Den die Götter sandten

Vor einem Jahr wurde Emmanuel Macron ins Élysée gewählt. Energisch und eigenwillig verpasst der Präsident Frankreich einen massiven Reformschub. Jetzt stösst er aber auch an Grenzen.
Zur Person: Emmanuel Macron
Macron wurde 1977 in Amiens geboren. Er studierte Philosophie und besuchte später die Elite-Verwaltungshochschule Ecole Nationale d’Administration (ENA), die er 2004 abschloss. Danach arbeitete er als Finanzinspektor und Investmentbanker. Ab 2012 war er Berater des Präsidenten François Hollande und stellvertretender Generalsekretär des Präsidentenamtes.
2014 wurde er zum Minister für Wirtschaft, Industrie und Digitales ernannt. 2016 gründete er seine eigene Partei En Marche. Seit dem 7. Mai 2017 ist er Präsident.
Von Stefan Brändle
Als ginge ihnen alles ein wenig zu schnell, als könnten sie den unkonventionellen Jungspund bis heute nicht richtig einordnen: Emmanuel Macron verursacht seinen Landsleuten immer noch einen leichten Schwindel. Heute vor einem Jahr sahen sie einen frisch gekürten Präsidenten von gerade 39 Jahren, der zu Beethovens «Ode an die Freude» sehr feierlich durch den Louvre-Hof schritt und sich dann effektvoll vor die Museumspyramide stellte, um das Volk zu grüssen.
Dann kamen sie kaum mehr mit: Kaum im Élysée angelangt, schaltete der Mann aus dem Louvre den Turbo ein, lancierte binnen weniger Wochen mehr Reformen, als ein Jacques Chirac in zwölf Jahren im Élysée zustande gebracht hatte. Es ist unbestreitbar: Durch das jahrtausendalte Frankreich, seinen verknöcherten Zentralstaat, der von weihevollen Patriarchen wie Charles de Gaulle oder François Mitterrand dirigiert worden war, braust ein TGV.
Daran gewöhnten sich die Franzosen fast ebenso schnell. Auch dass der Jungpräsident im Élysée in aller Selbstverständlichkeit mit einer 65-jährigen Frau zusammenlebt. Oder dass er in seinen Reden antiquierte Worte wie «galimatias» (Gefasel), «carabistouille» (Albernheit) oder «perlimpinpin» (Wundermittel) verwendet. Sie staunten kaum mehr, als er Donald Trump mit eisernem Handshake bezwang; und sie wunderten sich nicht, als er im Élysée im privaten Kreis das Musikmärchen «Peter und der Wolf» von Prokofjew inszenierte, so wie es die Könige in Versailles mit Molières Komödien getan hatten.
Die Zeitschrift «Obs» verglich ihn darauf mit dem florentinischen Renaissance-Modell Lorenzo de’ Medici, genannt der Herrliche. Macron bevorzugt aus jener Epoche den Begriff der kopernikanischen Wende, um Frankreichs Umbruch zu beschreiben. Festgefügte Codes der Fünften Republik wirft er über den Haufen: Statt ehrfürchtiger Präsidialinterviews auf dem Staatssender France 2 lässt sich der Jungreformer auf echte Streitgespräche auf privaten Newsportalen ein. Das angestammte Büro der Presseagentur im Élysée lagerte er in eine Dependance aus: Der Präsident will in seinen vier Wänden Ruhe vor den Journalisten haben.
Auch dem seit einem Jahrhundert gültigen und sakrosankten Eisenbahnerstatut (mit 50 Urlaubstagen, Rente 52 und lebenslanger Jobgarantie) sagt Macron den Kampf an. Von Brüssel bis Berlin applaudiert man dem «europäischen Visionär» («Frankfurter Allgemeine Zeitung»). Die «Süddeutsche Zeitung» nennt ihn ohne sichtbare Ironie gar eine «Gottheit».
Die Franzosen sehen das nach einem Jahr etwas pragmatischer – vielleicht weil sie näher an dem Phänomen namens E. M. sind. Als er dem Vogesen-Städtchen Saint-Dié jüngst seine Aufwartung machte, skandierten aufgebrachte Bürger: «Präsident der Reichen!» So tönt es im Land, seit Macron die Teilabschaffung der Vermögenssteuer (ausser Immobilienbesitz) angekündigt hat. «Hier gibt es zahllose Alte, die arm sind, doch Sie nehmen ihnen noch Geld weg», schimpfte ein Bürger mit Verweis auf eine Steuerreform, die zuerst die Rentner trifft. Ein älterer Herr wurde kurz festgenommen, weil er den Staatschef mit einer obszönen Armbewegung gegrüsst hatte.
Linke wirft Macron Verrat vor
Macron argumentiert vergeblich, die Renten blieben in Frankreich höher als in Deutschland oder Grossbritannien. Die Linke wirft ihm Verrat vor, bezichtigt ihn der Rechtsabdrift. Die hängige Verschärfung des Asylrechts sorgt bis in seine Mittepartei La République en marche (LRM) für böses Blut. All die Sozialisten, die bei der Präsidentschaftswahl 2017 zu Macron übergelaufen waren, stürzen sich wieder auf die Halbzeitmemoiren des Vorgängers François Hollande. Der schreibt bitterböse über Macron: «Er spielt Präsident.»
Die Mehrheit der Franzosen hält laut Umfragen weiterhin zu Macron, würde ihn heute gar etwas deutlicher als vor einem Jahr wählen. Sie schätzen, dass der Präsident seine Wahlversprechen einhält. Macron selbst hat seit seiner Jugendzeit nur Präsidenten – Chirac, Sarkozy, Hollande – erlebt, die ihr Programm vergassen, wenn sie einmal im Élysée waren. Er weiss, dass seine Landsleute darauf allergisch sind. Deshalb hält er unbeirrt an seiner Bahnreform fest, so wie er im Herbst seine Arbeitsmarktreform durchgedrückt hat.
Macron geht allerdings oft nicht bis zum bitteren Ende. Beispiel Bahnreform: Sie schafft wohl das Statut der 140 000 Eisenbahner ab, nicht aber «die generelle Starrheit der Strukturen und Vorschriften», die laut dem französischen Rechnungshof hauptverantwortlich für die gigantische Überschuldung der Staatsbahn SNCF sind.
Oder Macrons Verfassungsreform: Sie reduziert zwar die Zahl der Abgeordneten von 577 auf 404 und verwirklicht damit ein populäres Wahlkampfversprechen. Intakt bleibt aber die demokratisch bedenkliche Allmacht des Staatschefs und der Exekutive, die der Justiz und dem Parlament Vorgaben machen und damit regelmässig die Gewaltenteilung verletzen.
Auch die Banlieue-Problematik greift Macron nicht frontal an, die Migrationsfrage nur indirekt. Die 35-Stunden-Woche lastet schwer auf der Wirtschaft, die Staatsschuld steigt weiter.
Er fühlt sich intellektuell überlegen
Sogar seine Wähler verhehlen nicht, dass sie sich dem fremdwortversessenen Eliteschulabsolventen nicht besonders nahe fühlen. Macron ist zu sehr Manager, zu wenig Landesvater. Er hat die Herzen der Franzosen nie richtig erobert – gewählt wurde er, weil er Frankreich vor der Extremistin Marine Le Pen bewahrte, und unterstützt wird er, weil er die alte Nation auf Trab bringt. Viele halten ihn für arrogant und dünkelhaft, seit er über «analphabetische» Arbeiterinnen und über «Faulpelze» lästerte oder erklärte, er kreuze im Bahnhof manchmal Leute, die «nichts sind». Sein Gefühl der intellektuellen Überlegenheit (so der konservative «Le Figaro») ist für ihn nicht ungefährlich: Die französischen Citoyens, die historisch bedingt zwischen Wahlmonarchie und Königsmord schwanken, machen daraus gern eine politische Unterlegenheit.
Etwas anerkennen sie ohne Umschweife: Frankreich spielt dank Macron wieder eine internationale Rolle. Seine Anbiederung an Donald Trump stört sie deshalb nicht über Gebühr. Gleichzeitig billigen sie ihm die Intelligenz und die Eleganz eines Barack Obama zu. Ihm schaute der Franzose die Wahlkampfmethoden ab. Und auch Macron ist ein Polittalent und Kommunikationsprofi mit einem jungen, kreativen Beraterstaff.
Da stellt sich doch die Frage: Hat der Ästhet Macron etwa mehr Talent als Tiefe, mehr Souplesse als Substanz? Parteipolitischen Überzeugungen fühlt er sich jedenfalls nicht verpflichtet. La République en marche und ihr gelegentliches Aufmucken erscheinen ihm so lästig wie der Hof dem König. Oder dem Göttervater Jupiter, wie er sich auch schon bezeichnete.
Denn Macron folgt Höherem. Er hat eine Mission. Es ist die gleiche wie Jeanne d’Arc – die Rettung Frankreichs, seine Auferstehung, sein «rayonnement « (Ausstrahlung). Diese Mission ist für Macron wichtiger als die Frage nach der Parteizugehörigkeit oder der politischen Substanz.
Macron ist für alle da
Seine Berufung ist nicht angelernt, sie ist ihm gegeben. Deshalb hinkt der Vorwurf, der ehemalige Schüler der Verwaltungsschule ENA sei ein Technokrat. Macron glaubt felsenfest an seine Sendung für Frankreich, das heisst für die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit. Der Präsident will das Land liberalisieren und gleiche Spiesse für alle schaffen, damit alle im Einklang miteinander leben. Deshalb kappt er die ungehörigen Privilegien der Eisenbahner, deshalb tritt er für eine wirkliche Chancengleichheit der Frauen im Berufsleben oder der nordafrikanischen Immigrantenjugend bei der Job- und Wohnungssuche ein, deshalb ist er weder rechts noch links, sondern für alle da.
Wird er reüssieren? Zumindest Macron zweifelt nicht an sich. «Wo der Wille gross ist, können die Schwierigkeiten nicht gross sein», sagt er frei nach Niccolò Machiavelli, über den er in seinem Philosophiestudium eine Diplomarbeit verfasste. Doch trotz Machiavelli, trotz Lorenzo de’ Medici: Frankreichs Renaissance ist nach einem Jahr Macron noch keineswegs vollendet.