Diese «Wäscheseile» veränderten New York

Isabel Heusser | 
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Seine Hängebrücken in New York gelten als Meisterleistung der Ingenieurskunst. Trotzdem ist der Feuerthaler Brückenbauer Othmar H. Ammann fast in Vergessenheit geraten.

Ein unauffälliger, gar spröder Mensch mag er gewesen sein. Auf Fotos blickt er meist ernst in die Kamera, nur selten gelingt ihm ein scheues Lächeln. Wenn er in Gruppen posiert, steht er in der zweiten Reihe. Zugang zu ihm habe man kaum gefunden, erzählt einer seiner führenden Mitarbeiter später: «Wir gingen mittags ab und zu zusammen essen, abends aber nie.» Der Mann, der wenig von sich preisgab und ein unspektakuläres Privatleben führte, hat als Ingenieur einige der bedeutendsten Bauwerke seiner Zeit geschaffen: Othmar H. Ammann (1879–1965), aufgewachsen in Feuerthalen, baute einige der Brücken, welche die Insel Manhattan mit dem Festland verbinden. Ihm hat der Schweizer Regisseur Martin Witz den Dokumentarfilm «Gateways to New York» gewidmet, der heute im Kino Kiwi als Vorpremiere gezeigt wird.

Ein unscheinbarer Mann, der Brücken baut – das ist auf den ersten Blick nicht gerade der Stoff, aus dem ein packender Dokumentarfilm entsteht. Im Jahr 2015 recherchierte Witz für den deutsch-französischen Kultursender Arte «Unsung Heroes» – Menschen, die Grosses geleistet hatten und trotzdem in Vergessenheit geraten waren. Othmar H. Ammann war so einer. Witz war fasziniert von diesem Mann, der als unbekannter Ingenieur in die USA auswanderte und in New York Bauwerke realisierte, welche entscheidend zur Entwicklung der Stadt beitrugen. «Es sind die Umstände, die Ammanns Schaffen besonders machen», sagt Witz. Ammann hatte den Wandel New Yorks miterlebt: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verkehrten auf den Strassen noch mehrheitlich Pferdekutschen. Als Ammann rund 60 Jahre später starb, war das Auto der Motor des Wohlstands.

Hängebrücke mit Rekordlänge

Es waren keine einfachen Bedingungen, unter denen Ammann ein neues Leben anfangen wollte. Als er im Jahr 1904 nach New York City kam, war kein Ingenieurbüro bereit, einem Europäer eine Stelle zu geben, Ammanns Bewerbungen blieben erfolglos. Also tauchte er eines Tages in einem Büro auf, stellte sich vor und fragte nach Arbeit. Und bekam sie. Bald durfte er sich an immer grösseren Projekten beteiligen. 1923 machte er sich selbstständig, zwei Jahre später bereits wurde er Chefingenieur der Port Authority von New York und New Jersey, die noch heute als Hafenbehörde für den Bau und Unterhalt der Brücken und Tunnels in der Region zuständig ist.

Acht Brücken realisierte Ammann in seiner Karriere; den Bau der Golden-Gate-Brücke in San Francisco begleitete er als Berater. Zwei Brücken fanden besondere Beachtung. Zum einen die George-Washington-Bridge, erstellt 1931, die Manhattan mit New Jersey verbindet. Ihre Konstruktion war revolutionär. Bei Fertigstellung war sie doppelt so gross wie die längste ausgeführten Brücke weltweit. Eigentlich hätten die beiden Türme verkleidet werden sollen; nach dem Börsencrash von 1929 fehlte aber das Geld dazu. Architekten waren begeistert vom Design, Le Corbusier nannte sie «die schönste Brücke der Welt». So entschied man sich, auf die Verkleidung zu verzichten.

Zum anderen plante er die zweistöckige Verrazzano-Narrows-Brücke, welche die Stadtbezirke Staten Island und Brooklyn verbindet und 1964 eröffnet wurde. Sie brach den Hängebrücken-Längerekord und schloss die letzte grosse Lücke im Strassennetz New Yorks.

Ein «Gute Nacht» an die Brücken

Für seine Recherche begab sich der Regisseur ins Archiv der ETH, wo Ammann gleichzeitig mit Albert Einstein der Ehrendoktor-Hut verliehen wurde. Zwar gebe es nicht viele Fotos und Filmaufnahmen von Ammann, sagt Witz. «Die Produzenten ­verwarfen die Hände.» Dafür entdeckte er unzählige Briefe, Notizbücher, Tagebücher und Aufsätze. «Ein dramaturgischer Glücksfall», sagt Witz. «So konnte ich den Film immer wieder aus Ammanns Ich-­Perspektive erzählen.» Die Erzählstimme kommt vom Schweizer Schauspieler Hanspeter Müller-Drossaart, mit dem Witz schon in früheren Projekten zusammengearbeitet hat.

Allein mit Bildern von ästhetischen Brücken würde ein Dokumentarfilm über Ammann nicht zu füllen sein, das wusste Witz. Das Stadtleben New Yorks in früheren Jahrzehnten bot eine dankbare Abwechslung. Witz verwendete auch Interviewaufnahmen mit Ammanns 2010 verstorbener Tochter Margot Ammann Durrer, die dem Zuschauer einen (zugegebenermassen kleinen) Einblick in das Seelenleben des grossen Ingenieurs gibt. Etwa dann, wenn sie von seinem Ritual erzählt, das er in seiner Wohnung an der Upper East Side pflegte, in der er zusammen mit seiner zweiten Frau lebte. Von dort hatte er einen Blick nach Norden, Osten und Westen. «Abends, bevor er zu Bett ging, sagte er immer: ‹Ich muss noch meinen Mädchen gute Nacht sagen›», erzählt sie. Gemeint waren seine Brücken.

Zu Wort kommen lässt Witz aber auch zwei Mohawks, amerikanische Indigene, die als «Skywalker» an Ammanns letzter Brücke mitbauten. Noch heute erfüllt es sie mit Stolz, an diesem grossen Projekt beteiligt gewesen zu sein – obwohl die Bedingungen teilweise prekär waren und immer wieder Arbeiter ungesichert in den Tod stürzten. «Es war beeindruckend, mit welcher Eloquenz sie erzählten», sagt Witz.

Der Bau der Verrazzano-Narrows-Brücke wurde zwar sehnlichst erwartet, um einen drohenden Verkehrskollaps abzuwenden. Doch es gab auch kritische Stimmen, eine davon kommt im Film zu Wort. Während seiner Recherche stiess Martin Witz auf einen Mann, der sich gegen das Bauprojekt wehrte: Anwalt Andrew L. Sichenzie. Durch die Zufahrt zur Brücke wurde das Viertel Bay Ridge in Brooklyn, wo Sichenzie sein Anwaltsbüro noch heute hat, zweigeteilt. Als Witz ihn kontaktierte und fragte, ob er ihn besuchen dürfe, sagte ­Sichenzie zu. «Ich machte einen Luftsprung», sagt Witz. Sein Film erhielt eine dramaturgische Wende.

Insgesamt vier Mal reiste Witz für seinen Dokumentarfilm nach New York. Die Aufnahmen, in denen er mit Arbeitern im Innern der Verrazzano-Narrows-Brücke in die Höhe fährt, gehören zu den Eindrücklichsten. Es sind auch diejenigen, für die Witz am meisten kämpfen musste.» Es war sehr schwierig, auf die Brücken zu kommen», sagt er. Nicht nur aus bürokratischen Gründen. «Die Sicherheitsvorkehrungen sind enorm, weil die Behörden getrieben sind vom Angst vor Terrorismus.» Das bekam Witz besonders zu spüren, als er mit der Port Authority verhandelte, um im Innern der Brücke filmen zu dürfen. Die Port Authority ist nicht zur zuständig für die New Yorker Brücken, sondern war es auch für die Twin Towers, die beim Terroranschlag vom 11. September 2001 einstürzten. «9/11 hat die Behörde traumatisiert.»

Lob vom grössten Kritiker

Er persönlich habe immer auf grösstmögliche Einfachheit geachtet, wird Ammann im Film zitiert: «Eine Hängebrücke ist ja nichts anderes als ein Wäscheseil, das man über zwei Pfosten legt, links und rechts befestigt und dann die Wäsche, in diesem Fall die Fahrbahn, darunterhängt.»

Ammanns Bauten haben nicht nur ­Fachleute begeistert. Als die Verrazzano-Narrows-Brücke fertig gebaut war, beeindruckte sie sogar ihren wohl grössten ­Kritiker: Anwalt Andrew L. Sichenzie. «Für mich ist es die schönste Brücke», wird er gegen Ende des Filmes sagen. «Die Golden Gate ist nicht annähernd so schön.»

 

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