«Mein Papi hat immer vom Tod geredet»

Darina Schweizer  | 
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Ernst Siebers Tod hinterlässt auf dem Spiesshof Ramsen, den seine Tochter Ilona Sieber führt, grosse Trauer. Viele Bewohner vermissen den berühmten Obdachlosenpfarrer.

«Er war für uns wie ein Fels in der Brandung», sagt Ilona Sieber. Der Tod ihres Vaters, des Pfarrers Ernst Sieber, hat die 52-Jährige schwer getroffen. Und doch: Vier Tage nachdem der Mann, der sich über 60 Jahre für die Schwächsten einsetzte, friedlich im Kreis seiner Familie eingeschlafen ist, zeigt sie eine unglaubliche Stärke, scheint die grosse Lücke, die er zurücklässt, anzunehmen, mit ihr zu leben. «Mein Papi hat immer vom Tod geredet. Er sagte mir und meinen Geschwistern jeweils: ‹Wenn man bewusst lebt, muss man den Tod in den Alltag einbeziehen›», so Ilona Sieber. Also hat sie das gemacht – wie sie es schon immer tat.

«Er hat immer gesagt: ‹Wenn man bewusst lebt, muss man den Tod ins Leben einbeziehen.›»

Ilona Sieber, Leiterin Spiesshof

Bereits als kleines Mädchen begleitete Ilona Sieber ihren Vater an Abdankungen, liess sich erklären, wie eine Kremation abläuft, und schaute mit grossen Augen zu, wie Särge auf einer Schiene ins Feuer geschoben und verbrannt wurden. «Mein Interesse am Tod und an den Menschen war immer da», sagt Ilona Sieber. So kannte sie auch nie Berührungsängste, als Ernst Sieber sie mit drogensüchtigen oder psychisch kranken Menschen in Kontakt brachte. Im Gegenteil: Sie wollte ihre Lebensgeschichten, ihre Schicksale und Probleme unbedingt kennenlernen. Und ihnen helfen. Auch das hat sie von ihrem Vater gelernt: Den Glauben nicht nur predigen, sondern ihn auch leben.

«Ohne ihn wäre ich heute nicht hier»

Seit 14 Jahren setzt sie dies in der Dorfgemeinschaft Spiesshof in Ramsen um. Hier leben zehn Männer und drei Frauen, die in der Gesellschaft keinen Platz mehr finden, sei es aus psychischen, sozialen oder körperlichen Gründen. Hier, mitten im Grünen, haben sie ein Plätzchen gefunden, wo man sie akzeptiert und für sie da ist. Und wo jeder eine Aufgabe hat. Die Tiere müssen versorgt, die Pflanzen gegossen, es muss gekocht und geputzt werden. «Wie in einer Familie», sagt Ilona Sieber, die sich erst zur Krankenschwester ausbilden liess und sich dann in der Sozialpsychiatrie weiterbildete. Sie kümmert sich als einzige Angestellte um die 13 Bewohner. Zwar ist sie hier 24 Stunden auf Pikett, doch da sie nicht immer vor Ort ist, dürfen keine pflegebedürftigen Menschen aufgenommen werden. «Alle anderen sind willkommen», sagt sie. Eine davon ist eine 72-jährige Frau, die vor zehn Jahren hierherkam. Sie will ihren Namen nicht nennen. Der Tod von Ernst Sieber belastet sie zurzeit sehr, denn sie kennt ihn schon fast ihr ganzes Leben.

«Als ich zwölf war, hat mich meine Mutter an eine seiner Reden ins Kirchgemeindehaus Affoltern mitgenommen. Sie war ein grosser Fan von ihm. Dort habe ich ihn das erste Mal gesehen», sagt sie. Danach spielte der Zürcher Pfarrer lange keine Rolle mehr in ihrem Leben. Bis im Jahr 2004. «Mir ging es nicht gut. Deshalb habe ich ihm einen Brief geschrieben», sagt sie. Kurze Zeit später kam der schweizweit bekannte Pfarrer persönlich bei ihr vorbei und hat ihr vom Spiesshof erzählt. 2006 zog sie dann nach Ramsen. «Ohne ihn wäre ich heute nicht hier», sagt sie. Und erinnert sich an seinen letzten Besuch vor einem Jahr zurück.

«Es war sehr schönes Wetter. Wir haben alle draussen an unserem Tisch gesessen und die Apfelwähe und Suppe gegessen, die ich zubereitet habe», schwelgt die 72-Jährige in Erinnerungen. «Ernst Sieber hat immer gefragt: ‹Hät’s da Bölle drin? Dänn issis nöd›», lacht sie. Auch Schokolade musste immer da sein, von dieser naschte er besonders gerne. «Es war lustig zu beobachten, wie er von den Pralinen jeweils immer einen Bissen genommen und sie dann wieder zurückgelegt hat. Das war mein Papi», lacht Ilona Sieber. «Er hatte einen wahnsinnigen Humor.» Und das stellte Ernst Sieber bei seinen Besuchen im Spiesshof immer wieder unter Beweis.

Humorvoll und bescheiden

An einem jener Tage wurde – wie üblich, wenn Ernst Sieber vorbeikam – ein Abendmahl gehalten. Als die 72-Jährige den Trinkbecher an Ilona Sieber weitergab, rutschte ihr ein «Prost!» über die Lippen. Die beiden mussten über diese merkwürdige Situation dermassen lachen, dass sich die Bewohnerin verschluckte und fast keine Luft mehr bekam. «Ilona drückte mich von hinten, damit ich wieder atmen konnte. Währenddessen beobachteten alle Bewohner das Schauspiel, und Ernst Sieber rief zwischen ihnen hindurch: ‹Lütet em Dokter ah!›», so die 72-Jährige. «Im Nachhinein meinte er, das sei das lustigste Abendmahl gewesen, das er je erlebt hatte.» Auch dieses Beispiel zeigt, wie Ernst Sieber war: Er wollte die Menschen nie verkirchlichen, sondern die Kirche vermenschlichen. «Ein Abendmahl war für ihn nicht eine tod­ernste Angelegenheit. Er war unkompliziert. Und bescheiden», so Ilona Sieber. «So leben wir auch hier auf dem Spiesshof.»

«Er hat mich immer machen lassen»

Die rund 2000 Franken, die jeder Bewohner monatlich zahlt, sowie die 1100 Franken, die der Kanton Schaffhausen pro Monat für IV- und AHV-Empfänger beisteuert, reichen gerade für das Leben auf dem Spiesshof aus. «Wir leben selbsttragend und kostendeckend. Natürlich freuen wir uns über Spenden, aber Spendenaufrufe machen wir keine. Ich bin nicht die, die um Geld bittet. Viel wichtiger ist mir Autonomie und aus dem, was wir haben, das Beste zu machen», sagt Ilona Sieber. Freiheit hat für sie den grössten Wert im Leben. Im Spiesshof, der den Sozialwerken Sieber gehört, konnte sie, der «Freigeist», sich voll ausleben. «Mein Vater hat mir sein ganzes Vertrauen geschenkt und mir hier in Ramsen nie reingeredet. Er hat mir nur eine Basis geschaffen und mich dann machen lassen», so die 52-Jährige. Für die Stelle bewerben musste sich Ilona Sieber zuerst aber wie jede andere Angestellte auch. «Ich bekam sie nicht einfach, weil ich ‹das Töchterli› war», betont sie. Nach und nach baute sie sich ein Netzwerk aus Kliniken, Ärzten, aber auch der Polizei in der Umgebung auf, deren Hilfe sie bereits mehrmals in Anspruch nehmen musste.

Sich etwas Neues aufbauen und aus dem Nichts etwas entstehen lassen, diese Fähigkeit hat Ernst Sieber an seine Tochter weitergegeben. «Er hat mir gezeigt, dass es immer einen Weg gibt und man aus schwierigen Situationen etwas Positives machen kann», so die 52-Jährige. «Das grösste Erbe, das er mir aber hinterlassen hat, ist die grenzenlose Liebe zu den Menschen», sagt Ilona Sieber. Diese gibt sie nun an die Bewohner des Spiesshofs weiter. Hier, in der kleinen Gemeinschaft mitten im Grünen, wo sie sich ihrem Vater am nächsten fühlt. «Ernst Sieber ist nicht weg, er ist immer da. Durch seine Tochter Ilona», sagt ein ­lächelnder Bewohner.

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