Horror am Hochzeitstag

In der Türkei fordert ein Anschlag auf eine kurdische Hochzeitsgesellschaft über 50 Tote. Der türkische Präsident Erdogan vermutet ein Kind als Attentäter.
VON JÜRGEN GOTTSCHLICH
Es hatte der Tag ihres Lebens werden sollen. Eine kurdische Hochzeit mitten im kurdischen Viertel von Gaziantep. Hunderte Besucher waren da. Der Höhepunkt der Hochzeit, der traditionelle Umzug der Braut von der Wohnung ihrer Eltern zur Wohnung des Bräutigams, war gerade im Gange. Nicht nur Braut und Bräutigam, alle Besucher der Hochzeit befanden sich auf der Strasse, als gegen 23 Uhr die Detonation einer Bombe das Fest in blanken Horror verwandelte.
Mitten in der Menge ging die Bombe hoch, vermutlich ein Selbstmordattentat, es gibt aber auch Zeugen, die zwei Männer gesehen haben wollen, die einen Kinderwagen abstellten und sich dann entfernten. Der Gouverneur von Gaziantep sagte, es seien Überreste einer Selbstmordweste gefunden worden.
HDP-Anhänger gezielt getroffen
In den Gassen des Viertels entwickelte die Explosion eine besondere Wucht. Reporter zeigten gestern die Schrapnell-Einschläge, die Löcher in Hauswänden und selbst in eisernen Haustüren hinterlassen hatten. Zeugen berichteten von blutigen Leichenteilen auf den Strassen, dazwischen mindestens einhundert zum Teil schwer verletzte Menschen. Bis gestern Abend zählten die Sicherheitskräfte 51 Tote. Nach einem Bericht der Zeitung «Hürriyet» wurde auch das Brautpaar verletzt, überlebte aber.
Beide Familien stammen ursprünglich aus der Kleinstadt Siirt, mit einer gemischt kurdischen und arabischen Bevölkerung. Deshalb gab es zunächst Spekulationen über den ethnischen Hintergrund des Brautpaares und der Hochzeitsgäste. Die kurdisch-linke HDP teilte dann aber noch in der Nacht mit, dass die Familie des Bräutigams aktiv in der Partei mitarbeitet und es sich um eine kurdische Hochzeit gehandelt habe. Das legt den Schluss nahe, dass mit dem Attentat gezielt HDP-Anhänger getroffen werden sollten.
Das Attentat reiht sich damit ein in die Serie von Anschlägen im vergangenen Jahr, als erst in Diyarbakir im Mai, dann in Suruc im Juli und zuletzt im Oktober während einer grossen Friedensdemo der HDP jeweils HDP-Anhänger zum Ziel von Selbstmordanschlägen wurden. Für alle diese Anschläge machten die Sicherheitskräfte türkische Anhänger des IS verantwortlich.
Attentat als Rache
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagt, wahrscheinlich sei der IS auch in Gaziantep für den Anschlag verantwortlich. Der Attentäter ist nach Angaben des türkischen Präsidenten ein 12- bis 14-jähriges Kind. Es habe sich um ein Selbstmordattentat gehandelt, sagt Erdogan nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu von gestern.
Wie schon bei anderen Gelegenheiten nannte Erdogan den IS, die PKK und die Gülen-Terroristen allesamt als eine Front, die die Türkei zerstören wollten. Der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, brachte noch eine weitere Vermutung in Umlauf. Man sollte prüfen, sagt Demirtas, ob dieser Anschlag nicht eine Verlängerung des Putsches vom 15. Juli sei, also Drahtzieher des Anschlages auch Anhänger der Gülen-Bewegung sind. Ausführende des Attentats könnten danach schon türkische IS-Anhänger sein, aber für die Sicherheitslücken beim Geheimdienst und bei der Polizei, durch die die ganzen Anschläge auf HDP-Anhänger möglich wurden, könnten doch Gülen-Anhänger in den Institutionen verantwortlich gewesen sein.
Es gibt aber auch Anhaltspunkte dafür, dass der IS, ganz ohne Beeinflussung durch die Gülen-Bewegung, als Urheber des Anschlags verantwortlich ist. Aus Sicht des IS kämpfen die Kurden in Syrien und die Kurden aus der Türkei zusammen.
Erst vor wenigen Tagen hat der IS gegen Kämpfer der syrischen Kurden in Manbidsch, einer Stadt in Syrien auf halber Strecke zwischen der IS-Hochburg Rakka und der türkischen Grenze, eine schwere Niederlage erlitten. Es liegt nahe, das Attentat als Rache für Manbidsch zu sehen.
Auch der Ort, Gaziantep, legt den Verdacht auf eine IS-Täterschaft nahe. Nirgendwo sonst in der Türkei gibt es so viele Kämpfer aus dem syrischen Bürgerkrieg wie dort. Die Stadt ist ein Rückzugsort für Kämpfer, die gegen Assad aktiv sind. Dazu gehören nicht nur Angehörige der Freien Syrischen Armee, sondern auch Islamisten. Es ist kein Geheimnis, dass auch der IS in Gaziantep aktiv ist. Geflüchtete, IS-kritische syrische Journalisten sind in Gaziantep 2015 vom IS ermordet worden, der Krieg hat in dieser Region die Grenze überschritten.
Syrien-Politik Türkei will sich laut Yildirim aktiv in Syrien einmischen
VON JÜRGEN GOTTSCHLICH
«Wir stellen fest, dass jetzt auch das Assad-Regime bemerkt hat, wie gefährlich die Kurden in Syrien sind.» Diese Bemerkung des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim vor internationalen Journalisten am Samstag in Istanbul könnte den Beginn einer neuen Syrien-Politik der Türkei markieren. «Unser Ziel ist es», sagte Yildirim, «dazu beizutragen, dass Syrien nicht in ethnisch oder religiös definierte Gebiete zerfällt. Dafür sind wir auch bereit, Baschar al Assad für eine Übergangszeit zu akzeptieren», meinte Yildirim.
Kämpfe eskalieren
Bislang hatte die Türkei es strikt abgelehnt, mit dem syrischen Staatspräsidenten zu reden. Schliesslich gehört Präsident Recep Tayyip Erdogan zu den wichtigsten Unterstützern der Assad-Gegner und ist auch nicht davor zurückgeschreckt, islamistisch-dschihadistische Gruppen zu finanzieren. Doch diese Position geriet schon länger ins Wanken und ist durch einige Ereignisse der letzten Wochen weiter infrage gestellt worden. Dazu gehören die jüngsten Kämpfe zwischen den syrischen Kurden und dem Assad-Regime um die Stadt Hasaka letzte Woche. Assad liess kurdische Gebiete in Hasaka bombardieren. Das rief die USA auf den Plan. Als Verbündete der syrisch-kurdischen YPG-Miliz, für die USA so etwas wie ihre Bodentruppen im Kampf gegen den IS, warnten sie das Assad-Regime, weiter gegen die Kurden vorzugehen. Als die Assad-Bomber erneut auftauchten, drängten US-Kampfflugzeuge die Bomber ab. Gestern Abend einigten sich Assads Truppen und die Kurden auf eine Waffenruhe in Hasaka.
Die Türkei wirft den USA seit Längerem vor, ihre Zusammenarbeit mit der YPG sei gleichbedeutend mit einer Unterstützung der türkisch-kurdischen PKK, weil die YPG ein Ableger der PKK sei. Dieser Konflikt ist eskaliert, als die USA auch Operationen der YPG westlich des Euphrats unterstützten, für die Türkei eine rote Linie, die die Kurden nicht überschreiten dürfen, weil sie dann leicht die ganze türkisch-syrische Grenze kontrollieren könnten.
Keine Rücksicht seitens der USA
Da die USA nicht gewillt sind, auf diese Bedenken Rücksicht zu nehmen, und Assad-Truppen die Kurden angreifen, erscheint das Assad-Regime in Ankara nun offenbar nicht mehr so schlimm wie früher. Hinter dem Meinungsumschwung stehen aber auch Verhandlungen mit Russland und Iran. Seit Erdogan vor zwei Wochen seinen Kollegen Wladimir Putin besuchte und Aussenminister Mevlüt Cavusoglu überraschend in Teheran auftauchte, wird an der neuen Syrien-Politik der Türkei gearbeitet. «Wir werden uns aktiver um eine Lösung in Syrien kümmern», versprach Yildirim. Was genau er damit meint, wird er als Erstes US-Vizepräsident Jo Biden erklären, der am Mittwoch in Ankara erwartet wird.