Sie ist Schaffhausens «Miss Marroni»





Seit 50 Jahren verkauft Odellia Fischer an ihrem Stand am Fronwagplatz «Heissi Marroni». Sie hat Generationen aufwachsen sehen, Kinderaugen leuchten, wenn sie den Duft über den Platz erschnuppern. Dass die Kenianerin überhaupt nach Schaffhausen kam, war reiner Zufall. Und sie blieb – und trotzt noch heute, mit 70 Jahren, Kälte, Schnee und Regen.
Die Tage werden kürzer, Blätter färben sich, ein süsslich-nussiger Räucherduft zieht über den Fronwagplatz. Mit den kühleren Tagen kommt auch wieder Odellia Fischer mit ihren «Heissi Marroni» ins Schaffhauser Stadtzentrum. Den ganzen Winter über wird die mittlerweile 70-jährige Frau gemeinsam mit ihrer Tochter an sieben Wochentagen ihre Marroni verkaufen.
Schon in den ersten Tagen ab Eröffnung bilden sich jeweils längere Schlangen vor dem grünen Marktstand. Kinder warten ungeduldig auf die warmen, in Papier eingeschlagenen Kastanien. Man kennt sich, man grüsst sich und kommt ins Gespräch: «Hier gibt es die besten Marroni von Schaffhausen», erklärt eine wartende Stammkundin einer Touristin, «nein, eigentlich sind es bestimmt die besten der Schweiz», sagt sie lachend. Die Touristin nickt zufrieden. Odellia Fischer, die leise und zurückhaltende Frau aus Kenia, lächelt sanft. Das sind die kleinen Momente, die sie liebt.

Vor genau 50 Jahren fing alles an. Im Jahr 1974, als Präsident Nixon wegen der Watergate-Affäre zurücktrat, Ernst Brugger Bundespräsident wurde, Deutschland den WM-Titel holte und die ersten VW Golf vom Band liefen, da startete die damals 20-jährige junge Frau mit einem kleinen Stand auf dem Fronwagplatz. Sie trug Schlaghosen und hatte einen Afro.
Kurz gesagt: Sie fiel auf. «Manche kamen damals nur bei uns vorbei, um zum ersten Mal in ihrem Leben eine schwarze Frau zu sehen», erinnert sich Odellias Tochter Patricia Fischer. Die Tochter war damals noch im Kinderwagen. Die Marroni und der Verkaufsstand ihrer Mutter sind Teil ihrer Kindheit. Sie half ihrer Mutter beim Aufschneiden der Kastanienrinden und stand an ihrer Seite, wenn sie verkaufte – bis heute.

Dass es Odellia Fischer aus der kenianischen Stadt Mombasa überhaupt nach Schaffhausen verschlagen hat, ist eigentlich Zufall. Ein glücklicher Zufall, verbunden mit einer Liebesgeschichte, die vor mehr als 50 Jahren begann. Der Schaffhauser Robert Fischer war in Kenia im Urlaub, in seinem Hotel gab es eine kleine Boutique, die er betrat, ein Frauenkleid aussuchte und beim Bezahlen gefragt wurde, ob er dieses Kleid seiner Frau schenken wolle. Er verneinte und sagte, er wolle es der jungen Verkäuferin schenken und sie gerne noch am selben Abend zum Essen einladen. Die junge Dame hinter dem Tresen wurde später seine Frau, Odellia Fischer.
Es war Liebe auf den ersten Blick
«Es war Liebe auf den ersten Blick», erzählt die Tochter, Patricia Fischer, rückblickend. Sie erinnert sich, wie oft die Eltern ihr die Geschichte ihres Kennenlernens erzählt haben. Als Odellia Fischer dann nach dem ersten Treffen im darauffolgenden Jahr eine Einladung nach Schaffhausen und in die Schweiz annahm, stellte sich beim Wiedersehen per Zufall heraus, dass sie schwanger war. «Meine Mutter ist gestürzt bei einer gemeinsamen Fahrradtour, und um sicherzugehen, dass sie sich nichts gebrochen hatte, ging sie ins Spital», erzählt Patricia Fischer. Der Arzt habe ihrem Vater dann erklärt, dass es den beiden gut ging – so erst kam die Schwangerschaft heraus. Odellia Fischer blieb, ihre Tochter kam zur Welt, und Schaffhausen wurde ihr Zuhause.
«Manche kamen damals nur bei uns vorbei, um zum ersten Mal in ihrem Leben eine schwarze Frau zu sehen.»
Heute viele Jahre später steht Odellia Fischer mit ihrem wachen Blick und den mittlerweile etwas milchig-glasigen Augen an ihrem Stand und hält – obwohl sonst immer in Bewegung – kurz inne, wenn es um ihren Mann geht. Man merkt ihr an, wie dankbar sie um die gemeinsame Zeit mit ihm gewesen ist. Ihr Mann hat Obst und Gemüse verkauft an Restaurants und in zwei eigenen Läden. Er war immer am Arbeiten. Ein Macher, genauso wie sie.

Der Tod ihres geliebten Partners vor fünf Jahren hat sie schwer getroffen. Aber sie hat weitergemacht. Bis heute. Und schon wieder steht eine Familie aus Schleitheim vor ihr, die zwei kleinen Jungs ganz zappelig, dass sie, endlich mal wieder in der Stadt, ihre erste grosse Marroni-Tüte in dieser Saison bekommen. Verflogen ist der kurze Moment der Trauer, die Marroni-Frau ist wieder ganz bei ihren Kunden.
«Sie liebt vor allem Kinder und ältere Menschen», sagt ihre Tochter, Patricia Fischer. Der Stand sei ihr Leben, deshalb stehe sie auch mit 70 Jahren die Wintermonate über an sieben Tagen die Woche zum Teil mehr als zehn Stunden auf den Beinen. Die Kenianerin, meist mit einem Tuch auf dem Kopf gemäss ihrer Tradition, ist warm angezogen. Sie trägt Schuhe wie Strassenarbeiter, mit einer starken Gummisohle, die Kälte von unten nicht durchlässt. Unter ihrem AC/DC-Pullover trägt sie mehrere warme Schichten, die dunkelblaue Hose ist fein säuberlich mit helleren Jeansflicken repariert. Sie wendet die Grillkohle, holt noch ungeröstete Marroni aus einem Sack in ein Körbchen und schüttet dessen Inhalt auf ein Sieb von einem der beiden schwarzen kleinen Röstöfen.
Der Kälte trotzen: mit ihrem Lieblingspulli von AC/DC
Dann schürt sie die Glut und bedient die nächsten Kunden. Ja, das Alter spüre sie mittlerweile, gibt sie offen zu. Sie müsse darauf achten, dass ihre Nieren nicht zu kalt werden, dann lacht sie herzlich und zeigt auf ihre Knie: «Die sind auch schon neu.» Mittlerweile habe sie ja neben ihrer Tochter noch eine tolle Aushilfe, Claudia Raitze heisst sie. Ein wunderbarer Mensch, betont Odellia Fischer, um dann noch schnell hinzuzufügen, dass sie es auch super mit den Kunden kann.

Ganze Generationen hat Odellia Fischer vor ihrem grünen Marktstand bedient. Sie kamen als kleine Kinder zu ihr, sind gross geworden und kommen jetzt mit ihren eigenen Kindern vorbei. Selbst Touristen aus aller Herren Länder kommen bei einem Besuch in Schaffhausen immer wieder am Stand vorbei, «und dann freuen die sich so sehr, dass ich immer noch da bin, und ich sage, ja klar».
Dass die Frau aus Kenia sich für den Verkauf von Marroni entschied, war wie ihr Weg nach Schaffhausen auch reiner Zufall: Ein Italiener, der damals auf dem Fronwagplatz Marroni verkaufte, hörte auf. Ein Mitarbeiter von Odellias Fischers Mann übernahm seinen Stand, wollte dann aber an den Bahnhof umziehen, und so sahen die Fischers ihre Chance, den Stand am zentralen Stadtplatz zu übernehmen. Nach dem arbeitsintensiven Winter ruht sich die Marroni-Frau in den Sommermonaten aufgrund ihres hohen Alters mittlerweile aus, früher half sie ihrem Mann beim Obst- und Gemüseverkauf.
«Hier gibt es die besten Marroni von Schaffhausen; nein, eigentlich sind es bestimmt die besten der Schweiz.»
In Kenia wird Essen auf der Strasse zubereitet, meist gegrillt oder geröstet und von der Hand in den Mund verzehrt. Streetfood würde man heute dazu sagen. «In Kenia haben wir viel Mais und Maniokwurzeln, kennen Sie die?», fragt Odellia Fischer die SN-Redaktorin. Wie Maniokwurzeln seien auch Esskastanien sehr gesund.
Begeistert von der Streetfood-Tradition in Kenia
Überhaupt geht es Odellia Fischer auch viel darum, darauf hinzuweisen, wie wichtig gute, vitaminreiche Lebensmittel sind. Neben einem Plakat über die gesundheitlichen Vorzüge von Esskastanien hängt eine weitere kleine Infotafel zur Ananas und ihren gesunden Stoffen am Stand aus. Die Marroni-Frau freut es, dass Kinder Esskastanien so lieben, «das ist viel besser als das ganze süsse Zeug».
Die Kastanien bezieht sie schon immer aus Italien, «das sind die besten», sagt Odellia Fischer. Sie hätten einen intensiven Geschmack, die richtige Grösse und einfach eine gute Qualität. Ab und an habe sie auch mal Kastanien aus anderen Ländern eingekauft, das sei aber nicht so gut gewesen. In den 70er-Jahren verkaufte Odellia Fischer 100 Gramm noch für 1,60 Franken, heute kostet das kleine Tütchen 4 Franken. Und was ist nun das Geheimnis, dass ihre Marroni so besonders gut schmecken? Odellia Fischer muss nicht lange überlegen, die Antwort fällt kurz aus: «Viel Liebe.»

Die Art und Weise, wie sie mit ihren langen Fingern und schmalen Händen behutsam, aber doch kräftig ihre Waren anfasst, wie sie nicht einmal das Gesicht verzieht, obwohl die heissen Kastanien besonders zum Saisonanfang noch leicht die Fingerkuppen verbrennen, zeigt, wie sehr sie in dieser Arbeit aufgeht. Sie ist nie hektisch, alle Bewegungen sind routiniert, sorgfältig und sanft.
Winter, Schnee und Weihnachten liebt sie besonders
Man könnte ihr stundenlang zusehen, immer den Duft der heissen Marroni in der Nase. Doch irgendwann geht auch der lange Arbeitstag von Odellia Fischer zu Ende.
Auf die Frage, woher sie die Kraft für die Arbeit nimmt, sagt sie mit einem schüchternen Lächeln, dass ihr christlicher Glaube ihr helfe. Die Kraft komme direkt aus dem Himmel. Und der Winter mit seiner Kälte mache ihr nichts aus, im Gegenteil, sie liebt es: «Schnee, Weihnachten und diese besondere Stimmung mag ich sehr gerne, für mich bedeutet es Frieden.»