Experten kritisieren politische Eliten: «Europa ist inkontinent wie ein kleines Kind»

Schlechte Nachrichten am UBS-Wirtschaftsforum: Die liberale Weltordnung bröckelt, der Westen droht seine Vormachtstellung zu verlieren – und dennoch geht es uns wirtschaftlich gesehen grossartig. Wie passt das zusammen? Zwei Experten wagen eine Einordnung.
«Die Welt ist düster, und wir müssen das ehrlich anerkennen», «Ich werde Ihnen heute nur schlechte Nachrichten bringen», «Wir sitzen auf einem Pulverfass – und die Lunten brennen»: Das sind keine Zitate aus der amerikanischen Kommandozentrale in einem Katastrophenfilm, sondern Worte, die der ehemalige Chef des Schweizer Nachrichtendienstes, Peter Regli, am Montagabend zur Begrüssung an die rund 220 Gäste richtete, die im Rahmen des Schaffhauser UBS-Wirtschaftsforums im Pavillon im Park Platz genommen hatten. Zusammen mit Staatswissenschaftler Christoph Frei und moderiert von UBS-Ökonomin Jackie Bauer diskutierte Regli über internationale Politik, die globale Ordnung, freien Handel und Krieg, kurz: über eine Welt im Umbruch.
Für Regli keineswegs ein positiver: «Die liberale, demokratische und regelbasierte Weltordnung ist gefährdet. China und Russland haben beschlossen, dass diese verändert werden muss mit Krieg, Falschmeldungen, Migration und Sabotage.» Alle im Saal betreffe das, denn ganz Europa und auch die Schweiz habe bis anhin von der Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg profitiert. «Nehmen Sie das bitte ernst.»

Frei ergänzte: Autokratien habe es schon immer gegeben, aber heutzutage würden mehr Staaten im geopolitischen Spiel mitmischen. «Nehmen Sie die Türkei als Beispiel: Bis vor Kurzem war sie handzahm, mittlerweile vertritt sie ihre eigenen Interessen – Recep Erdoğan macht, was er will.» Oder auch Kasachstan, das «Putin den Mittelfinger herzeigt», so der Staatswissenschaftler.
Frei: Zeitalter des europäischen Populismus
Die Welt ist also komplexer als früher, doch laut Frei habe sich noch etwas geändert: die fortschreitende Delegitimierung der UNO. «Wir können diese regelbasierte Ordnung nicht mehr vernünftig miteinander verhandeln», sagte Frei. Mit dieser finsteren Ausgangslage leitete Moderatorin Bauer das Gespräch auf aktuell brennende Themen, etwa den Ukraine-Konflikt. Das Land sei in einer schwierigen Situation, sagte Regli, denn «der Westen will nicht, dass Putin verliert» – aus Angst vor einer noch grösseren Eskalation. Dabei führe Russland bereits jetzt einen «hybriden Krieg» gegen Europa mit der Absicht, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schwächen. Würde Putin sein Ziel – die Zerstörung (nicht mehr die Besetzung) der Ukraine – erreichen, hätte das unter anderem auch für die europäische Wirtschaft grosse Folgen.
«Die politischen Eliten überlassen dieses wichtige Feld der Migration, das die Menschen so sehr bewegt, den Rechtsaussen-Parteien. Ihnen ist daher der Vorwurf zu machen, diese Probleme jahrelang ignoriert zu haben.»
Nicht zuletzt auch wegen einer grossen Anzahl von Kriegsvertriebenen, die dann nicht nach Osten, sondern nach Westen flüchten müssen – ein Thema, welches in vielen Ländern den rechten Parteien in die Karten spielt. «Was wir jetzt erleben, ist das Zeitalter des europäischen Populismus», prognostizierte Frei. «Diese Parteien streuen uns Glitzer in die Augen, wollen uns weismachen, wir könnten zurück in eine Zeit, die längst vergangen ist – diese Parteien können nun mehr und mehr ihre rhetorischen Worthülsen in die Entscheidungszentralen tragen.» Sie würden einfache Lösungen versprechen, so der Staatswissenschaftler, der gleich darauf Donald Trump, welcher genauso vorgehe, als «Voodoo-Tänzer» bezeichnete. «Die politischen Eliten überlassen dieses wichtige Feld der Migration, das die Menschen so sehr bewegt, den Rechtsaussen-Parteien. Ihnen ist daher der Vorwurf zu machen, diese Probleme jahrelang ignoriert zu haben», so Freis Verdikt.
Schweiz bleibt von Kritik nicht verschont
Für Europa bedeute das, dass man unter seinen Möglichkeiten bleibe. «Der Kontinent hätte alles, um ein geopolitisches Schwergewicht zu sein», fuhr er fort, aber es fehle der politische Wille, über den Binnenmarkt hinaus politisch aktiv zu werden. «Wir bringen es nicht mal fertig, sicherheitspolitisch mündig zu werden – Europa ist dahin gehend inkontinent wie ein kleines Kind.» Mit dieser Kritik schloss Frei explizit auch die Schweiz mit ein. «Wirklich gefährlich am europäischen Populismus ist der Protektionismus, der Schutz durch Sicherheit verspricht. Wir können uns in Europa aber nur halten, wenn der Freihandel weiterhin existiert.»

Die kommende Präsidentschaftswahl in den USA sowie China als Vakuumfüller der Grossmächte bildeten weitere Schwerpunkte, die auf der Bühne angeregt debattiert wurden. Trotz der Kritik stellten die Experten fest, dass Europa als Ganzes keine verblassende Idee, sondern Realität ist, die auch die Schweiz wirtschaftlich weit gebracht hat. Sie waren sich einig: Wir hätten grosses Interesse daran, dass dieses Projekt nicht scheitern soll. «Wer das Gefühl hat, nationalstaatlich kämen wir weiter, der erliegt einer Illusion. Wir sind viel zu stark vernetzt und daher zu einer Integration verdammt», schloss Frei.