«Die Noten waren nie ein Problem»

Jurga Wüger | 
Lesenswert
Noch keine Kommentare
Sandra Holzgang, Simon Burr, Louis und Zora Holzgang (v. l.) sind sich einig: Der Wechsel von der Volksschule in die Standranschule war richtig für sie. Bild: Melanie Duchene

Wenn Kinder in einer Volksschule sich nicht wohlfühlen oder mit dem Stoff nicht mithalten können, gibt es Alternativen. Louis (14) und Zora (12) Holzgang erzählen, warum sie die Schule in der 5. Klasse gewechselt haben.

Manche Kinder haben in der Schule Mühe, mit dem Stoff mitzuhalten. Andere wiederum langweilen sich. Die Herausforderungen für die Lehrpersonen sind gross. Das hat auch das Erziehungsdepartement erkannt. Derzeit verfolgt es Projekte wie Begabtenförderung, integrative Schulformen sowie «Vision zur Schule der Zukunft». Alternativen zum herkömmlichen Unterricht an der Volksschule gibt es schon heute. Allerdings finden sie sich vorwiegend im Privatschulbereich. Sandra Holzgang und Simon Burr haben für ihre beiden Kinder eine solche Alternative gesucht und sind in Schaffhausen fündig geworden. Die SN haben die Familie besucht und nach ihren Erfahrungen gefragt.

Louis (14) und Zora (12) Holzgang schauen das Reporterteam kritisch an. Kurze Zeit später ist das Eis gebrochen. Doch Zora langweilt sich. Es dauert ihr viel zu lange, bis sie drankommt. Kurzerhand holt sie ihre Zauberwürfel und löst mit ihnen eine Aufgabe nach der anderen, in einem Tempo, bei dem es einem bereits beim Zuschauen schwindlig wird. Louis wirkt konzentriert und wartet auf die Fragen. Er besucht derzeit die Kantonsschule, hat in der 5. Klasse in die private Stadtrandschule gewechselt und war dort vier Jahre. Seine Schwester hat ebenfalls in der 5. Klasse die Schule gewechselt.

Leidensdruck war zu gross

Auf die Antworten nach dem Warum muss man nicht lange warten. Der Leidensdruck sei zu gross gewesen, sagt Sandra Holzgang. «Louis fiel bereits als Knirps vor allem durch seine Offenheit und sein brennendes Interesse für so gut wie alles auf. Seine Erwartungen an den Kindergarten waren gross, die Enttäuschung ebenso.» Es folgten allmorgendliche Tränen und Widerstand bis zur totalen Erschöpfung nach dem Kindergarten. Dann sei vor dem Schulstart die grosse Freude erneut aufgeblüht. Aber: dasselbe in Grün. Mit der Zeit raubte ihm der Schulalltag, so Sandra Holzgang, so viel Kraft, dass er nach der Schule keine Energie mehr hatte. «Uns ging es immer darum, dieses an Louis besondere Interessensflämmlein am Leben zu erhalten, und nicht darum, irgendwelches Potenzial auszuschöpfen», so die Mutter. Die Stadtrandschule habe Louis fachlich und sozial bestens auf die Kantonsschule vorbereitet. Er habe nach wie vor grosses Interesse und Lust auf alles. Louis nickt und wählt seine Worte mit Bedacht. «Ich war oft schneller mit den Aufgaben fertig als meine Klassenkameradinnen und -kameraden. Irgendwann habe ich das Warten und die Enge nicht mehr ertragen.»

«Dank der Zeit an der Stadtrandschule kann ich jetzt in der Kantonsschule zurück in das ­reguläre ­Schulsystem.»

Louis Holzgang, Kantischüler

Dieses emotionale Dilemma zeigte sich darin, dass Louis unruhig wurde und irgendwann den Unterricht massiv gestört habe, so Sandra Holzgang. Seine Begabung ist bereits an der Volksschule nicht unbemerkt geblieben. Er konnte von der 1. Klasse direkt in die 3. Klasse wechseln, und sein Stundenplan wurde mit Zusatzaufgaben ergänzt. Mit dem Resultat, dass er noch mehr Zeit in die Schule investieren musste und noch weniger Zeit hatte für das, was ihn wirklich interessierte.

Gleichberechtigung war massgebend

Irgendwann ging es nicht mehr so weiter. Der Vater Simon Burr sagt: «Ich war lange gegen diesen Wechsel und vertrat die Meinung, dass jedes Kind in die Volksschule gehört. Doch die angebotene Lösung hat Louis in einer Ecke des Schulzimmers isoliert, nicht integriert.» Rückblickend ist für Louis Holzgang klar: «Dank der Zeit an der Stadtrandschule kann ich jetzt in der Kantonsschule zurück in das reguläre Schulsystem.» Was er später studieren möchte, steht noch nicht fest. Sicher ist, dass er sich weiterhin der Musik widmen wird. Das Cello begleitet ihn seit dem siebten Lebensjahr.

Damit beide Kinder die gleichen Voraussetzungen haben – «es war eine Sache der Gleichberechtigung», wie die Eltern sagen –, durfte auch Zora in der Stadtrandschule schnuppern, war sich aber beim ersten Mal nicht sicher, ob sie wirklich dorthin wechseln möchte. Damals habe sie zwar eine «mühsame Klasse» gehabt, hatte aber doch viele ihrer Kolleginnen und Kollegen sehr gern. Ein Jahr später bat sie darum, für eine ganze Woche in der Stadtrandschule schnuppern zu dürfen. Nach einer Bedenkzeit stand auch für sie fest, dass sie die Volksschule verlässt. Nach den Gründen gefragt, muss auch sie nicht lange überlegen. In der Klasse herrschte damals grosse Unruhe. «Ich hatte immer das Gefühl, für Ruhe sorgen zu müssen, und konnte mich nicht gut konzentrieren», sagt sie. Obwohl bei Zora der Wechsel in die Stadtrandschule nicht wirklich nötig war, sei auch Zora auf einen Schlag ein anderes, glücklicheres Kind geworden. Diese Veränderung habe sich im gewachsenen Interesse an Neuem bemerkbar gemacht, so die Eltern. Auch über die Wertschätzung seitens Lehrerschaft sowie über das Eingehen auf die Talente, wie ihre Künste am Zauberwürfel, spricht Zora, und ihre Augen beginnen zu leuchten. Sie konnte Kurse geben und andere an ihrem Können teilhaben lassen. «Das war eine neue und tolle Erfahrung», sagt sie. Musik ist auch für sie eine wichtige Ressource. Seit ihrem sechsten Lebensjahr spielt Zora Holzgang Geige.

Für das Musikerpaar Simon Burr und Sandra Holzgang liegt das Geheimnis des Erfolgs auf der Hand: «In der Stadtrandschule müssen nicht alle dasselbe machen. Für manche Angebote gibt es Bedingungen. Man muss aber nicht besonders gut sein, man muss wollen.» Dadurch ergeben sich sehr motivierte Gruppen, die dann wiederum andere Kinder anstecken, und dieser Sog gibt der Lehrerschaft dort ganz andere Möglichkeiten, auf das, was die Kinder mitbringen, einzugehen, so Sandra Holzgang.

Zudem gehe es in der Stadtrandschule um Bildung und nicht um Schulstoffvermittlung. Als Louis diesen Satz hört, beginnen auch seine Augen zu leuchten: «Ich hätte den Stoff wohl auch in drei Jahren geschafft, aber es war mir erlaubt, mehr freizuhaben. Dafür musste ich ein Semester lang dienstags zu Hause kochen.»

Louis wie seine Schwester Zora wurden zu Hause nicht gezielt gefördert. «Die beiden Kinder konnten schon immer das machen, was sie interessierte», sagt der Vater. Als der Wechsel in die Stadtrandschule ­erfolgte, kehrte bei der Familie Holzgang Frieden ein. «Louis und Zora waren wie ausgewechselt», so Sandra Holzgang, die auch sagt: «Die Noten waren bei beiden Kindern nie ein Problem.»

Stadtrandschule: Hier bleibt niemand sitzen

Die Schaffhauser Stadtrandschule wurde vor zwölf Jahren vom Lehrer und Pädagogen Thomas Schwarz ins Leben gerufen. Gelehrt wird hier, genauso wie in den Volksschulen, nach dem aktuell geltenden Lehrplan 21. Die Tagesschule bietet derzeit Lebens- und Lernraum für 80 Kinder und Jugendliche vom ersten bis zum neunten Schuljahr und definiert sich als eine «inklusive Privatschule». Thomas Schwarz unterrichtete viele Jahre in Neuhausen. Dem Lehrer fiel immer wieder auf, dass in Schaffhausen eine Schule fehlt, die Kinder, die in der Volksschule Mühe haben, sei es wegen einer Beeinträchtigung, einer Krankheit oder einer Hochbegabung, auffangen kann.

Der Pädagoge Thomas Schwarz hat die Schule vor zwölf Jahren gegründet. Bild: zVg

«Bei uns wird die Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler als Chance für das Lernen und die Entwicklung gesehen», sagt Schwarz. Das Konzept ist einfach. Kinder lernen in altersdurchmischten Gruppen voneinander und miteinander. Werte wie Toleranz und Rücksichtnahme seien handlungsleitend im pädagogischen Tun, so Schwarz. Zudem werde die Heterogenität als Potenzial für den Unterricht genutzt. Konkret heisst das: Die Schülerinnen und Schüler dürfen nach dem eigenen Rhythmus lernen. Wer schneller mit dem Stoff fertig ist, kann sich anderen Dingen widmen. Im Klassenzimmer werden drei Lernmodelle angeboten. Nebst Gruppenlernen ist das selbstständige Lernen nach Wochenplan zentral. Aber auch Tandems, gebildet aus schwächeren und stärkeren Kindern, basierend auf Freiwilligkeit, sind möglich. Das Lehrpersonal stellt gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern individuelle Wochenpläne zusammen. «Noten gibt es auch bei uns», so Schwarz. Nur hätten diese einen anderen Stellenwert als in der Volksschule. Auch bleibt in der Stadtrandschule niemand sitzen. «Der Lehrplan 21 wird bezüglich Lerntempo und Fähigkeiten den Bedürfnissen entsprechend flexibel gehandhabt.» Kinder und Jugendliche werden angeregt, aktiv auf Aspekte ihrer Bildung, Erziehung und Entwicklung Einfluss zu nehmen.

Gratis ist die Privatschule allerdings nicht. Die Kosten werden nach dem Einkommen der Eltern berechnet und belaufen sich auf zwischen 350 und 2000 Franken pro Monat. Eine direkte Zusammenarbeit mit der Stadt oder dem Kanton Schaffhausen bestehe nicht, sagt Schwarz, aber man befinde sich in einem regen Austausch. Bei Kolleginnen und Kollegen stösst sein Konzept auf Interesse. So erhält er Besuch von Pädagogen aus der Deutschschweiz, die sein Konzept der Stadtrandschule näher kennenlernen möchten. (jwü)

Ist dieser Artikel lesenswert?

Ja
Nein

Kommentare (0)

Neuen Kommentar schreiben

Diese Funktion steht nur Abonnenten und registrierten Benutzern zur Verfügung.

Registrieren