Diebstähle halbiert sich dabei gegenüber dem Rekordjahr 2012. Stabil bleibt hingegen die Zahl der gemeldeten Gewaltstraftaten. Rückläufig sind die Betäubungsmitteldelikte, weil weniger Leute kiffen. Man hat sich in der Schweiz daran gewöhnt, dass das Kriminalitätsniveau sinkt. Eine schlechte Nachricht ist deshalb bereits, wenn der Rückgang wie 2018 schwächer ausfällt als im Vorjahr. Ein Grund dafür sind die Social-Media-Delikte.

Stefan Blättler, Präsident der Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten, sagt: «Wir stellen fest, dass die Zahl der Delikte mit Bezug zum Internet exponentiell ansteigt.» In absoluten Zahlen sei das Niveau zwar noch nicht hoch, aber die Zuwachsraten seien enorm. Zudem geht er von einer hohen Dunkelziffer aus. Seine Prognose ist düster: «Die digitale Revolution, die Verlagerung des Wirtschaftslebens in die digitale Welt, hat erst angefangen. Wir müssen uns deshalb in den nächsten Jahren auf einen weiteren Anstieg der Cyberkriminalität einstellen.» Polizeikommandant Blättler hofft, dass es irgendwann wie beim Einbruchdiebstahl sein wird: «Wenn immer mehr Leute betroffen sind, beginnt ein Umdenken.» Die Leute schützen sich, sie sichern ihre Häuser. Das habe dazu beigetragen, dass die Diebstähle zurückgegangen sind.

«In ein paar Jahren werden wir diesen Effekt womöglich bei den Social-Media- Delikten beobachten können», sagt er. Die Folgen für die Betroffenen von Social-Media-Delikten können besonders schmerzhaft sein. Eine Erpressung mit einem Nacktbild im Internet kann weitreichendere Folgen haben als eine Schlägerei auf dem Pausenplatz. Weil sich die Bilder fast nicht mehr aus der Welt bringen lassen. Und manchmal braucht es nur einen Klick und ein Opfer wird zu einer Täterin.

Diese Erfahrung macht eine 14-Jährige aus dem Kanton Zürich. Sie wird von mehreren Gleichaltrigen umgarnt und um Nacktbilder gebeten. Sie fühlt sich geschmeichelt und erstellt pornografische Fotos und Videos von sich. Dann schickt sie diese in einem Chat an ihre Kollegen. Das Problem: Die Empfänger sind wie sie minderjährig. Wer unter 16-Jährigen Pornografie zur Verfügung stellt, macht sich strafbar, auch wenn die Absenderin im gleichen Alter ist. Die Anzeigen wegen Pornografie erreichen den höchsten Wert seit Beginn der Statistik. Teenager gehören überdurchschnittlich häufig zu den Tätern. Ein weiteres Delikt der Generation Smartphone sind Ehrverletzungen. Der Hass im Internet prägt die Zahlen. Innert zehn Jahren haben sich die Anzeigen verdoppelt. Die Tatorte sind vielfältig. Sie reichen vom Bundeshaus bis zum Schulhaus.

Lehrer reagieren

Beat Zemp, Präsident des Schweizer Lehrerverbands, sagt: «Das Cybermobbing hat klar zugenommen.» Auf Instagram, Snapchat oder in Klassenchats werden Schüler von ihren Klassenkameraden gemobbt und heruntergemacht. «Das ist kein Kavaliersdelikt», sagt er. Früher seien zwar ebenfalls dumme und beleidigende Sprüche an die Wandtafel geschrieben worden, die hätte man aber wegwischen und anschliessend mit der Klasse thematisieren können. Beleidigungen in der digitalen Welt liessen sich nicht so einfach entfernen – und sie gingen weit über das Schulgelände hinaus. «Wir versuchen, die Kinder deshalb früh zu sensibilisieren», sagt Zemp. Schon in der dritten Klasse wird über die Gefahren im Internet gesprochen. Zudem überarbeitet der Lehrerverband derzeit sein Grundlagenpapier zum Umgang mit den sozialen Medien und dem Datenschutz. «Wir müssen den Leitfaden massiv erweitern», sagt Zemp. Die Schulen müssten auf die vielen neuen Phänomene reagieren.

Noch wenig untersucht ist, ob die im Internet begangenen Straftaten auch die Delikte auf den Pausenplätzen und in den Partymeilen prägen. Als die Jugendgewalt in den Jahren von 2010 bis 2015 massiv zurückging, erklärte man sich dies mit dem Freizeitverhalten der Generation Smartphone. Die Jugend, die mehr Zeit vor Bildschirmen verbringt, hat weniger Gelegenheiten, sich zu prügeln. Doch nun zeichnet sich eine Trendwende ab. 2018 sind zum dritten Mal in Folge mehr Minderjährige wegen Körperverletzungen und Tätlichkeiten angezeigt worden. Kriminologen sprechen vom Spill-over-Effekt: Gewalt in der virtuellen Welt könnte zu mehr Gewalt in der realen Welt führen.

 

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