«Bombs Away!» über Schaffhausen

Mark Liebenberg | 
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Schaffhausen – «Target of Opportunity»: Eine von drei in Matthias Wipfs neuem Buch erstmals publizierten Aufnahmen aus einem der am 1. April 1944 beteiligten B-24 «Liberator» während des Bombenabwurfs über Schaffhausen. Bild: zVg

Der Schaffhauser Historiker Matthias Wipf hat im Auftrag des Stadtrats ein aktuelles Buch über die Bombardierung Schaffhausens vor 75 Jahren geschrieben. Es enthält überraschende Funde.

Herr Wipf, es gibt ja nun schon einige Publikationen zur Bombardierung. Wieso ein neues Buch?

Matthias Wipf: Ich befasse mich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Zweiter Weltkrieg in den verschiedensten Facetten. Der 75. Jahrestag der Bombardierung bietet nun die ideale Gelegenheit, nochmals einen aktualisierten Überblick über den 1. April 1944 zu liefern, mit etlichen bisher noch unbekannten Fakten aus Archiven und privaten Nachlässen, die die bisherigen Forschungsergebnisse ergänzen und in einigen Punkten auch korrigieren. Der Zeitpunkt für dieses neue Buch ist auch deshalb ideal, weil heute noch einige Zeitzeugen leben, welche die Bombardierung persönlich miterlebt haben.

Zwei Funde, die Sie gemacht haben, sind ja geradezu spektakulär. Zum einen haben Sie den letzten noch lebenden Bomberpiloten ausfindig gemacht (siehe Kasten), zum anderem sind das Fotografien, welche die US-Bomberpiloten während des Angriffs aus der Luft gemacht haben …

Ja, das sind Bilder, die bisher noch nie publiziert wurden: Aus einem der US-Bomber wurden damals nämlich Aufnahmen von der Bombardierung Schaffhausens gemacht, beschriftet mit «City Before», «Bombs Away!» und «City After». Darauf sieht man die effektiv fallenden Bomben und die danach abdrehenden Flugzeuge! Diese Luftaufnahmen wurden dann unmittelbar nach der Rückkehr auf die Luftwaffenbasen in Ostengland ausgewertet – und bestätigten die sofort eingetroffenen Proteste der Schweizer Behörden, dass effektiv Schaffhausen bombardiert worden war.

Was geht in einem Historiker vor, wenn er so einen Fund macht?

Das sind zugegebenermassen schon Momente, in denen man einen kurzen «Juchzer» ausstösst, vor allem wenn man schon Jahre an einem Thema dran ist.

Und was ist nun am 1. April 1944 wirklich vorgefallen?

Das Ziel jener Mission waren die Industrieanlagen der IG Farben in Ludwigshafen, die kriegswichtige Güter produzierten und auch in den Folgemonaten immer wieder bombardiert wurden. Die Wetterverhältnisse waren an jenem Tag aber derart schlecht, dass ein Grossteil der fast 1000 Flugzeuge, die von ihren Luftwaffenbasen in Ostengland gestartet waren, schon bald wieder umkehrten. Nur ein Teil der 2. Luftwaffen-Division versuchte weiterhin, das «gebriefte» Ziel zu erreichen – geriet aber durch die äusserst schwierigen Wetterverhältnisse, damit verbundene Navigationsschwierigkeiten und auch durch «sehr ernstes persönliches Versagen», wie es in späteren Untersuchungsberichten heisst, weit südlich vom Kurs ab.

Und wieso bombardierten sie schliesslich ausgerechnet Schaffhausen?

Insgesamt 47 der B-24 Liberators gerieten so weit südlich, dass sie über der Ostschweiz quasi eine Zusatzschlaufe flogen. Logbücher und Rechenschaftsberichte, die ich in den Archiven gefunden habe, machen deutlich, dass die Bombercrews keine Ahnung mehr hatten, wo sie sich befanden. Als dann über Schaffhausen erstmals ein Loch in der Bewölkung auszumachen war, entschied man schliesslich, diese vermeintlich deutsche Stadt «auf Sicht» zu bombardieren. Die erste Staffel öffnete ihre Bombenklappen aber – zum Glück – zu früh und traf den Kohlfirstwald. 15 Flieger der 44. Bombergruppe warfen hingegen einen Teil ihrer Ladung – es wurden 378 Spreng- und Brandbomben gezählt – direkt über dem Stadtzentrum von Schaffhausen ab. Immerhin bemerkte eine weitere Fliegerstaffel den Irrtum gerade noch rechtzeitig: Ihr Lead Navigator besass offenbar als Einziger eine geeignete Landkarte, mit der er den Bodensee und die Voralpen lokalisieren konnte, und die Staffel flog deshalb – ohne dass sie die beiden andern rechtzeitig hätte warnen können – Richtung Deutschland weiter und bombardierte kurz nach der Grenze als «Gelegenheitsziel» Grafenhausen.

Schlechtes Wetter war also die Ursache für den Irrflug über dem Kontinent. Viele Augenzeugen von damals erinnern sich aber, dass in Schaffhausen die Sonne schien. Wie passt das zusammen?

In der Tat waren die Wetterbedingungen über dem Ärmelkanal und dem Kontinent damals miserabel. Über Schaffhausen aber gab es, wie erwähnt, ein Loch in den Wolken und es schien die Sonne. Tragischerweise, muss man im Nachhinein sagen! Denn dies erlaubte erst die Bombardierung «auf Sicht». Dass die Amerikaner in ihren Communiqués dann immer von schlechtem Wetter als Begründung für das Fehlbombardement sprachen, musste deshalb die Schaffhauser Bevölkerung zwangsweise befremden.

Manche fragen sich bis heute: Wo war eigentlich die Fliegerabwehr?

Diese war damals in der Grenzregion – gerade auch für Flugzeuge in 7000 Metern Höhe – quasi inexistent. Auch in all den Berichten der amerikanischen Bomberstaffeln steht unter dem Punkt gegnerische Fliegerabwehr lakonisch «keine». Ganz grundsätzlich fühlte man sich in der Grenzregion Schaffhausen während des Krieges oft ein bisschen als «verlorener ­Zipfel jenseits des Rheins», wie wir aus Briefen und späteren Lebenserinnerungen der Bevölkerung wissen.

George Insley, 96: Der letzte noch lebende Bomberpilot

In den B-24-«Liberator»-Bombern der US-Luftwaffe, die an jenem 1. April 1944 die Stadt Schaffhausen angriffen, sassen fast ausnahmslos sehr junge Piloten im Alter von etwa zwanzig Jahren, manche sogar noch jünger. Im Rahmen der Recherchen zu seinem Buch (siehe Haupttext) hat Matthias Wipf den letzten noch lebenden Piloten ausfindig gemacht, der damals im Einsatz war.

Beten für die Opfer des Angriffs

Das damalige Fehlbombardement beschäftige den letzten lebenden Bomberpiloten noch heute sehr, so Wipf: «Er sagte mir, er bete noch oft für die Angehörigen der damaligen Opfer.» Zwar hätten die Bomberbesatzungen an jenem 1. April gewusst, dass sie sich nicht über Ludwigshafen, dem eigentlichen Missionsziel, befanden. Als sie dann aber unter den Wolken «eine Stadt mit Industrieanlagen an einem Fluss» erkannten, so erzählte Insley dem Buchautor, hätten die Piloten fest geglaubt, es handle sich um ein sogenanntes «Gelegenheitsziel» in Süddeutschland. Der Schock sei riesig gewesen, als sie erst nach der Rückkehr auf ihre Luftwaffenbasis in Shipdham erfuhren, dass sie eine Schweizer Stadt getroffen hatten. «George Insley sagte mir, er könne sich bis heute nicht richtig erklären, wie man so weit vom Ziel habe abkommen können.» (lbb)

«Ich stand mit verschiedensten Privatforschern in den USA und in England sowie mit Veteranenorganisationen in Kontakt. Und plötzlich stellte sich über x Ecken heraus, dass mit George Insley, einem 96-jährigen Mann aus dem US-Bundesstaat Oregon, wirklich noch ein Pilot lebt.» Das musste der Historiker dann zuerst anhand der Quellen, also etwa der Crewlisten aus den Archiven, verifizieren. «Und wirklich: Insley war einer der Piloten der Staffel, die damals um 10.55 Uhr Schaffhausen bombardierte», so Wipf über seinen Fund. «Dass ich ihn dann noch persönlich über seine Erinnerungen befragen konnte, war natürlich ein absoluter Glücksfall.» Als Lead Pilot flog George Insley während der Kriegsjahre insgesamt 52 Einsätze, deutlich mehr als die meisten anderen. Auch nach dem Krieg war er noch jahrzehntelang als Berufspilot tätig. Er wohnt heute mit seiner Ehefrau, deren Familie – Ironie des Schicksals! – aus der Ostschweiz stammt, in seinem Elternhaus im Staate Oregon.

Die alte Frage «Absicht oder Irrtum?» lässt vielen Leuten keine Ruhe. Was ist der aktuelle Stand der Geschichtsforschung?

Die Faktenlage ist inzwischen völlig klar: Es gibt unter all den Hunderten von Akten, die ich in amerikanischen und englischen Archiven einsehen konnte, keine Einzige, die auch nur den leisesten Zweifel daran lässt, dass die Bombardierung vom 1. April 1944 ein tragischer Irrtum war. Trotzdem gibt es noch immer Leute, die angebliche Ungereimtheiten zum Anlass nehmen, um sich selber eine Theorie zu basteln – und ich werde auch jetzt wieder ‹böse› Briefe kriegen. (lacht) Aber stellen Sie sich mal vor: Hätten die US-Bomber wirklich willentlich Schaffhausen angegriffen, so hätte man sämtliche Logbücher, Rechenschaftsberichte und alle Untersuchungsberichte fälschen müssen. Alle ­beteiligten Besatzungsmitglieder, Bodencrews sowie involvierte Politiker und Diplomaten hätten unisono dieselbe Lügengeschichte erzählen müssen – übrigens auch später noch, als einige von ihnen ihre Memoiren schrieben. Eine solche Verschwörung ist schlicht nicht möglich und ergibt auch keinen Sinn.

Was spricht im Übrigen gegen eine gezielte, willentliche Bombardierung?

Wieso hätten sich die USA, wenn sie ein Zeichen hätten setzen wollen, so schnell entschuldigt und Schadenersatz bezahlt? Das Fehlereingeständnis war ja ein ziemlicher Imageschaden für sie. Warum hätte ferner nur ein so kleiner Teil der ­ursprünglich fast 1000 gestarteten Flugzeuge Schaffhausen bombardiert? Und: Die Amerikaner hatten damals schon sehr genaue Pläne der Industrieanlagen, die sie treffen wollten – und hätten deshalb garantiert viel gezielter etwa die SIG, die damals fast auf der sogenannten «Black List» der Alliierten war, oder auch die Georg-Fischer-Werke getroffen, aber nicht eine Lederwaren-, Silberwaren- oder Velofabrik. Ausserdem wäre eine solche «Strafaktion» wohl bereits 1943 erfolgt, nicht erst im Frühling 1944. Nein, die Absichtstheorie entbehrt jeglicher Grundlage und ist voller Widersprüche. Unmittelbar nach dem 1. April 1944 wurde sie übrigens auch nur von der Nazi-Propaganda vertreten.

Wie wichtig sind Zeitzeugenberichte für das vorliegende Buch?

Ich habe in all den Jahren, auch für frühere Arbeiten zum Zweiten Weltkrieg, rund 160 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragen können. Das waren immer sehr bereichernde Begegnungen! Jeder, der damals in Schaffhausen war, erzählt natürlich, wo er gerade war und was er gerade tat, als die Bomben fielen. Das sind wertvolle Zeugnisse, jeder hat seine ganz persönliche Geschichte, die sollte man niemandem nehmen. Man muss sich aber auch bewusst sein – und das merkt ja jeder von uns bei sich selbst –, dass die Erinnerung auch trügen oder sich mit später Gehörtem vermischen kann. Deshalb muss ich als Historiker alles bestmöglich verifizieren.

Das Ereignis beschäftigt offenbar auch ein Dreivierteljahrhundert später die Gemüter. Wie erklären Sie sich das?

Das ist wirklich so. Ich denke, im Ereignis und der Aufarbeitung kristallisiert sich ein wachsendes ­Interesse für Lokalgeschichte. Ich bekomme regelmässig auch Anfragen von Maturanden, die zur Bombardierung eine Arbeit schreiben wollen. Weltgeschichte im Grossen ist aus Büchern, Filmen und aus ­History-Sendungen hinlänglich bekannt. Aber die lokalen Aspekte ­davon sind eben unmittelbarer, ­Geschichte zum Anfassen vor der Haustüre sozusagen.

Herr Wipf, danke für das Gespräch.

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