Leben in der anderen «Grossfamilie»

Mahara Rösli | 
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Die Anfragen nach einem Platz im «Rhyhuus» Flurlingen unter der Leitung von Christine Waldvogel Hubmann sind während der Coronapandemie deutlich angestiegen. Bild: ajo

Das «Rhyhuus» in Flurlingen betreut seit über 50 Jahren Kinder und Jugendliche aus belasteten Familienverhältnissen. Trotz ­widrigen Umständen hat das Heim die Coronakrise gut weggesteckt.

Am Zürcher Rheinufer, mitten im Dorfkern von Flurlingen, umzäunt von einem grossen Garten, fällt das ehemalige Posthalterhaus im Dorfbild nicht gross auf. Doch das Gebäude hat es in sich: «Wir bieten Kindern und Jugendlichen, die aus belasteten Familienverhältnissen kommen, ein Zuhause», sagt Christine Waldvogel Hubmann. Im vergangenen Jahr feierte sie ihr 20-Jahr-Jubiläum als Heimleiterin. Zusammen mit rund 15 Mitarbeitenden betreut sie derzeit sieben Kinder von morgens früh bis abends spät: «Wir gehen miteinander durch schöne, aber auch durch schwierige Zeiten», sagt sie. Das Kinder- und Jugendheim ist seit der Gründungszeit 1956 im Rahmen der Pflegekinder-Aktion Zürich laufend gewachsen. Finanziert wird die ­sozialpädagogische Institution durch Platzierungen der Bewohner, Beiträge des Kantons sowie den Mitgliederbeiträgen des Vereins Rhyhuus Flurlingen. Waldvogel fügt an: «Unser Zusammenleben gestaltet sich ähnlich wie das einer Grossfamilie.»

Miteinbezug der Eltern

Ziel ist es, die Bewohnenden in den Alltag einzugliedern: Die Kinder besuchen öffentliche Schulen, wohnen in eigenen Zimmern, essen und erledigen Hausaufgaben im «Rhyhuus». Das Heim selbst bietet eine längerfristige, feste Unterkunft für acht Kinder, die Aussenwohnheime (AWG) im Dorfkern mit sechs Plätzen stehen hauptsächlich Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 16 und 25 Jahren zur Verfügung. Die Heimleiterin sagt: «Die AWG funktionieren wie eine Wohngemeinschaft, aber mit zusätzlicher Betreuung.» Den Bewohnenden wird unter anderem bei der Ferien- und Budgetplanung oder beim Kontakt zum Lehrbetrieb unter die Arme gegriffen. Bei der Entscheidungsfindung versucht das «Rhyhuus», die Eltern so gut wie möglich mit einzubeziehen.

Jedes Kind ist anders

Was früher ein Wohnheim für Mutter und Kind war, ist heute eine durch den Kanton anerkannte sozialpädagogische Institution. «Wir möchten die Kinder dort abholen, wo sie gerade stehen», sagt Waldvogel. Im Vergleich zu früher hat sich vieles verändert: «In den 1970er-Jahren wurden die Kinder unabhängig von ihren Bedürfnissen betreut. Man setzte eher auf Gruppenpädagogik, eine systemische Ausrichtung der Pädagogik mit individuellen Angeboten wurde gar nicht erst berücksichtigt», sagt die 62-Jährige. Gerade bei einem Aufenthalt von mehreren Jahren sei eine grosse Flexibilität wichtig: «Dieses Jahr feiern zwei unserer Kinder ihr 10-Jähriges im Haus.»

Mit Beginn der Coronapandemie vor zwei Jahren wurde der Tagesablauf auch im «Rhyhuus» auf den Kopf gestellt. Waldvogel erzählt: «Dadurch, dass die Mehrheit unserer Mitarbeitenden eine pädagogische Ausbildung haben, konnten wir glücklicherweise Homeschooling durchführen.» Während des Lockdowns hätten die Betreuungspersonen mit den Kindern so viel gebacken wie noch nie, erinnert sie sich zurück. «Diese Zeit hat uns noch enger zusammengeschweisst.»

Dennoch war der Lockdown auch mit Schwierigkeiten verbunden: «Es gab öfters Konflikte, weil die Kinder so viel Zeit miteinander im Innern verbringen mussten»; als Ausgleich war Austoben im Garten möglich. Im Gegensatz zu anderen Heimen war es den «Rhyhuus»-Bewohnenden im Lockdown erlaubt, ihre Eltern zu treffen. «Diese Freiheit wollten wir den Kindern nicht nehmen», sagt Waldvogel.

Laut einer Studie von Pro Juventute stieg der Bedarf an Beratungen rund um psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen zwischen März 2020 und März 2021 um 40 Prozent. Das merkt man auch im «Rhyhuus»: Die Heimleiterin sagt, man habe viele Kinder an andere Heime weiterverweisen müssen. «Uns ist bewusst, dass Corona das Zusammenleben in Familien erschwert. Da geht man sich schon einmal schneller auf den Wecker.» Um genaue Rückschlüsse auf die erhöhte Nachfrage ziehen zu können, seien aber weiterführende Studien notwendig, fügt Waldvogel an.

Der Verein

50 Mitglieder zählt der Verein Rhyhuus ­Flurlingen aktuell. 20 davon kamen über eine kürzliche Werbeaktion hinzu. Die Beiträge aus den Solidar-, Einzel- und Gönner-Mitgliedschaften ­ermöglichen den ­Kindern und Jugendlichen, ihren Hobbys nachzugehen. Darunter die Teilnahme am Musik- oder Sportunterricht oder die Möglichkeit, mit in das alljährliche Skilager zu fahren.

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